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Der Wind umtoste Styrax, während er seine Armee zur Runden Stadt führte. Vor ihm hob sich Ismess, das südliche Viertel, von der braun-grauen Winterlandschaft ab. Ein schmutzigerweißer Halbkreis alter Gebäude war alles, was von der uralten Stadt der Litse übrig geblieben war. Dieser wurde von schmutzigen Elendsvierteln umgeben, die sich an den Schwarzzahn schmiegten. In der Stadtmitte sah er das einzige beeindruckende Überbleibsel: Die gewaltige Treppe, die zur Bibliothek der Jahreszeiten führte.

Sein Sohn und sein General gesellten sich zu Lord Styrax. Während sie die Stadt betrachteten, zupften die Menin-Streitrösser am spärlichen Wintergras. Die Tiere waren auf Größe hin gezüchtet worden, um das Gewicht von Weißaugen-Soldaten tragen zu können. Nach Wochen des Marschierens trennten sie nur noch einige Meilen windumtostes Weideland und ein Flussbogen, der dem Berg entsprang, von Ismess.

»Der Tag ist wie geschaffen für eine Schlacht«, sagte Kohrad. »Wir haben den Wind im Rücken, der Boden ist trocken und fest.«

Lord Styrax nickte. »Ein guter Tag«, stimmte er zu. »Der Anblick ist eine echte Schande, allerdings hat Ismess seinen Abstieg bereits in den Tagen von Deverk Grast begonnen.«

»Viel weiter kann man auch in tausend Jahren nicht sinken«, fügte General Gaur von seinem angestammten Platz zur Rechten des Lords hinzu.

Der Menin-Lord bejahte dies. Ismess war ein Drecksloch. Es wäre zum Besten des Landes, wenn er einfach hineinreiten, es weitgehend niederbrennen und dabei die unfähigen Herrscher umbringen würde. Die letzte Bastion der Litse war durch Religion und die Herrschaft von Idioten heruntergewirtschaftet und zu einem Gefängnis für die wenigen verbleibenden Anhänger Ilits geworden.

»Erinnerst du dich an die Berichte?«, fragte Styrax seinen viehischen General.

Gaur zuckte mit dem kantigen Schädel. »Über die Eroberung Ismess’? Ha! Da habe ich gelernt, niemandem zu vertrauen, der ein Fachkundiger sein will.«

Styrax lächelte, was kleine Falten um seine Augen erscheinen ließ. Im Gegensatz zu den meisten Menin-Weißaugen war er ein gebildeter Mann. Anders als die wilden Locken, die von den meisten im Weißaugen-Regiment, das man die Plünderer nannte, zur Schau getragen wurden, war sein Haar kurz geschnitten. Das Gesicht war glatt rasiert und makellos. Er hatte während seines Dienstes im Regiment die traditionellen Narben gemieden, die sich die meisten Plünderer zufügten, und sein Bart war stets sauber geflochten gewesen. Aus diesen Unterschieden waren unzählige Kämpfe erwachsen, und er hatte acht von ihnen umbringen müssen, bevor sie seine Herrschaft anerkannten.

»Nur die Abneigung gegen Gemetzel und ihre Frömmigkeit hindert die anderen Viertel daran, Ismess zu erobern«, zitierte er. »Der vorgeschobene Grund, dass das Gleichgewicht der Mächte erhalten bleiben soll, hat keinen Bestand, denn die Vorteile für die anderen Viertel würden binnen weniger Jahreszeiten offenbar.«

»Alles in allem«, fuhr Gaur fort, »wird diese Tat nur durch die Erkenntnis verhindert, wie armselig sie mit anzusehen wäre und dass die Herrscher dies als unter ihrer Würde erachten.«

»Unter ihrer Würde?«, wiederholte Kohrad. »Es ist zwar eine gute Idee, aber sie würden sich deswegen schämen

»Ganz genau«, sagte Styrax. »Deverk Grast war nicht der Erste, der die Probleme der Litse erkannte. Er war nur der Erste, der sie durch Völkermord zu beheben half. Manchmal wird eine helfende Hand ungern angenommen.«

»Mein Lord«, rief Oberst Bernstein hinter ihnen. Er lenkte sein Pferd näher heran, damit er nicht schreien musste. »Lord Styrax, ein Bote von Herzog Vrill ist eingetroffen. Das Heer ist bereit.«

»Danke. Verständigt die Arihat-Regimente und Lord Larim.«

»Ja, mein Lord«, antwortete Bernstein, stellte sich in die Steigbügel und winkte den drei Soldatenreihen hinter sich zu. In der Mitte ritt eine bunt gekleidete Gestalt, die nur der Erwählte Larats sein konnte. Die Soldaten liefen los, an ihren Generälen vorbei. Die Offiziere gingen voran, ebenfalls zu Fuß, aber sie trugen keine Bündel oder Speere bei sich.

Die dritte Armee war von Tor Salan gemächlich hierhergezogen. Styrax hatte die Hälfte der Männer mitgenommen, war von Stadt zu Stadt marschiert, um Kapitulationen entgegenzunehmen und wo nötig Garnisonen zu errichten. Die zweite Armee und der Hauptteil der verbündeten Chetse waren in Tor Salan geblieben, wo sie die beschlagnahmten Reichtümer der erschlagenen Magier genossen. Die wenigen Chetse, die nach Norden gezogen waren, hatten sich der schweren Infanterie der dritten Armee angeschlossen.

Sobald sich ihm die Runde Stadt ergeben hatte, würde er den Rest der Zehntausend herrufen und auf Embere loslassen. Wenn sie unter seiner Standarte weitere Städte eroberten, würden sie sich ihr verbunden fühlen. Hatten sie erst einmal gesehen, wie Freunde in Styrax’ Namen ihr Leben gaben, so würden sie ohne guten Grund keinen Aufstand wagen, und er hatte nicht vor, ihnen einen Anlass zu bieten.

Die Vorhut der Menin überwand die Entfernung zur Stadt rasch und wurde kaum langsamer, als sie auf die Abgesandte trafen, die Lord Celao ihnen entgegenschickte. Es war eine junge Frau mit blasser Haut und so hellem Haar, dass es beinahe weiß erschien, die einen Grauschimmel ritt. Sie wirkte von den Menin-Soldaten hinreichend eingeschüchtert. Auf ihrem Wams trug sie das Zeichen des Lords der Lüfte, dieselben schneeweißen Flügel, die Litse-Weißaugen erkennbar von denen anderer Stämme unterschieden.

Kohrad machte ihr Platz, damit sie neben Styrax reiten konnte, aber es dauerte mehrere Minuten, bis sie einen zusammenhängenden Satz zustande brachte, obwohl sie den Menin-Dialekt gut beherrschte. Nachdem sie Lord Celaos formelle Grüße überbracht hatte, unterbrach Lord Styrax sie: »Ich danke Eurem Lord für seine Begrüßung. Bitte überbringt ihm meine besten Wünsche und teilt ihm mit, dass ich die Bibliothek der Jahreszeiten besuchen werde. Ich glaube, es ist Tradition, niemandem den Weg in die Bibliothek zu verwehren. Ich erwarte, dass dieses Zeichen des Respekts auch mir erwiesen wird, trotz der Verbrechen, die einige Mitglieder unserer Stämme in der Vergangenheit verübten.«

Die Frau verstand offenbar die volle Bedeutung von Lord Styrax’ Worten. Er setzte sich damit vom Schreckgespenst Deverk Grasts ab, das über jedem Gespräch zwischen Litse und Menin schwebte, sprach aber dennoch eine unverschleierte Drohung aus.

»Ja, Euer Ehren«, brachte sie gurgelnd hervor. »Lord Celao möchte Euch anbieten, heute Abend sein Gast zu sein. Es wäre für die Stadt beruhigend, wenn Ihr unsere Gastfreundschaft annehmt, denn es zeigt den Leuten, dass Eure Armee keine Gefahr darstellt.«

»Ich bin sicher, dass sie das gerne sehen würden«, sagte Styrax bestimmt. »Aber dazu wird es nicht kommen. Ich würde Lord Celaos Gastfreundschaft nicht genießen können, denn der Unterschied zwischen seinen halb verhungerten Untertanen und diesem aufgedunsenen Warzenschwein würde mir den Appetit verderben.«

Die hellhäutige Frau schien jetzt noch bleicher zu werden.

»Außerdem«, fuhr Styrax fort, und seine Stimme wurde strenger, »ist es mir völlig gleich, ob sich Eure Bürger besser fühlen. Die drei Regimenter unter Lord Larims Befehl werden ihr Lager in den Liliengärten aufschlagen, am Fuß von Ilits Treppe. Meine Begleiter werden sich mit mir in die Berge begeben, mit Ausnahme von zweien, die Kardinal Sourl und Natai Escral, der Herzogin von Byora, Nachrichten überbringen werden.

»Ich habe natürlich auch für Lord Celao eine Nachricht. Er wird mich morgen Mittag in der Bibliothek aufsuchen, um die Kapitulation der Runden Stadt dort zu verhandeln.«

»Kapitulation?«, fragte die Frau, verschluckte sich an dem Wort und fiel beinahe hustend vom Pferd.

»Eure Hellseher und Späher haben Euch doch sicher berichtet, dass uns der Rest meines Heers folgt. Wenn er nicht erscheint, werde ich Ismess mit Gewalt einnehmen. Ich würde das ungern tun, aber wenn Lord Celao wirklich glaubt, er hätte eine Chance gegen mein Heer, soll er es ruhig ausprobieren.«

Das riesige Weißauge drehte sich im Sattel und sah sie nun direkt an. »Ich habe acht Elite-Legionen in der Nähe, die jeden Angriff auf meine Person abwehren werden. Sie sind allesamt gelangweilt und brennen darauf, endlich an einem Kampf teilzunehmen.«

Die junge Frau sank im Sattel zusammen und war sehr froh, als sie ihrem Pferd die Sporen geben und den Menin vorausreiten konnte.

»Ich denke, sie wird sich an diese Nachricht sehr gut erinnern«, sagte Styrax lachend. »Oberst Bernstein? Bote Karapin?«

»Ja, Herr«, antworteten sie zugleich. Bernstein musterte Karapin aus den Augenwinkeln und spürte einmal mehr seine Sympathie für diesen Mann. Er war ein humorloser Kerl von etwas mehr als vierzig Sommern, wovon er die Bronzearmschienen der Boten mindestens dreißig Sommer getragen hatte. Bernstein wusste nicht, ob es Karapin bewusst war, warum gerade er Kardinal Sourl die Nachricht überbringen sollte – und nicht ein Soldat von Bernsteins Statur. Leider war es bei den Geweihten üblich, Boten hinzurichten, die eine Drohung überbrachten. Da Sourl sich heutzutage eher auf seinen religiösen und nicht auf seinen militärischen Titel berief, war eine bedachte Reaktion vermutlich zu viel verlangt.

»Überbringt Akell und Byora die gleiche Nachricht. Ich sehe euch morgen.«

Die beiden salutierten und lösten sich von der kleinen Gruppe. Gemeinsam ritten sie schweigend nach Nordwesten, und das Klappern der Rüstungen blieb hinter ihnen zurück.

Bernstein konnte die Augen nur mit Mühe auf der Straße halten. Je näher sie kamen, umso stärker bestimmte der Berg den Horizont und desto schwerer wurde es, nicht anzuhalten und den gewaltigen Klotz anzustarren.

Es war offensichtlich, woher der Berg seinen Namen hatte. Schwarzzahn sah wie ein gewaltiger verfaulter, abgebrochener Zahn aus. Es war ein hässlicher Stumpf mit nur einem winzigen Gipfel, wenn man es überhaupt so nennen konnte, der hinter der Klippenwand aufragte, an die Ismess sich drängte. Der Rest des Berges bestand aus scharfkantigen Zacken, die so wenig Leben einen Platz boten, dass eine Wüste im Vergleich dazu geradezu übervölkert erschien.

Nur hinter Ismess bot sich ein anderer Anblick als schwarzer, toter Fels: eine einzelne schlanke Spitze, die man auf den ersten Blick für einen Turm von gewaltiger Größe halten konnte. Sie überragte das Tal, in dem sich die Bibliothek der Jahreszeiten befand. Bernstein wusste über die Bibliothek wenig, nur, dass sie angeblich eine Sammlung gelehrter Schriften enthielt, die im ganzen Land einzigartig war. Sie war zusammengetragen worden, als die Litse noch die vorherrschende Macht in dieser Gegend gewesen waren.

»Karapin?«, fragte Bernstein und erschreckte den Heeresboten damit. »Habt Ihr die Truppen Lord Larims gesehen? Warum hat er wohl Regimenter der zehnten Arohat mitgebracht?«

»Ich glaube nicht, dass es uns ansteht, Lord Styrax’ Befehle zu hinterfragen, Oberst«, antwortete Karapin ernst. Sein schwerer Akzent erinnerte an Lord Styrax. Sie stammten beide aus den äußeren Landstrichen, außerhalb des Feuerrings, der das Kernland der Menin umgab.

Im Geiste entschuldigte sich Bernstein bei Karapin. Der Mann war kein Dummkopf, vermutlich wusste er auch, dass dies ein Selbstmordkommando war, aber er hatte die Aufgabe mit Freude übernommen – oder was bei ihm als Freude durchging. Denn die Männer aus Lord Styrax’ Heimat zeigten eine Treue, die nicht einmal der hingebungsvolle Oberst Bernstein gänzlich nachvollziehen konnte.

»Ich wollte sie nicht infrage stellen«, sagte er versöhnlich. »Ich möchte nur verstehen, was sie von uns erwarten. Die Cheme-Legionen waren jahrelang seine Elite. Er hat uns stets seinen Schutz anvertraut. Ich habe nicht gehört, dass sich das geändert hätte.«

»Was wollt Ihr damit sagen, Oberst?« Karapin hielt den Blick auf die Gebäude gerichtet, die vor ihnen lagen. Sie hatten den Grenzstein, der den Übergang von Ismessland nach Byora markierte, vor einigen Minuten passiert. Jetzt sahen sie Bauernhäuser, die um eine viereckige Festung verteilt lagen. Bisher waren keine Soldaten in Sicht, aber sie wussten, dass sie bald gestellt werden würden.

»Ich will damit sagen, dass unser Lord nichts ohne Grund tut«, sprach Bernstein seine Gedanken aus. »Es muss einen Grund dafür geben, dass er sich nicht von seinem besten Regiment in die Stadt begleiten lässt.«

Bernstein sah Bewegung am Tor der Festung.

»Bei diesem Ausfl ug zur Bibliothek der Jahreszeiten erwartet er Schwierigkeiten. Die Männer der zehnten Arohat sind zwar passable Soldaten, aber nicht so gut, dass er bei ihrem Verlust schlecht schlafen würde.«

Wenn Karapin dazu etwas wusste, so beschloss er, es nicht auszusprechen, und Bernstein machte sich keineswegs die Mühe fortzufahren. Er überprüfte seine Waffen noch einmal, stellte sicher, dass sie schnell bereit wären, und richtete die schwarze Standarte mit Lord Styrax’ Wappen darauf. Dann hatte er nichts mehr zu tun, als zu reiten und zu warten, also fing er stattdessen an zu pfeifen.

Die Soldaten, die ihnen als Eskorte geschickt wurden, waren jung genug, um Rekruten zu sein. Sie ritten auf einer langen, sich windenden Straße, die ganz um Byora herumzuführen schien, das seinerseits zwischen zwei unpassierbaren Felszungen lag, die von tiefen Spalten zerfurcht wurden.

Als sie eine Brücke über einen kleinen Fluss passierten, teilte sich ihre Eskorte auf, und Bernstein schenkte Karapin noch ein letztes freundliches Nicken, dann ritt der Heeresbote auf eine weitere Brücke zu.

Die Verbleibenden wandten sich nach rechts und führten ihn eine von großen, frei stehenden Häusern gesäumte, viel genutzte Straße entlang auf die Stadt zu. Die Straße überwand den Anstieg bis zum Fuß der gezackten Schwarzzahnklippen, indem sie natürliche Stufen nutzte. Riesige Türme, die nur mithilfe von Magie erbaut worden sein konnten, ragten über ihm auf. Überall sonst wäre Bernstein von ihrer Größe beeindruckt gewesen, aber vor dem bedrohlichen Schwarzzahn, der selbst den höchsten Turm um das Doppelte überragte, verflüchtigte sich dieser Eindruck.

Die großen, frei stehenden Häuser, die die Bauernhäuser und Scheunen abgelöst hatten, machten nun ihrerseits eng stehenden Wohnhäusern Platz. Auf Bernstein wirkten sie, als duckten sie sich von dem Berg weg. Es dauerte eine Weile, bis ihm auffiel, woran das lag. Er drehte sich zu dem weiten Marschland um, das von dem Fluss gespeist wurde, der das Viertel durchschnitt und sich dann im Moor in Dutzende von Richtungen verlor. Er erinnerte sich daran, dass die Sturzbäche, die nach einem Sturm vom Berg herabrauschten, Byora am härtesten zusetzten.

Die Vorderseite der kleinen Häusergruppen zeigte immer stadtauswärts. An ihren Rückwänden war Erde aufgeschüttet und bei etwa der Hälfte wuchs auch Gras darauf.

Es war offensichtlich, dass die Stadt sorgsam gestaltet wurde, denn die Hauptstraßen dienten als lange Kanäle, in denen das Wasser schnell abfließen konnte. Doch hier draußen war kein Plan erkennbar. Die Armen waren auf sich selbst gestellt.

Er stieg wie seine Eskorte ab, um das Pferd durch ein großes Tor hindurch einen steilen Hügel hinaufzuführen. Ältere Soldaten in weinfarbener Uniform bewachten die Tore, und seine junge Eskorte verschwand eilig, nachdem man ihn an den Sergeanten am Tor übergeben hatte. Bernstein ging einfach weiter, ohne seine neue Begleitung zu beachten. Er würde sich darauf verlassen müssen, dass ihm sein brutales Äußeres und die Nähe seines Heeres Einschüchterungsversuche ersparten.

Zwei der Soldaten wurden mit ihm geschickt. Sie führten Bernstein, der wieder aufgesessen war, eine lange, leicht gebogene Straße hinauf, die direkt auf ein großes Tor in das Viertel Acht Türme zuführte, wie er auf Nachfrage von einem seiner Begleiter erfuhr. Er sah eine Einheit rot gekleideter Soldaten und einige zusammengewürfelte Gruppen offenbar ausgehobener Truppen in Braun und Weiß.

Seltsam, die Stadt wimmelt nur so von Soldaten, dachte Bernstein, dem an jeder größeren Kreuzung der Straße bewaffnete Trupps auffielen. Die Herzogin scheint wegen ihrer eigenen Bürger besorgter als wegen der herannahenden Armee.

Nicht nur die Soldaten behielten ihn im Auge. Aus jeder Gasse und jeder offenen Tür wurde er gemustert. Er bemerkte Misstrauen und Angst in den Augen. Aber die Stille, die ihm wie eine Blase durch die Stadt folgte, als hätte jemand einen Zauber auf ihn gewirkt, beunruhigte ihn noch mehr.

Kurz bevor er das Tor erreichte, erklang aus einer Gruppe von Passanten ein Ruf – alle Leute drehten sich um und machten dann einer Gestalt Platz. Bernstein wurde langsamer und sah den in Lumpen gekleideten Mann an, der auf ihn zukam. Einer der Soldaten trat in den Weg, und der Mann rief erneut etwas.

Bernstein war verblüfft, denn statt des örtlichen Dialekts hörte er aus dem Mund der Gestalt Worte auf Menin – und zudem rief der Mann seinen Namen.

»Oberst Bernstein«, wiederholte er und schlug seine Kapuze zurück, unter der schmutzigblondes Haar und das hoffnungsvolle Lächeln eines hungrigen Hundes zum Vorschein kamen.

»Nai?«, fragte Bernstein ungläubig. Der Soldat, der auf den abgerissenen Mann zuging, blieb unsicher stehen, aber Bernstein beachtete ihn gar nicht, sondern starrte Nai immer noch fassungslos an. Der Mann war der ehemalige Diener von Isherin Purn, einem verstorbenen Nekromanten, der im Dienste der Menin-Armee gestanden hatte.

Als Bernstein Nai das letzte Mal gesehen hatte, war er ausgerechnet mit König Emin und Zhia Vukotic unterwegs gewesen, um irgendein dummes Vorhaben durchzuführen. Bernstein war dem Massaker an den Flüchtlingen nach dem Fall von Scree nur knapp entgangen und hatte vermutet, dass keiner, der nicht unsterblich war oder eine eigene Armee dabeigehabt hatte, dies überhaupt hatte überleben können.

»Nai?«, wiederholte er, bevor ihm auffiel, dass er sich lächerlich machte. Er winkte den Mann zu sich.

»Es tut auch gut, Euch wiederzusehen, Oberst«, sagte Nai und kam näher. Wie bei ihrer ersten Begegnung war Nai auch jetzt barfuß. Es schien ganz so, als wäre er stolz auf seinen Klumpfuß und wolle ihn zur Schau stellen. Unter seinen schmutzigen Lumpen trug er einen dickeren, nicht so schmutzigen Ledermantel. Dann ist das Ganze nur eine Tarnung, aber vor wem versteckst du dich? Offenbar haben sich deine Freunde gegen dich gewandt.

»Das habe ich nicht gesagt«, blaffte Bernstein. »Verdammte Nekromanten. Ihr seid wie Schaben, die aus dem Gebälk gekrochen kommen.«

Nai wirkte nicht beleidigt. Er lächelte weiterhin, trat vor Bernstein hin und sah zu dem großen Soldaten auf. »Oberst, wenn Euer Lord in der Lage wäre, Schaben dazu abzurichten, für ihn zu spionieren, so wäre der Westen bereits erobert.«

»Ihr habt Neuigkeiten?«

»Einige.« Der Nekromant machte eine wegwerfende Geste. »Nicht viel. In letzter Zeit musste ich mich unauffällig verhalten, aber ich kann Lord Styrax dennoch nützlich sein, wenn er mich dafür schützt.«

»Versucht jemand, dich zu töten? Zhia? Diese Farlan-Schlampe?«

Nai grinste breiter und wirkte unbekümmert. »Und beide benutzen dafür nicht nur einen Hausschuh. In dieser Stadt ist Bemerkenswertes vorgefallen.«

»Pisse und Dämonen«, knurrte Bernstein. »In Anbetracht deiner Vergangenheit ist das kein gutes Zeichen.« Er seufzte und wies auf das Tor. »Gut, komm mit. Aber sieh zu, dass du windabwärts von mir bleibst«, fügte er hinzu und rümpfte die Nase.

 

Es war sehr einfach, zur Herzogin vorgelassen zu werden. Sie wurden am Tor des Rubinturmbereichs aufgehalten, und die Wachen überbrachten die Nachricht von Bernsteins Eintreffen. Binnen einer oder zwei Minuten kam ein hochgewachsener Sergeant herausgeschlendert und sah in ihre Richtung. Er musterte erst Bernstein und dann Nai eine Weile lang eingängig. Diesem war der Blick des Mannes so unangenehm, dass er das Gesicht verzog und zu Boden blickte. Bernstein bemerkte auch bei den anderen Wachen eine Veränderung. Mit einem Mal waren sie unruhig, sogar erfahrene Männer. Bernstein blinzelte und hatte plötzlich das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen.

Merkwürdig, dachte er, dabei sieht er mir gar nicht ähnlich. Vielleicht ist es etwas in der Art, wie er sich hält, oder weil er wie ein Veteran wirkt?

»Ich bin Sergeant Kayel«, sagte der Mann schließlich und bewegte die Finger, als wolle er sich auf einen Kampf vorbereiten. Die Armschienen aus fleckigem Stahl waren mit einem ZickZack-Muster aus Draht umwickelt und stellten das Einzige an ihm dar, was von der gewöhnlichen Uniform abwich. Bernstein konnte sich keinen Grund für den Draht vorstellen, aber vermutlich bedeutete er schon etwas – wenn man nur wusste, was. Vielleicht sollte er an ein vergangenes Regiment erinnern – Bernstein hatte so viele Bräuche gesehen, mit denen man der Verlorenen gemahnte.

Er vertrieb die neugierigen Gedanken und lehnte sich im Sattel vor. »Ist mir egal, wer Ihr seid«, sagte er ruhig. »Bringt mich einfach zur Herzogin. Ich bin in Staatsangelegenheiten unterwegs.«

Sie waren von ähnlichem Wuchs und Alter, beide vernarbte Veteranen, mit denen man sich besser nicht anlegte.

Aber es gibt mindestens einen Unterschied, versicherte Bernstein sich selbst, er ist ein Mann, der vor einem Kampf nicht zurückschrecken würde, und das habe ich mir im Laufe der Jahre abgewöhnt. Irgendetwas an dem Mann buhlte um Bernsteins Aufmerksamkeit, aber er konnte den Finger nicht darauflegen. Er war nicht von hier, schloss er, aber das konnte es nicht sein, was nicht stimmte …

Kenne ich ihn? Nein, an einen Mann von dieser Größe, der sich mit dem Selbstbewusstsein eines Königs bewegt, würde ich mich erinnern. Und doch ist da etwas … Ihr Götter, vielleicht liegt es einfach daran, dass er mir so ähnlich ist, und dass Männer wie ich nicht Sergeant bleiben.

»Wir werden beim nächsten Mal herausfinden, wer von uns am weitesten pinkeln kann«, antwortete Kayel mit einem selbstsicheren Lächeln und zeigte auf einen der Soldaten an Bernsteins Seite. »Er wird sich um Euer Pferd und Eure Waffen kümmern. Die Herzogin erwartet Euch.«

Damit drehte sich Sergeant Kayel um und ging auf den Haupteingang zu. Bernstein blieb noch einige Herzschläge lang verblüfft sitzen, dann stieg er dankbar aus dem Sattel. Er reichte dem Soldaten die Zügel und legte den Schwertgurt ab, wobei er Nai einen Blick zuwarf. Der Nekromant verstand und kam zu ihm.

»Warum habe ich das Gefühl, dass ich diesen Sergeanten schon einmal gesehen habe?«, fragte er leise.

»Habt Ihr unlängst in den Spiegel geschaut?«, antwortete Nai. »Für Männer, die sich überhaupt nicht ähnlich sehen, seid ihr euch jedenfalls sehr ähnlich.«

»Was in Ghennas Namen soll das denn heißen?«

»Ihr bewegt Euch auf die gleiche Weise. In Euren Augen liegt der gleiche Ausdruck, auch wenn Ihr ihn besser verbergt als er, und …« Nai verstummte und musterte Bernstein nachdenklich. Ohne Erklärung bewegte er die Hand vor Bernsteins Gesicht auf und ab und murmelte leise Worte.

»Sei vorsichtig, was für Zauberwerk du bei mir versuchst«, grollte Bernstein. Die Soldaten in der Nähe zuckten zusammen, denn auch wenn sie seine Worte nicht verstanden, erkannten sie den Tonfall doch.

»Ich wollte nur sehen, ob nicht jemand anders das bereits getan hat«, sagte Nai mit gefurchter Stirn. »Und ich denke, ich lag damit richtig … Obwohl ihr euch nur in Gestalt und einem gewissen großspurigen Auftreten ähnelt, hat er mich doch auf den ersten Blick immens an Euch erinnert. Ich muss diese These überprüfen, doch es gibt gewiss eine Verbindung zwischen euch beiden.«

»Wie kann das sein?«, fragte Bernstein überrascht.

»Ich habe keine Ahnung.« Nai zeigte auf Kayel, der am Haupteingang wartete. »Vermutlich findet Ihr die Antwort darauf dort.«

Als er die runde Audienzhalle betrat, warteten hier nur adlige Damen auf ihn. Zwei Wachen zu beiden Seiten der Tür behielten ihn im Auge und ein schneller Rundblick offenbarte Armbrustschützen auf einer Empore über der Tür, die Waffen im Anschlag. Es gab Diener, aber kein Mann von Rang war zu sehen. Das erinnerte ihn kurz an den Weißen Zirkel, obwohl die Schwesternschaft in Byora niemals hatte Fuß fassen können. Und nachdem der Weiße Zirkel nun als Fassade für die politischen Absichten der Yeetatchen-Stämme im Exil offenbart wurde, war die Herzogin vermutlich sehr froh, dass sie nicht in dieses Wespennest gestochen hatte.

Natai Escral, die Herzogin von Byora, war leicht zu erkennen. Sie saß auf einem Thron, ein Kind mit stechendem Blick drängte sich auf der Sitzfläche an sie, und neben ihr stand eine Dame in feinen Gewändern.

Ich dachte, sie hätte keine Kinder, und ihr Ratgeber sei ein Mann? Unsere Informationen scheinen veraltet, überlegte er.

Sergeant Kayel stellte sich links neben die Herzogin, auf die Seite, an der das Kind saß. Beide Frauen trugen schweren Goldschmuck und reich verzierte Kleider, das eine grün, das andere in dunklem Rosa. Seltsamerweise gewährte die ältere Herzogin einen deutlich tieferen Einblick in ihren Ausschnitt als ihre Beraterin, deren Kleid so hochgeschlossen war, dass ihr Kopf durch den Kragen in eine beständig hochnäsige Haltung gezwungen schien.

Im dunkleren hinteren Bereich des Raumes stand mit gefalteten Händen und gesenktem Blick eine Amme, die vermutlich eingreifen sollte, wenn das Kind unruhig wurde. Neben ihr befand sich ein Beamter, der unbeteiligt und gefasst zu wirken versuchte, aber wohl nur so aussah, als habe er Verstopfung. Bernsteins Blick glitt über die Amme, ohne dass er sie widererkannte. Doch Nai neben ihm schrie auf, als habe ihn etwas gestochen. Der Menin-Offizier warf ihm einen Blick zu, und der Nekromant verstand.

Die Blicke der Anwesenden brannten wie der heiße Südwind auf Bernsteins Gesicht, und so räusperte er sich nervös, denn mit einem Mal fühlte er sich unwohl. »Herzogin, ich überbringe eine Botschaft von Kastan Styrax, dem Erwählten des Karkarn und Lord der Menin«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung.

»Ihr seid ein ungewöhnlicher Bote«, gab die hochnäsige Beraterin zurück und lächelte Bernstein dabei unerklärlicherweise breit an. Die Frau schien so aufrichtig erfreut, ihn zu sehen, als wären sie alte Freunde.

»Und Ihr, meine Dame, seid?«

»Dame Kinna«, sagte sie und kratzte sich durch das Kleid hindurch am Hals. »Vorsitzende des Geschlossenen Rates.«

»Wie lautet Eure Nachricht?«, unterbrach die Herzogin leise und spielte dabei mit dem Haar des Kindes.

Bernstein zögerte mit der Antwort. Er hatte nicht viel Erfahrung mit Kindern, aber der stiere Blick dieses Jungen, der nicht blinzelte, machte ihn langsam nervös. Die Fassung der Herzogin verwunderte ihn nicht, doch sollten sich kleine Kinder nicht winden und zappeln, statt sich für Politik zu interessieren?

»Lord Styrax übersendet seine Grüße«, sagte Bernstein schließlich, »und lädt Euch für den morgigen Mittag ein, mit ihm in der Bibliothek der Jahreszeiten zu speisen und die Bedingungen zu besprechen.«

»Mittagessen?« Die Andeutung eines Lächelns erschien auf den Lippen der Herzogin. Dieser Ausdruck veränderte ihre Züge irgendwie und Bernstein erkannte, dass die Herzogin trotz ihres Alters keinen Deut ihrer fleischlichen Verlockungen eingebüßt hatte. Ihre wissende Verspieltheit erinnerte ihn sofort an Reitmeisterin Kirl. »Dann ist sich Euer Lord seiner Sache sehr sicher.«

Bernstein räusperte sich und versuchte nicht zu sehr zu starren. »Bei allem Respekt, Euer Gnaden, er ist sich seines Heeres äußerst sicher. Wir nahmen Tor Salan binnen eines Tages ein und die Verteidigung der Stadt war besser als die Eure. Die Runde Stadt ist zwar uneins und im Vergleich zu Tor Salan schwach, aber er möchte unnötiges Blutvergießen vermeiden.«

»Warum möchte er mit uns verhandeln?«, fragte die Dame Kinna. »Wenn er Tor Salan so leicht erobern konnte, weshalb sollte er dann zuerst mit uns sprechen? Wenn er seine Macht so leicht zeigen kann, hätte er das sicher schon getan, um dann seine Bedingungen zu diktieren.«

»Tor Salan hätte sich niemals ergeben – der Mosaikrat war zu sehr von den Verteidigungsmaßnahmen überzeugt. Ihr habt nichts Vergleichbares, auf das ihr zu stolz sein könntet.«

»Oder hat er sich übernommen und versucht nur Stärke vorzugeben?« , fragte die Herzogin.

Er senkte den Kopf, um diese Möglichkeit einzugestehen. »Lord Styrax hat keineswegs die Angewohnheit, Drohungen auszusprechen, die er nicht einlösen kann. Wenn einer der drei Herrscher nicht erscheint, wird er dessen Viertel als feindselig betrachten, aber mein Lord hofft, dass Ihr dem Treffen beiwohnt. Ihr verliert dadurch nichts.«

Die Herzogin lehnte sich neugierig vor. »Glaubt Euer Lord denn, dass wir ihm die Stadt so einfach übergeben?«

»Ich überbringe nur die Nachricht. Das Einzige, was ich Euch sagen kann, ist dies, dass Lord Styrax Euch als Herrscher behalten will, während Fortinn einem Verwalter unterstellt wird, den er bestimmt.«

Sie lehnte sich zurück und dachte lange nach, wobei sie beständig die Finger durch das Haar des Jungen gleiten ließ. Diese gedankenverlorene Berührung änderte am Starren des Jungen nichts, und mittlerweile war Bernstein kurz davor, sich zu winden.

»Nun gut, sagt Eurem Lord, dass ich da sein werde.«

Bernstein verneigte sich. »Ich wurde angewiesen, Euch zu begleiten.«

»Auf gar keinen Fall«, blaffte sie erstaunlich wütend.

»Wie Ihr wünscht«, sagte er und verneigte sich erneut. »Mit Eurer Erlaubnis werde ich den Morgen stattdessen damit verbringen, am Schrein von Kiyer, der Göttin der Sturzflut, auf der Bergseite dieses Turms zu beten.«

Seine Worte hatten die erwünschte Wirkung, und die Herzogin zuckte nach einem Blick zur Dame Kinna mit den Achseln und nickte. Sie stand auf und half auch dem Jungen mit mehr Vorsicht vom Thron herunter, als bei einem Kind dieses Alters angebracht gewesen wäre.

»Wie Ihr wünscht. Jato wird Euch und Eurem Diener ein Zimmer zuweisen und für Euer Wohl sorgen.«

Als sein Name genannt wurde, hüpfte der Beamte vor und wackelte dabei wie ein Star mit dem Kopf. Die Herzogin ging, das Kind an der Hand, ohne einen weiteren Blick auf die Haupttreppe zu. Die Dame Kinna folgte einige Schritte hinter den beiden, blieb aber lange genug stehen, um ihn erneut anzulächeln und auch noch zu sagen: »Verschlaft nicht.«

Bernstein stand einen Augenblick lang reglos da und versuchte zu ergründen, ob die Frau wohl verrückt war, oder ob er sie früher schon einmal getroffen und es nur vergessen hatte. Nai zupfte drängend an seinem Ärmel und riss ihn damit aus seinen Gedanken.

»Kommt, wir müssen reden.«

Bernstein lächelte böse. »Das müssen wir wirklich.«