31
»Die Großen und Edlen streiten sich wie verzogene Kinder«, sagte Ilumene verächtlich und warf einen finsteren Blick auf den Palast der Gelehrten zurück. Gerade machte er auf Bitten der Herzogin einen Spaziergang mit Ruhen, damit sie weiter mit Styrax streiten konnte.
Er wandte den Kopf, um zu dem Kind hochzuschauen, das auf seinen Schultern saß. »Wenn sie so weitermachen, wird Lord Styrax sie niederstrecken wie der Gott der eitlen Menschen.«
Das Kind reagierte jedoch nicht auf seine Worte. Ilumene spürte, dass es die fortlaufenden Verhandlungen mit der üblichen, schweigsamen Eindringlichkeit beobachtete. Der Abend war so leise wie eine Raubkatze herangeschlichen und hatte sich plötzlich in das Tal ergossen. Als man nach Laternen rief, hatte die Herzogin eine Decke für Ruhen verlangt.
Ilumene war etwas enttäuscht, dass ihm keiner der Litse-Diener gefolgt war, als er die Terrasse verlassen hatte. Nur die Mächtigen und die Gelehrten waren wichtig genug, um beaufsichtigt zu werden. Offenbar hielt man Ilumene für keines von beidem.
»Erzähl sie mir«, sagte Ruhen. Seine Stimme war sanft und entglitt dem Ohr gleich wieder, wie das Flüstern von Herbstblättern im Wind.
»Die Geschichte? Hast du sie nicht geschrieben?« Er kicherte und folgte dem Trampelpfad zum Rand des Tals. »In diesem Fall schuldet mir ein gewisser Besserwisser-König im Westen zehn Goldemins!«
Er ging in Richtung des Eingangs zu dem Tunnel, der sie nach Byora zurückführen würde, wenn sie erst alle kapituliert hatten. Die Geweihten, allen voran der Ritter-Kardinal, waren von den Neuigkeiten aus dem Schritt gebracht worden, hatten sich aber noch nicht ergeben. Worüber sie nun stritten, wusste niemand, aber es war Ilumene auch ganz gleich. Als er dem Ritter-Kardinal zum ersten Mal begegnet war, war er eine von König Emins gesichtslosen Leibwachen gewesen. Die seitdem vergangenen Jahre hatten die Fähigkeit des Führers der Geweihten, unendlich zu schwafeln und dabei zu lächeln, aber nicht geschmälert. Ilumene war froh, dass die angeborene Arroganz der Farlan dafür gesorgt hatte, dass sich der Mann die Gesichter der Leibwachen nicht gemerkt hatte.
Er räusperte sich übertrieben. »Gut, die Geschichte des Gottes der eitlen Menschen. Sie wird dir gefallen. Aus verschiedenen Gründen ist sie ketzerisch, darum habe ich sie für eine der deinen gehalten. Es war einmal ein reicher Mann im Königreich Pelesei, der auf seinem Land einen alten Schrein fand …«
»Das ist eine Lüge«, unterbrach Ruhen.
»Eine Lüge? Was ist eine Lüge?«
»Erzähl mir von Pelesei.«
»Pelesei?« Ilumente konnte den Gedankensprüngen nur schwer folgen. »Pelesei war ein Königreich auf der Halbmond-Halbinsel weit im Süden. Die Seuche hat es jedoch vor zwei Jahrtausenden dahingerafft. Jetzt ist es nur noch eine bunte Mischung von rund fünzig kleinen Stadtstaaten.«
»Warum erinnert man sich noch daran?«, fragte Ruhen.
Er schnaubte. »Hauptsächlich wegen der Geschichten, die dort angesiedelt sind. Willst du damit sagen, dass jede der Geschichten über Pelesei erfunden ist? Aber Rojak hat mir mehr als ein Dutzend erzählt …«
»Mein Herold wusste es.«
»Wusste was?«, fragte Ilumene. »Pisse und Dämonen, was? Dass es Pelesei nie gab? Sag so was nicht, das kann nicht wahr sein.«
»Es gab dieses Reich weit im Süden.«
Ilumene dachte über die ganze Sache nach. »Aber die Geschichten sind erfunden, also ist an Pelesei nur bemerkenswert, dass es vor langer Zeit existierte? Also reiste kaum jemand dorthin … es stellt einen viel interessanteren Hintergrund für eine Geschichte dar, wenn wenig Handel getrieben wird, weil dann alles dort passieren könnte und kaum jemand dich berichtigen kann. Kein Wunder, dass Rojak es benutzt hat. Der Barde liebte seine Lügen, aber wenn sie die Geschichte veränderten, liebte er sie besonders.«
Er lachte laut und seine Stimme hallte von der Talwand wider. Diese stand hier fast senkrecht, aber zwanzig Schritt weiter wurde sie etwas weniger steil. An der Stelle könnte man die Klippen ein Stück weit erklimmen – auch wenn es dort kein Ziel und keinen Weg gab.
Während sie darauf zugingen, sah Ilumene, dass sich jemand von dieser Sinnlosigkeit nicht hatte abhalten lassen. Ein Licht erhellte eine Gestalt, die am Felsrand saß und mit ihren nackten Füßen baumelte.
»Sieht aus, als sei er tot oder betrunken«, sagte Ilumene und ging so nah heran, wie er es ohne zu klettern vermochte. Er spähte hinauf. »Das ist dieser Magier, der gestern aufgetaucht ist«, erklärte er Ruhen. »Der Knecht unseres Freundes in Scree.«
»Ein Knecht braucht einen Herrn.«
»Wer ist dann sein Herr?«, fragte sich Ilumene laut. »Vielleicht ist er doch durch und durch ein Menin, aber wer würde einem Nekromanten trauen? Styrax ganz sicher nicht, also muss er wissen, dass er hier niemals in den inneren Kreis vordringen kann. Die besten Chancen hätte er bei Lord Larim. Halten sich nicht alle Erwählten des Larat ein Gefolge aus Akolythen?« Er spürte, dass der kleine Junge auf seinen Schultern nickte.
»Warum ist er dann jetzt nicht unten in Ismess und versucht sich beim neuen Lord des verborgenen Turms einzuschmeicheln? Er ist anpassungsfähig, das hat er in Scree bewiesen. Ich an Larims Stelle hätte den klumpfüßigen Schwachkopf gerne in meinem Gefolge, und sei es nur, damit sich die anderen infrage gestellt sehen. Es gibt nichts Schlimmeres als Magier, die glauben, in einer sicheren Stellung zu sein.«
Ruhen wies auf die Gestalt an der Kante, die noch immer reglos dasaß. Er war wegen der kalten Nachtluft in eine dicke Decke gehüllt, nur sein Kopf schaute heraus. »Licht«, flüsterte der kleine Junge.
»Lass mich in Ruhe«, rief Ilumene. »Sieh sich das einer an!«
Nai zuckte aufgrund der lauten Stimme zusammen. Er blickte kurz zum wolkenverhangenen Himmel auf, bevor er auf das Paar hinabsah, das ihn beobachtete. Dann rieb er sich das Gesicht, wischte sich das Haar aus den Augen und richtete sich auf. »So etwas sollte ein kleiner Junge nicht hören«, sagte er mit etwas verschliffenen Worten. »Was wollt Ihr also?«
»Wie wäre es mit etwas Licht?«, rief Ilumene.
Nai zuckte zusammen und warf einen schuldbewussten Blick auf die Lampe neben sich. Beinahe sofort schwächte sich das Licht ab und flackerte wieder so wie immer.
»Ein hübsches Plätzchen habt Ihr hier«, fuhr Ilumene böse lächelnd fort. »Wie geschaffen, um in aller Ruhe etwas zu trinken.«
Nai hob eine Flasche an und prostete Ilumene damit zu. Die Zweiliterflasche schien jedoch schon fast leer.
»Gibt es noch andere Plätze wie diesen?«
»Äh, nein.« Nai sah sich im Tal um, aber bis auf die zunehmende Dunkelheit war wenig zu sehen. »Nun, vielleicht, weiß nicht recht.«
»Ihr habt Euch einfach eine Kante ausgesucht und hattet Glück?«
Nai nickte eifrig. »Hab mir gedacht, ich such mir ein ruhigeres Plätzchen, um mein Bier auszutrinken. Hab’s nicht gespürt, bis ich hier ankam. Die tote Zone ist ungefähr zweimannshoch.« Plötzlich lachte er auf. »Bin mir sicher, mal gelesen zu haben, dass Magie schwerer wiegt als Luft.«
Ruhen zog Ilumene am Ohr. Der Junge wollte weiter. »Ich lass Euch dann mal mit Eurem Bier allein«, sagte er und salutierte übertrieben vor dem Nekromanten. »Euer Lord hat gewonnen, aber es dauert wohl noch ein paar Stunden, bis sie es einsehen.«
Nai blickte zum Palast der Gelehrten zurück. Ilumene folgte dem Weg eilig, denn er wollte nicht, dass der Nekromant es bemerkte. Er konnte einer dieser Betrunkenen sein, die sich am nächsten Morgen an unliebsame Einzelheiten erinnerten, und dies war eine Menschemmenge, in der sie nicht auffallen wollten.
Der Weg war steinig, denn man hatte ihn mit Kieseln aufgeschüttet, und die Steine machten so viel Lärm, dass Ilumene keine Angst haben musste, dass Nai seine Worte hören würde. »Das war überraschend«, sagte er. »Ich dachte, das ganze Tal wäre eine tote Zone.«
»Palast«, bemerkte Ruhen.
Ilumene blieb schlagartig stehen. »Der Palast der Gelehrten?« Er schürzte die Lippen. »Das ist ein guter Punkt. Seine Erklärung ist nicht wasserdicht, oder? Die oberen Stockwerke liegen deutlich höher, als sein Sitzplatz.«
Er sah zurück, um sich zu vergewissern. Der Boden war abschüssig, aber Nai saß nicht annähernd so hoch wie die oberen Stockwerke des Gebäudes waren, das sie gerade erst verlassen hatten.
»Also müssen wir uns fragen, ob er im Vorfeld von dieser Stelle wusste, oder ob man ihm gesagt hat, er solle nach Rissen in der Schicht suchen. Was denkst du?«
Ruhen antwortete nicht. Vermutlich dachte der Junge nach. Er hielt eine Strähne von Ilumenes Haar in seiner kleinen Faust. Der Junge war seltsam, zeigte Eigenschaften eines Kindes und eines Unsterblichen zugleich. Mehr als einmal traten kindliche Verhaltensweisen unbewusst zutage, was Ilumene vermuten ließ, dass noch die Reste einer sterblichen Seele vorhanden waren. Als Ruhen ihm befahl, die Geschichte des Gottes der eitlen Menschen zu erzählen, war das nicht nur eine Erinnerung an die Befehlsgewalt Azaers gewesen. So wie der Körper, den der Schatten nun trug, Kleidung und Nahrung brauchte, so befriedigte die Bitte, eine Geschichte erzählt zu bekommen, ein unbestimmtes Bedürfnis in dem Kind.
Also spiele ich jetzt wohl den Papa. Das habe ich aber nicht kommen sehen!
»Warum soll ich wählen?«, fragte Ruhen.
»Du meinst, beides stimmt?« Ilumene zuckte mit den Schultern. »Das mag wohl so sein. Die einfachste Erklärung ist, dass Lord Styrax ihn auf die Suche schickte, aber Nai war Mitglied des inneren Kreises von Zhia Vukotic. Vermutlich hat sie ihn immer noch am Haken – er bleibt in der Mitte, wo auch sie sich am liebsten aufhält.«
Er ging wieder los und hatte vor, so lange zu gehen, wie er es nur schaffte. Aber dann blieb er doch wieder stehen.
»Was glaubst du, hat Lord Styrax hier vor?«, fragte er. »Wenn er Nai die Beschränkungen der Bibliothek prüfen lässt, hat er daran ein größeres Interesse, als wir ahnten. Vielleicht hat er ein Ass im Ärmel?«
»Zeig doch Vertrauen.«
»Hah. Emin sagte immer: ›Es ist besser, auf seine eigene Vorbereitung zu vertrauen.‹ Wenn es dir recht ist, denke ich noch ein bisschen darüber nach.«
»Gut.«
Ilumene wartete, aber es folgte kein weiterer Ratschlag.
Verdammt, verhältst du dich absichtlich wie Emin, um mich zu ärgern, oder hatte Rojak damit Recht, dass man durch seine Feinde in seinem Wesen bestimmt wird?
»Wenn er etwas vorhat, sollten wir uns Sorgen machen – das könnte hier alles aus dem Gleichgewicht bringen. Die Verbindung von Lord Isak und Lord Styrax hetzt die beiden größten Mächte aufeinander. Die Farlan können einen Krieg nur auf eigenem Land gewinnen, aber sie müssen trotzdem lange genug aushalten. Wenn Styrax einen bemerkenswerten Vorteil erhält, könnte er den Westen so schnell erobern, dass wir keinen Nutzen daraus ziehen werden. Die Geweihten sind für einen Heiland noch nicht bereit, das Gleichgewicht muss gewahrt werden.«
»Und wenn das nicht möglich ist?«
Er ließ Ruhen von seinen Schultern gleiten und stellte den kleinen Jungen vorsichtig ab, sank dann vor ihm auf die Knie. »Würdest du deine Pläne aufgeben?«, fragte er verblüfft. Der Schatten war geduldig, ging langsam vor, plante aber Jahre, Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte im Voraus. »Ich habe noch nie erlebt, dass du etwas abgeblasen hast.«
»Bisher war es auch nie nötig.«
Ilumene nickte bedächtig. »Du kannst sie nicht steuern. Du hast das Stück so angelegt, dass sich die Figuren der Kontrolle des Dichters entziehen. Welche anderen Pläne könnten wir vorbereiten? Wir können doch keine Prophezeiungen in die Menin-Geschichte einpflanzen.«
»Was bin ich?«
»Ein Kind«, sagte Ilumene zögernd, in dem Wissen, dass ihn die offensichtlichen Antworten leiten würden, mochten sie auch lächerlich klingen. »Ein Junge, ein Heiland, ein Sterblicher … ein Sohn.«
»Ein Sohn und ein Heiland.«
»Die Geweihten wollen einen Heiland anbeten«, erkannte er. »Und Styrax’ einzige Schwäche ist sein Sohn. Aber du kannst beides sein und auf diese Weise das Gleichgewicht erhalten …«
Er dachte einige Herzschläge lang darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, das läuft all meinen Instinkten zuwider. Kein General verwirft eine erfolgreiche Taktik für etwas Unerprobtes, schon gar nicht, wenn seine Truppen für diese Sache nicht geeignet sind. Deine Gefolgsleute sind allesamt sorgfältig aufgestellt, dein Plan wird zur richtigen Zeit Früchte tragen – wie könnten wir jetzt umschwenken?
Bevor er in den Krieg zieht, muss ein General dafür sorgen, dass er nicht verlieren kann. Dies ist die Grundlage des Krieges. Es widerspricht allem, was ich über die Kriegsführung gelernt habe, Jahre der Vorbereitung zu verwerfen. Und du hast immer gesagt, ich solle das Ganze wie einen Feldzug betrachten.«
Ruhen schwieg eine Weile, so lange, dass Ilumene sich fragte, ob er es doch zu weit getrieben hatte. Rojak hatte ihm genug Geschichten von Untergebenen erzählt, die den Zorn Azaers auf sich gezogen hatten. König Emins Schreiber streiften verborgen durchs Land und sammelten Spuk- und Schreckensgeschichten, und Ilumene wusste, dass sich nicht alle diese Leute gegen Azaer gestellt hatten – einige hatten ihn auch einfach nur enttäuscht. Deren Ende war besonders grausam gewesen.
»Selbst die beste Frucht kann faul werden«, sagte das Kind schließlich. Ein unbekannter Tonfall lag in seiner Stimme, bei dem sich Ilumene die Nackenhaare aufstellten. Ruhen wuchs von Tag zu Tag schneller und immer weiter in die Macht hinein, die er als Schatten besessen hatte, aber auf eine sehr menschliche Weise. Nach Jahrhunderten körperloser Schwäche gingen dem Schatten die wenigen Monate hilfloser Kindheit auf die Nerven.
»Bedenke, mit welchen Mächten wir unser Spiel da treiben. Verderbnis ist unabdingbar, wir dürfen sie nicht fürchten.«
Ilumene lächelte. »Daraus sprechen die faulenden Reste von Rojaks Seele.«
Ruhen nickte, und in seinen Augen tanzten die Schatten.
»Von all meinen Flüchen, seien sie weiblicher oder unsterblicher Natur, halte ich für dich vor allem den Hass bereit.«
Nai erwachte mit einem Ruck. Er sah niemanden in dem dunklen Tal, aber das musste kein gutes Zeichen sein.
»Äh, edle Dame Zhia?«, fragte er heiser und mit trockener Kehle.
»Nenn mich nicht edle Dame Zhia, du stummelfüßiger Wurm«, klang ihr samtiges Grollen neben seinem Ohr.
Nai zuckte zusammen und wäre beinahe von der Kante gefallen, konnte sich aber gerade eben noch am Stein festhalten. Er drehte sich ganz herum und sah immer noch nicht mehr als den schwarzen Stein und die erloschene Laterne neben sich.
Diesmal erklang die Stimme im anderen Ohr. »Deine Dummheit ist grenzenlos. Bewähre dich bald, oder ich reiße dir deine Gedärme heraus und erhänge dich damit.«
Diesmal war Nai allerdings vorbereitet und schreckte nicht zurück. Wegen des Rauschnebels in seinem Kopf dachte der Nekromant darüber nach, dass sie diese Drohung mit Leichtigkeit wahrmachen könnte.
»Ich bin hier, wie Ihr befohlen habt.«
»Habe ich dir denn auch befohlen, es dem ganzen Tal zu verkünden? « , fauchte Zhia. »Vergib mir, dass ich vergessen habe, dir zu befehlen, nüchtern zu bleiben und dich nicht bei etwas beobachten zu lassen, das angeblich unmöglich ist!«
Nai sah sich schuldbewusst um. Er konnte die leere Flasche nicht finden, hatte sie im Schlummer vermutlich von der Kante gestoßen.
Wenigstens habe ich keine Wachen angezogen, dachte er etwas erleichtert. Dann hätte sie mich wirklich umgebracht. Ein Windhauch strich um seinen Körper, so schlang er den Ledermantel um sich. Er antwortete nicht auf Zhias Worte, denn er wusste, dass alles, was er jetzt sagen konnte, sie nur noch wütender machen würde.
»Ich habe dir diese Stelle nicht offenbart, damit du sie allen Leuten zeigst. Ich hoffe für dich, dass du sie aus gutem Grund aufs Spiel gesetzt hast.«
»Ja, edle Dame«, sagte Nai rasch und war froh, das Thema wechseln zu können. Das wütende Fauchen der Vampirin hatte ihn ernüchtert. »Es gibt Neuigkeiten: Lord Styrax hat heute Nachmittag die Faust eingenommen.«
»Das weiß ich schon«, sagte sie geringschätzig. »Er gibt gerne an. Der dumme Junge hat mal wieder mit Dämonen herumgespielt. Ich habe es noch in Byora gespürt. Sag mir, was er in der Bibliothek will.«
»In der Bibliothek?« Nai war verwirrt. »Die Kapitulation der Viertel verhandeln, das wisst Ihr doch.«
»So weit von seinen Truppen entfernt, an einem Ort, wo er seine besten Waffen nicht einsetzen kann? Sei nicht dumm. Die Litse-Armee in Ismess ist zwar miserabel, aber immer noch groß genug für die Wache, die ihn begleitet. Styrax ist verwundbar, solange er sich hier aufhält, auch wenn seine Wyvern in der Nähe ist. Will er länger als einen Tag bleiben?«
»Ich glaube schon«, sagte Nai zögernd. »Ich konnte ihn im Gespräch mit General Gaur belauschen und habe den Eindruck, dass er Nachforschungen anstellen will. Er hat Gaur ermahnt, Kohrad im Auge zu behalten.«
»Sonst noch etwas?«
»Er hat mir eine Aufgabe übertragen. Ich sollte am Rand des Tals entlanggehen und die Orte ausweisen, an denen ich Magie in der Luft spüre.«
Eine Weile war es still. Nai drehte sich halb zu den Klippen hinter sich um und wurde dafür von einem eisigen Windstoß getroffen, der in den Augen stach.
»Wenn du welche findest, so sag mir gefälligst Bescheid.«
Nai nickte, auch wenn er den Befehl nicht recht einordnen konnte. In der Luft lag eine Spur der Vampirin, ein feiner Geruch, so schwach, dass er beinahe auch eine Erinnerung sein konnte, die von ihrer Stimme ausgelöst wurde. Zhias Verständnis der Magie übertraf alles, was Nai in einem ganzen Leben hätte lernen können – es war gut möglich, dass dieser Ort, wenn er am Morgen hierher zurückkam, dem restlichen Tal genau gliche. Vielleicht konnte man die Magie von außen ein Stück weit ins Tal hineintreiben. Oder vielleicht umgab sie die Energie auch einfach wie die Luftblase eines Schwimmkäfers.
»Gibt es sonst noch etwas, edle Dame?«
»Du erstattest doch hier Bericht«, sagte sie gefasst.
»Äh, ja, natürlich. Ritter-Kardinal Certinse gibt in Akell nun die Befehle. Er ist vor einigen Wochen eingetroffen.«
»War er auf dem Weg hierher, oder ist er nur unterwegs nach Embere hier eingekehrt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich hörte, dass er vier oder fünf Legionen bei sich hat«, sagte Zhia nach kurzem Zögern. »Sourl ist nicht mutig genug, um sich gegen seinen Herrn aufzulehnen. Ich kann kaum glauben, dass er nur dafür so viele Soldaten aus Narkang abgezogen hat – der Mann ist doch ehrgeizig. Vermutlich hat er einen größeren Plan, für den er die tatsächliche und nicht nur die nominelle Kontrolle über den Orden benötigt. Das gelingt ihm am besten mit Ralands Goldminen, und Telith Vener hat dort im Augenblick das Sagen. Er hat Certinses Herrschaft über den Orden anerkannt, solange Certinse weit entfernt war und Herzog Nemarse Raland beherrschte, aber jetzt nicht mehr.« Sie dachte schweigend nach, doch Nai konnte an ihrem Tonfall erkennen, dass sie mit ihren Schlüssen zufrieden war.
»Sonst noch etwas?«, fragte sie schließlich.
»Es gibt eine magische Verbindung zwischen der Leibwache der Herzogin, Sergeant Kayel, und unserem Freund, Oberst Bernstein.«
»Interessant, durch die Augen der Dame Kianna habe ich davon nichts bemerkt.«
»Sie ist sehr schwach. Es wirkt so, als trage jeder das Echo des anderen in seinem Schatten. Man bemerkt es nur, wenn beide anwesend sind.«
»Kayel und Bernstein«, sagte Zhia nachdenklich. »Das ist eine reizvolle Wendung.«
»Ihr kennt Kayel?«
»Nur durch Kiannas Augen, aber er ist offensichtlich mehr als ein polternder Sergeant. Halte Augen und Ohren offen. Du bleibst so lange hier wie Styrax. Mach dich auf jede erdenkliche Art nützlich und berichte mir täglich eine Stunde nach Sonnenuntergang, verstanden?«
»Ja.«
»Gut.« Sie zögerte kurz und sagte dann freundlicher: »Nai, dies ist wichtiger, als du dir vorstellen kannst. Du musst mir vertrauen, dass du am sichersten bist, wenn du mich auf dem Laufenden hältst. Und jetzt geh, bevor man dich vermisst.«
Zhia löste sich aus dem magischen Strom und seufzte, als sich die Energie in der Nachtluft auflöste. Sie saß reglos hoch oben auf der Klippe, vom Wind unberührt, beinahe so, als wäre sie in eine Glaskugel eingeschlossen. Die Felsenfläche, auf der sie saß, hatte die ungefähre Form eines Ovals und maß etwa zehn Schritt von einer Seite zur anderen. Es war das einzige ebene Stück in den rauen oberen Bereichen des Schwarzfang, in denen man keine zehn Schritt weit kam, ohne klettern zu müssen.
Über den äußeren Klippenring ragte nichts heraus. Innerhalb war die Oberfläche des Berges zackig und chaotisch, denn sie war geschützt, der Wind konnte sie nicht abtragen. Hier und da klammerten sich wagemutig seltene kleine Grasflächen und Moosflechten an den Fels. Nur wenige Vögel trotzten den trügerischen Böen und dem Mangel an Nahrung und Nistplätzen hier oben. Es war ein unzugänglicher, lebloser Ort.
Hier konnte man sich hervorragend verstecken.
»Hast du es gehört?«, fragte sie nach einer langen Pause. Sie hatte ihr übliches Seidenkleid gegen praktischere Jagdhosen und ein Wams getauscht. Ihr Schwert mit dem langen Griff trug sie in einer Lederscheide, in die ein zur Kleidung passendes Muster eingeprägt war, auf dem Rücken. Um den Eindruck der Kampfbereitschaft weiter zu unterstreichen, hatte sie ihr wallendes Haar mit langen, saphirbesetzten Silbernadeln festgesteckt.
»Ja«, antwortete Koezh aus einer kleinen Höhle hinter ihr. »Wie sehr vertraust du ihm?«
»Überhaupt nicht.« Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, dann warf sie ihrem Bruder einen Blick zu. »Er ist ein sehr ehrlicher Mann, aber er ist nur sich selbst treu.«
»Wenn er also auf seinem Weg am Rand des Tales entlang etwas findet, wird er es Lord Styrax berichten.« Koezh klang erschöpft. »Es gibt nur einen Grund, warum ihm Styrax so einen Befehl geben sollte. Er ahnt schon, dass die tote Zone nicht natürlich ist, auch wenn er vielleicht noch nicht genau weiß, wonach er sucht.«
»Die Hälfte hat er bereits erraten«, stimmte Zhia zu, »und über die andere wird er noch stolpern.«
In der beengten Höhle leuchtete ein Licht auf. Koezh saß auf einem Schlafsack und sah die Glaskugel an, von der das Licht ausging. Ein kleiner Korb und einige dicke, ledergebundene Bücher lagen neben ihm. Zhias Bettstatt war an die gegenüberliegende Wand geschoben.
Der Vampir blickte finster drein. »Also können wir nur warten.« Er wies auf seine wenigen Habseligkeiten. »Es ist lange her, seit wir so gelagert haben.«
Er war kampfbereit, trug einen uralten schwarzen Plattenpanzer, nur der Helm und die Handschuhe lagen neben ihm auf dem Felsen. Sein hasserfülltes Schwert lag auf dicken Eisenhaken, die er über seinem Schlafsack in die Wand getrieben hatte. Ohne den Schutzzauber, der sie umgab, wäre es selbst Zhia unangenehm gewesen, die Waffe zu betrachten, in die Aryn Bwr seine Wut und Trauer über den Mord an seinem Erben gelegt hatte.
»Es muss Jahrtausende her sein«, sagte Zhia mit leichter Schärfe in der Stimme. »Und ich sehe keine Notwendigkeit, es zu wiederholen. Er wird tagelang nachforschen, bevor er handelt. Wenn du im Freien lagern willst, Prinz Koezh, bleibt dir das natürlich vorbehalten.«
»Wir wissen nicht, wie lange er brauchen wird«, antwortete Koezh ärgerlich geduldig. »Du weißt nicht, wie weit er schon ist – und so eine Gefahr dürfen wir nicht eingehen. Er ist kein Mann, den wir bestechen oder einschüchtern können, wie es mit Deverk Grast gelang. Selbst wenn er die ganze Wahrheit wüsste, er würde es doch zu einem Ende bringen. Wir dürfen nicht erlauben, dass es jemand in Besitz nimmt, und wir können uns nicht darauf verlassen, dass der Hüter ihn aufhält. Ganz abgesehen von der Vernichtung, die dadurch über die Unschuldigen in Ismess hereinbrechen würde.« Er zeigte auf seinen Schlafsack. »Das weißt du alles, also setz dich zu mir.«
Zhia verzog das Gesicht und fiel nach langer Zeit wieder einmal in die Verhaltensweise einer jüngeren Schwester zurück, wusste aber, dass ihr Bruder Recht hatte.
»Selbst wenn wir es ihm später übergeben, müssen wir erst sicher sein«, gab sie zu und ging in die Höhle. Kurz zerrten die eisigen Winde an ihrer Kleidung, als sie den einen Schutzzauber gegen einen anderen tauschte. »Aber ich behalte mir das Recht vor, dir eine Nacht ohne erholsamen Schlaf vorzuwerfen.«
Koezh senkte den Kopf. »Mutter pflegte zu sagen, man müsse die Vorwürfe einer Dame stets hinnehmen. Ich nehme an, dass dies auch dann gilt, wenn man das Ziel eines Ärgers zu sein meint, der eigentlich jemand anderem gilt.«
»Und das soll heißen?«, fragte Zhia eisig.
Ihr Bruder lächelte. »Du scheinst gereizt, seit du einen gewissen jungen Mann meidest. Das ist alles sehr … putzig. Soll ich dich in den Schlaf singen?«
»Wenn du das tust, schlitze ich mir die Kehle auf, und du kannst alleine warten«, gab sie scharf zurück und wandte sich ab, um sein Lachen nicht sehen zu müssen.
»Selbstmord wegen schlechter Laune, eine der niederen Freuden der Unsterblichkeit.«