3
Es störte Isak nicht, dass nur schwaches Kerzenlicht zur Verfügung stand. Er konnte die Gesichter um sich herum gut erkennen, versuchte dabei aber seinen Kopfschmerz zu verdrängen. Aus einem Gesicht traf ihn ein geringschätziger Blick, und der Mann versuchte auch gar nicht erst, sein Missfallen zu verbergen. Aber daran hatte sich Isak bei seinem Haushofmeister schon gewöhnt. Das junge Weißauge hatte ein ganzes Reich von seinem Vorgänger Lord Bahl geerbt, und man mochte über Haushofmeister Fordan Lesarl sagen, was man wollte – wobei größenwahnsinniger Sadist noch eine der blumigeren Beschreibungen der Leute für ihn war –, aber er wusste, wie man ein Land zu führen hatte.
Die übrigen Anwesenden waren allesamt gut aussehend, was Isak bei ihrer ersten Begegnung überrascht hatte, obwohl er nie den Finger darauf legen konnte, warum. Die eine Hälfte starrte wie ein Rudel gefangener Hasen zu ihm auf und der Rest blickte niedergeschlagen zu Boden. Er atmete tief durch. Es war kein guter Tag, und das beständige Nieseln, das sich jedes Mal in einen Wolkenbruch verwandelte, sobald er einen Fuß nach draußen setzte, hatte seine ohnehin schlechte Laune nicht eben gebessert.
Reiß dich zusammen, wiederholte Isak im Innern immer wieder. Reiß dich zusammen, wende dich nicht gegen deine Vertrauten. Er hatte die Warnung im Blick seiner Freunde, seiner Berater und besonders in Carels Augen gesehen. Obwohl er abgemagert war und wirkte, als sei er seit dem Verlust seines Armes um zehn Jahre gealtert, hatte Carel sein Gespür für Isaks aufgewühltes Gemüt doch nicht verloren. Carel war Isak in den langen Jahren beim Wagenzug eher ein Vater gewesen als sein leiblicher Vater, und man hatte ihn unter anderem wegen seiner beruhigenden Wirkung auf Isak zum Marschall gemacht. Ihm vertraute Isak von allen Leuten noch immer am meisten.
Die neun Mitglieder von Lesarls Gefolge saßen um drei Tische herum. Sie stellten eine bunte Mischung dar, und nicht alle Gefolgsleute des Haushofmeistes passten in das staubige Dachzimmer einer Schenke in der Nähe der belebten Krummschwanzstraße. Der Flusshafen von Tirah lag nur einen Katzensprung vom Hahnenschweif entfernt, und die Stammgäste der Schenke waren von der gröbsten und unflätigsten Sorte. Der grimmige erste Maat, der an einem der Tische saß, passte mit den Hautbildern, die seine Arme und den kahlen Schädel bedeckten, hervorragend in den Schankraum unten. Der in Seide gekleidete Stutzer neben ihm tat es nicht – aber keiner der Anwesenden ließ sich vom Äußeren der beiden täuschen.
»Wie ich sehe, freut ihr euch ebenso sehr darüber, hier sein zu dürfen, wie Lesarl«, sagte Isak schließlich.
Der Lord der Farlan war beinahe so herausgeputzt wie Tänzer, der aufgetakelte Edelmann. Sein Wams und seine Beinkleider waren dunkelblau und an der linken Seite mit silbernen Spiralen und Mondstein verziert. Isak hatte seinen silbernen Herzogsstirnreif nach einem langen Tag voller offizieller Anlässe abgelegt, aber alles andere an ihm, mit Ausnahme des fehlenden Wappens auf seinem dunkelgrauen Kapuzenmantel, wirkte so, wie es der Brauch vorgab. Ein makelloses Äußeres, bis zu seinen glatt rasierten Wangen und dem gestutzten Haar, doch all der Prunk konnte die Muskeln darunter nicht verbergen.
»Sie sorgen sich ebenso wie ich über die Gefahr für unsere Sicherheit«, antwortete Lesarl.
Isak nahm seine Aussage und ihre Formlosigkeit zur Kenntnis. Der Haushofmeister hatte deutlich gemacht, dass sein Gefolge die Anweisung hatte, offen und frei zu sprechen, ohne dabei auf Ränge zu achten.
»In dieser Stadt finden an jedem Abend so viele heimliche Treffen statt, dass eines mehr doch gar nicht auffällt.«
»Ihr seid nicht eben unauffällig«, sagte das jüngste Mitglied des Gefolges, Flüsterer, die Lesarls eigenem Spionagenetzwerk vorstand. »Und Tänzer fällt in diesem Viertel auch auf.«
Tänzer lächelte breit und wies auf diejenigen, die noch weniger hierherpassten als er. Gebet war ein Priester des Nartis mit Tonsur, ein Mann Anfang fünfzig mit sauertöpfischem Ausdruck, der so weit wie möglich von der schmuckbeladenen Frau entfernt saß, die Beschwörer genannt wurde. Sie versuchte im Gegenzug vergeblich, unauffällig zu wirken. Isak vermutete, dass die Frau so etwas nicht gewöhnt war, aber die meisten Magier mochten es auch nicht, in seiner Nähe zu sein. Die ungestalteten Talente der Jugend, die brutale Kraft eines Weißauges und die gewaltige Macht zweier Kristallschädel zusammen würden jede vernünftige Person nervös machen.
»Darum haben wir eure Wege hierher im Vorfeld geplant«, sagte Isak. »Es mag meiner Stellung nicht angemessen sein, mich durch Dachkammern und Gassen von den Kalten Hallen bis hierher zu schleichen, aber was Lesarl für sicher genug hält, ist für mich nur recht und billig.«
»Diese Gnade erfährt nicht jeder«, betonte Flüsterer, und ihre Stimme wurde schärfer. »Gebet muss oberhalb der Heiligen Docks in ein Fass klettern; Beschwörers Weg dauert zwei Stunden und bedarf dazu einer langen Vorbereitungszeit. Je kurzfristiger Ihr uns herbeizitiert, umso größer ist die Gefahr, dass einer der Wege auffliegt — und das schon ohne die Patrouillen der Geister, die hier nach Feinden Ausschau halten.«
»Vielleicht habe ich mich nicht ganz klar ausgedrückt«, sagte Isak nach kurzem Schweigen. Sogar im schwachen Kerzenlicht sah er das Funkeln ihrer Augen und erkannte, dass Flüsterer seine Warnung verstanden hatte. Für ihre Stellung war sie erstaunlich jung, kaum dreißig Sommer, und eine hübsche Frau. Im Augenblick trug sie die Kleidung eines Händlersohns, zu der aber die wallende schwarze Mähne nicht passen wollte, die ihr Gesicht in Schatten hüllte. Als sie durch das Fenster der Dachkammer gestiegen war, war es zurückgebunden gewesen. Isak vermutete, dass ihre Aufgabe so neu für sie war, dass sie sogar den anderen Mitgliedern des Gefolges gegenüber noch Misstrauen hegte. Im Gegensatz zu den anderen schien sie über ihren Aufzug nachgedacht zu haben, denn sie trug nichts Auffälliges oder Wiedererkennbares, nicht einmal ein einzelnes Schmuckstück.
»Ich wollte dieses Treffen«, fuhr er fort, »also findet es auch statt. Ich weiß, dass ihr Regeln folgt, die verbergen sollen, wer ihr seid, aber darum mache ich mir im Moment keine Sorgen.«
Es war für kurze Zeit still. Isak musterte ihre Gesichter, versuchte zu ergründen, wen er auf seine Seite ziehen musste, um die Gruppe für sich zu gewinnen. Natürlich blieb Lesarl der Anführer, aber Isak war im Wagenzug aufgewachsen und wusste darum, dass es auch unter Gleichen immer einen Ersten gab. Carel war der Kommandant der Wachen des Wagenzugs gewesen, doch Calo Denn war der Mann der Söldner. Er prägte ihre Entschlüsse und sprach wenn nötig auch für sie. Er war der eine, der ein kleines bisschen mehr als seine Gefährten bedeutete.
Also, wer ist es hier?, fragte er sich und schaffte es, nicht zusammenzuzucken, als eine Antwort in seinem Kopf erklang.
»Ist das nicht offensichtlich?«, klang es tadelnd aus einer Ecke seines Geistes. Aryn Bwr, der letzte König der Elfen – oder zumindest das, was von seiner zerschlissenen Seele noch übrig war – hatte gesprochen. Der letzte König war, weil es ihm nicht gelang, Isaks Körper vollständig zu übernehmen und so ins Leben zurückzukehren, auf einen schwachen Abglanz seiner ehemaligen Größe beschnitten worden und fürchtete fortwährend die Strafe, die ihn im Tod erwartete.
»Für dich gewiss«, antwortete Isak. »Wie viele Jahre hast du als König über dein Volk geherrscht? Wir anderen müssen ein bisschen länger darüber nachdenken.«
Er musterte die neun Gesichter der gänzlich unterschiedlichen Männer und Frauen, die in den Stoff der Gemeinschaft gehüllt waren, für die sie standen. Flüsterer, unlängst erst von Lesarl zur Leiterin seines Spionagenetzwerks erkoren, versuchte den Maßstäben ihres Vaters gerecht zu werden, dem vorherigen Amtsinhaber. Tänzer, den ein einzelner goldener Ring im linken Ohr als Ritter oder Marschall auswies – Isak hegte keinen Zweifel, dass er in die Stellung eines Marschalls hineingeboren worden war. Vielleicht war Matrose sein Mann, ein vernarbter Veteran mit verdrehter Nase, der gleich neben Tänzer saß. Er trug Rot, was bei den Farlan ein Zeichen für seinen Beruf war, riskierte allerdings, ausgepeitscht zu werden, weil er keinen Makrameeknoten an seinem Hemd sitzen hatte, der sein Schiff auswies – und es möglich gemacht hätte, ihn aufzustöbern. Ist er sich seiner Fähigkeit, einen Vorgesetzten beeinflussen zu können, so sicher? Ich würde nicht darauf wetten, dachte Isak.
Beschwörer konnte er nicht recht einschätzen, weil ihr Verhalten so gekünstelt war, und Soldat war von der Anwesenheit seines Lords scheinbar zu sehr eingeschüchtert, um nicht zu vergessen, dass er im Rang eines Sergeanten stand, dazu mit zwanzig Jahren Kampferfahrung. Händler und Bauer hielten Isaks Blick nicht lange stand, darum verwarf er sie, und er konnte sich nicht vorstellen, dass eine von Lesarl zusammengestellte Gruppe einem Priester folgen würde.
Damit bleibt nur eine übrig. Also ist es Bürger, und sieht sie nicht auch wie ein erstklassiges Miststück aus? Ich vermute, dass sie nicht mal den fetten Kloß unten im Schankraum braucht, um ihre Gäste im Zaum zu halten.
Als wolle sie seinen Schluss bestätigen, erwiderte Bürger seinen Blick. Sie zeigte keine Spur von Unterwürfigkeit, als sie auf seine unausgesprochene Frage antwortete: »Ihr seid wegen der Gesamtlage beunruhigt«, bemerkte sie mit einem auffälligen Tirah-Akzent, und ihre raue Stimme legte Zeugnis über ein Leben mit der Pfeife ab. »Doch nicht einmal die Verletzungen Eures Vaters sind wichtig genug, um an erster Stelle zu stehen. Sorgen macht Euch der Klang der Stadt.«
Bürger war eine untersetzte Frau, deren Haar beinahe so kurz geschnitten war wie das von Isak. Ihr Gesicht war voller Lachfalten, ihr Kiefer so breit, dass ein Chetse-Krieger neidisch gewesen wäre. Sie trug in beiden Ohren je drei goldene Ringe – und sogar der unerfahrene Isak erkannte, dass die Ähnlichkeit zu den Ohrringen eines Herzogs beabsichtigt war.
»Erklär mir das bitte«, sagte er höflich.
Sie zuckte mit den Schultern und lächelte, denn sie fühlte sich sehr wohl damit, dass die Aufmerksamkeit des gesamten Raumes auf ihr ruhte. »Ich hab mein ganzes Leben in dieser Stadt gelebt. Ich kenne ihren Klang besser als jeder Lord. Ihr seid ein Weißauge, darum spürt Ihr es auch, selbst wenn Ihr es vielleicht noch nicht bewusst bemerkt habt. An manchen Tagen höre ich einfach, dass die Stadt schlechte Laune hat, und an solchen Tagen hat der Hahn zu, denn da gibt es Aufstände. Im Augenblick ist es mit der Stadt zwar nicht so, aber es stinkt doch auffällig nach Männern, die zusammengepfercht sind, wie zu viele Bullen auf einer Wiese.«
Bürger hob einen Unterarm, so dick und fest wie eine Männerwade, und klopfte Gebet auf die Schulter. Der Priester, der zu ihrer Linken saß, beachtete sie nicht weiter und zog stattdessen seinen Mantel enger um sich. »Und dann ist da noch die Tatsache, dass sich unsere Priesterleute schlimmer verhalten als die Adligen, ständig Krieg predigen und ehrliche Leute auf der Straße aus dummen Gründen auspeitschen lassen.« Sie legte den Kopf schief. »Ich vermute, dass das, was denen die Laune versaut hat – und ich habe gehört, dass die Götter seit Scree so wütend sind, dass die Priester die Auswirkungen spüren können –, auch Euch die Ernte verhagelt hat.«
»Deine Schlussfolgerung ist also, dass einfach alle ein bisschen angespannt sind?«, fragte Isak verärgert.
Er war nie zuvor im Hahnenschweif gewesen. Nicht einmal Carels weißer Kragen hätte hier jemanden davon abgehalten, Anstoß an einem Weißauge zu nehmen, aber die Schenke und Kepra Dei, die großartige Besitzerin, waren überall in Tirah bekannt. Sie wirkte zäh und konnte bei jedem, der nicht zu ihrer Familie gehörte, herzlos sein. Jeder im Hafen wusste, dass man sich besser nicht mit jemandem anlegte, der den Namen Dei trug. Sogar ihre Schwiegersöhne, allesamt große, kräftige Männer, brachen darum mit dem alten Brauch und nahmen den Namen Dei an. Und diese drei Ohrringe erscheinen wohl keinem außer ihr selbst als Scherz, dachte Isak. Die anderen betrachten sie als Warnung, dass ihr Wort in dieser Gegend ebenso Gesetz ist wie das meine – vielleicht sogar in noch größerem Maße, wenn man es darauf ankommen ließe.
»Angespannt beschreibt es nicht mal im Ansatz, Junge«, erwiderte sie gelassen. »Ich spreche von der Verwirrung, die in der Luft liegt. Keiner kommt mehr mit dem anderen zurecht, die Adligen nicht, die Priester nicht, die Soldaten nicht. Ihr macht Euch Sorgen über das Chaos, das in der Stadt herrscht – man kann keinen Krieg führen, wenn man sich selbst bekämpft, oder? Und das zieht sich durch alle Schichten und läuft sogar in Eurem Innern ab.«
Isak antwortete nicht sofort. Die ruhige Ausstrahlung der Frau nagte an dem Mahlstrom aus Verzweiflung und Ärger, den er in sich trug. Er wusste, dass sie Recht hatte, aber er wollte nicht, dass sie so umfassend richtig lag. Die Priester unterlagen einem wie auch immer gearteten Einfluss und auch er spürte ihn, dank der Schädel allerdings weniger stark, da sie als Dämpfer für seinen Geist dienten – und das sollte niemand im Land erfahren.
»Klingt, als hättest du gründlich darüber nachgedacht«, sagte er nach einer Weile. »Hast du einen Vorschlag für mich? Immerhin ist es deine Aufgabe zu beraten, nicht einfach nur das verdammt noch mal Offensichtliche zu erzählen.«
Sie zuckte die Achseln und blickte zur Seite, um eine Unterwürfigkeit zu zeigen, die ganz sicher nicht aufrichtig war. Sie ist wirklich gerissen, dachte Isak. Sie weiß, dass es sogar hier — trotz des formlosen Umgangs innerhalb des Gefolges und ihrer Stellung darin – nicht weise ist, mir Anweisungen geben zu wollen.
»Nun, ich kann nicht behaupten, dass ich die Probleme der Priester kenne«, sagte sie langsam. »Darüber wisst Ihr Bescheid, ich nicht, also muss ich raten …«
»Jetzt zieh schon deine Schlüsse«, sagte Isak und bedeutete ihr, zur Sache zu kommen.
»Ich würde die Ablenkungen loswerden wollen, die die Adligen aufbringen«, sagte sie bestimmt.
»Und die wären?«
»Eure Krönung – darum sind sie hier, und sie werden sich wie Kinder streiten, bis sie wissen, wann sie nach Hause zu ihren Familien zurückkehren können. Und dann fragt man sich, was mit Lomins Herzogtum passiert. Und am wichtigsten ist natürlich Herzog Certinse.«
Isak nickte zustimmend. Lesarl, Tila und Vesna waren sich einig gewesen, was die Verhandlung und die Hinrichtung von Herzog Certinse betraf. Die Familie des Mannes hatte zu viele Verbündete, und zu viele Dynastien hatten sich mit ihr verbunden. Weil aber niemand wusste, welche Händel und Schuldzuweisungen noch kommen würden, war keinem so recht wohl. Außerdem hatte sich ein Dutzend Lordprotektoren offensichtlich nur aus Prinzip eingemischt.
»Und wie viele Streitigkeiten über die Außenpolitik werden sich dadurch lösen?«
»Keine, aber wenigstens könnt Ihr Euch dann darüber streiten. Die Leute werden deutlich friedlicher, wenn es ein oder zwei Gründe weniger gibt, sich zu streiten. Ihr seid Lord der Farlan, wenn auch noch nicht besonders lange. Sobald sich die Leute daran gewöhnt haben und erkennen, dass unser Reich noch immer stark ist, wird auch Euch die Ehrfurcht zufallen, die Lord Bahl genossen hat.« Bürger hielt inne und sah zu Tänzer am anderen Tisch hinüber. »Tänzer, stimmt doch, dass die Adligen nicht viel von Kardinal Vecks Reformen halten?«
Der Adlige zuckte zusammen, als sei er gerade aus der Betrachtung von etwas Schönem gerissen worden, und sah Bürger mit leerem Blick an. Schließlich sagte er: »Das stimmt. Wer auf ihn hört, achtet darauf, ihm nicht allzu lauthals zuzustimmen.«
Tänzers Stimme war volltönend und schmeichelnd. Ihr fehlte Graf Vesnas Tiefe, doch er sprach mit der gleichen geschmeidigen, sorgfältigen Betonung. Tänzer hatte im Gegensatz zu Isak seinen Mantel abgelegt und seine formelle Kleidung darunter offenbart. Sie war trockener als Isaks, denn Tänzer war nicht vom Regen überrascht worden.
Der Mann strich sich über den langen, grau werdenden Schnurbart, eine einstudierte Bewegung, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war und seine Eitelkeit betonen sollte, und nickte vor sich hin. »Mir fallen nur einer oder zwei ein, die sie ernst nehmen werden. Die Abneigung der Adligen, religiöse Befehle entgegenzunehmen, hat dieses Problem bisher unterdrückt. Wer sich fromm nennt, wird Lordprotektor Torl nacheifern.«
»Lordprotektor Torl ist ein hochrangiges Mitglied der Bruderschaft der heiligen Lehre«, fauchte Isak. »Und da Veck verlangt, dass man ihm erlauben solle, eine religiöse Miliz aufzustellen, mit der er dann die Gesetze durchsetzen will, die ihm gerade passen, beruhigt mich das gar nicht.«
»Lesarl sagte, Ihr hättet mit Torl über die Bruderschaft gesprochen«, antwortete Tänzer geduldig. »Der Orden ist viele Jahrhunderte alt, und seine Mitglieder haben nie versucht, religiöse Gesetze durchzusetzen. Lordprotektor Torl ist einer Eurer treuesten Untertanen. Und vor allem ist er ein Soldat der Farlan, und das steht über allem, seinem Titel, seiner Dynastie, sogar noch über den Dunklen Mönchen. Mein Lord, ihn anders zu behandeln als einen solchen Untertan, das würde ihn schwerer treffen, als es Eolis vermöchte, und ihm zudem den Boden unter den Füßen wegziehen.«
»Darum ist er ein Hauptpunkt im Streit um Herzog Certinses Gerichtsverhandlung«, mischte sich Lesarl mit einem Mal von Isaks linker Seite aus ein. Er stieß sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte, und trat hinter die Sitzenden. »Die Synode verfügt über eine eigene Macht und das wissen die Mitglieder auch, aber sie sind sich ebenso darüber im Klaren, dass sich keine Gruppe bei den Farlan gegen die Adligen stellen kann. Sie fordern zwar aus unterschiedlichen Gründen, den Certinses selbst den Prozess machen zu dürfen, aber Kardinal Veck glaubt nicht, dass er damit durchkommt. Es ist von allen Beteiligten bemerkt worden, dass sich der in seinem Glauben so tadellose Lordprotektor Torl nicht für ihn ausgesprochen hat.
»Gebet«, sagte Isak, was den Priester ruckartig von Lesarl zu Isak schauen ließ. »Wie ist die Stimmung unter den Klerikern? Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er die Leute umstimmen könnte, wenn Veck seine Forderungen noch länger vorträgt.«
Der Priester atmete durch, bevor er antwortete. Lesarl hatte Gebet als gnadenlos sachlichen Denker beschrieben, darum musste es für den Mann schrecklich sein, dass der Zorn der Götter seinen Geist trübte.
»Wir erleben einen Nachhall von der Wut der Götter, ein Echo ihrer Gefühle sozusagen. Es begann mit einer gedankenlosen Mordgier in den Nächten nach dem Fall Screes und obwohl das schnell überwunden war, halten die Auswirkungen noch immer an.« Er zögerte, blickte sich um und fuhr dann ernst fort: »Ihr müsst bedenken, dass die Götter unsterblich sind. Sie haben Gefühle, aber diese unterscheiden sich von denen der Menschen. Die ihren sind ungleich mächtiger – solch starke, von den Göttern ausgestrahlten Gefühle können den Geist ihrer Kleriker auf Dauer verändern, selbst wenn die Götter sich schon wieder beruhigt haben. Ich schlage vor, davon auszugehen, dass die Fanatiker in der nahen Zukunft nicht zurückstecken werden.«
»Dann seid ihr, du und deinesgleichen, also für dieses Jahr meine Feinde?«
Isak sprach die Worte gedankenlos aus, aber Gebet wirkte beschämt, als er antwortete: »Ich fürchte ja, mein Lord, aber ich werde nicht der Einzige sein, der sich bemühen wird, das zu ändern. Ich hoffe, dass wir nur ein unbedeutendes Hindernis darstellen werden.«
Betroffenes Schweigen breitete sich aus und hielt erst eine, dann sogar zwei Minuten an. Selbst Bürger erschien gedankenverloren und bemerkte das Stühlerücken, das von unten heraufklang, nicht.
Isak trat ans Fenster zur Straße und spähte durch den halb geschlossenen Laden. Der erste Schnee des Winters war von feuchtem Regen ersetzt worden, der auf den Dächern schimmerte. Von dem dünnen, weißen Tuch, das die Stadt noch vor wenigen Tagen bedeckt hatte, gab es keine Spur mehr. Aber Isak spürte den Schnee noch in der Luft, das eisige Stechen auf seiner Wange. Er vermutete, es würde ein strenger Winter werden.
In diesem Jahr können wir nicht auf Lomin marschieren, dachte er, und die Ereignisse des letzten Jahres erschienen ihm mittlerweile wie lang vergangene Geschichte, beinahe unwirklich. Hoffen wir, dass die Elfen zu dem gleichen Schluss kommen. Vesna ist der Meinung, wir hätten sie im letzten Jahr hart genug getroffen, um uns etwas Zeit zu erkaufen. Aber wie lang wird das währen?
Er sah auf die Straße hinab, deren Steine der Regen vom Schmutz des Tages saubergewaschen hatte. Der Regen und die Kälte konnten die Arbeit am Hafen nicht behindern. Tirahs Händler waren entschlossen, möglichst viele Güter in die kalten Lager unter der Stadt zu bekommen, bevor der Winter die Stadt wieder belagerte. Er glaubte kurz, eine Gestalt im Schatten gesehen zu haben, nicht einmal deutliche Umrisse, aber doch genug, dass Isak der Atem stockte.
Ihr Götter, spielt mir meine Vorstellungskraft einen Streich? Ich habe nichts gesehen, ich fühle nichts, und doch … und doch ist da wieder dieser Geschmack in meinem Mund, der mich an den Tempelplatz in Scree erinnert, als ich die Schnitter aufspürte.
Er biss sich nervös auf die Lippe, die auch zu bluten begann. Ihr Götter, was habe ich angerichtet, als ich sie beschwor?
Er schüttelte das flaue Gefühl ab. Damit konnte er sich jetzt nicht befassen. Seine Träume waren in letzter Zeit düster genug gewesen, sogar jene, in denen Xeliath seinen Geist berührt hatte. Der Himmel war ihm dunkler erschienen, der verschwommene Horizont bedrohlicher. Wenn sie nicht da war, fand er sich auf einer leblosen Ebene wieder. Der Boden war verbrannt und rauchte, fühlte sich aber kalt an. Er wusste, dass noch andere da waren, aber er konnte niemanden sehen. Der Wind peitschte aus dem Boden hervor, versuchte ihn wie einen Drachen in die Luft zu heben. Aber gleichzeitig wurde er nach unten gezogen, zur Erde, die wie frisch gepflügt aussah. Wenn er nach einem solchen Traum erwachte, musste er sich zusammenreißen, um sich nicht der Einsamkeit zu ergeben, sich zusammenzurollen und die Decke über sich zu ziehen. Er hatte schon sein ganzes Leben lang seltsame Träume gehabt, von denen einige nicht einmal wirkliche Träume gewesen waren, und diesen neuen Träumen haftete jetzt die gleiche Eindringlichkeit an wie seinen Visionen von Lord Bahls Tod.
Er nahm sich zusammen und wandte sich wieder dem Raum zu. »Du willst also damit sagen, ich solle die Anträge und Unterredungen mit einem herrschaftlichen Befehl beiseitewischen?« Er versuchte seine Züge im Zaum zu halten, damit sich kein gequälter Ausdruck hineinschlich. »Lesarl riet mir das Gegenteil. Er glaubt, dass ich damit nur noch größeren Widerstand hervorrufe.«
»Damit liegt er falsch«, sagte Bürger geradeheraus.
Isak blickte zu der dunklen Gestalt des Haushofmeisters hinüber, der hinter seinen Gefolgsleuten stand. Er lächelte Lesarl matt an. »Eines der vielen unangenehmen Dinge bei meinem Haushofmeister ist dies, dass er von schlaueren Leuten als mir für sehr schlau gehalten wird.«
»Ich bezweifle nicht, dass er Recht hat mit dem, was er da sagt, aber er liegt sicher falsch bei dem, was zu tun ist«, sagte Bürger nachdrücklich.
»Ich vermute, das wird seine Befürworter ebenso beruhigen wie seine Feinde. In den letzten beiden Wochen wurde mir einerseits vorgeschlagen, ich solle ihn zum nächsten Herzog von Lomin machen und andererseits geraten, ich müsse ihn wegen Bestechlichkeit in den Kerker werfen. Ich schwanke noch, was den Titel angeht. Ich bin nicht sicher, dass er den Stammbaum hat, den ich bei meinen Herzögen sehen will.«
»Ja, mein Lord«, sagte Bürger ohne den passenden, unterwürfigen Ton, der deutlich machte, dass sie nicht vorhatte, sich von Isaks übernatürlicher Ausstrahlung einlullen zu lassen. Einige Leute lachten unvermittelt und in den seltsamsten Situationen mit Isak mit. Aber sie war auf ihn vorbereitet. »Lesarl hat Recht damit, dass Ihr dabei machthaberisch wirken werdet, und das ist eine schlechte Art, seine Herrschaft anzutreten. Sie hätten es bei Lord Bahl hingenommen, aber Euch kennen sie noch nicht.«
»Also?«
»Es ist doch vollkommen gleich.«
Isak lachte auf und wandte sich dem Rest des Gefolges zu. Bürgers Ausdruck war unbewegt, sie scherzte nicht. Nur Gebet zeigte eine Regung, er presste die Lippen noch stärker zusammen.
»Bürger hat auf ihre erfrischende Art Recht«, mischte sich Tänzer ein. »Die Priester machen sich keine Freunde. Mehr Leute besuchen die Hohe Messe, aber das ist wohl eher der Scham geschuldet und wird sich wieder ändern, wenn die Leute es leid sind, sich an ihre Sünden erinnern zu lassen. Ich weiß von der Akademie der Magie, dass die Magier die Nase schon so gut wie voll haben.«
»Wer will es uns verdenken?«, blaffte Beschwörer. »Nachdem man uns in den letzten beiden Wochen fünfzehnmal die Zusammenarbeit mit Dämonen vorgeworfen und achtundzwanzigmal der Unschicklichkeit und Gottlosigkeit angeklagt hat? Die Kardinäle haben uns den Krieg erklärt.«
»Teil dem Erzmagier mit, er solle sich zügeln und nicht sofort zurückschlagen«, sagte Lesarl eindringlich. »Wir können jetzt keine Kampfmagier brauchen, die sich herausfordern lassen – oder andere, weniger offensichtliche Arten der Rache. Einige deiner Brüder haben ebenfalls Larats verdrehten Sinn für Humor.«
»Und es schadet dem Reich nicht, wenn die Priester sich auch noch über etwas anderes beschweren können«, stimmte Tänzer zu. »Es wird lange dauern, bevor sich die Menschen gegen die Magier wenden, dafür ist ihre Angst vor ihnen zu groß. Die Akademie soll ihre Mitglieder anweisen, sich für den Augenblick zurückzuhalten.«
»Lesarl, wann kann die Verhandlung frühestens beginnen?«
Der Haushofmeister zuckte die Achseln. »In vier oder fünf Tagen. Man muss bestimmten Förmlichkeiten Genüge tun, aber die Beweise sind gesammelt, also ist der Richter bereit. Es gibt für die Verteidigung verschiedene Möglichkeiten, die Sache hinauszuzögern, aber auch das hat seine Grenzen.«
»Gut, dann verkünde den Tag des Prozesses und arrangiere ein geheimes Treffen mit den Herzogen von Merlat und Perlir.«
»Werdet Ihr dort auch Eure Wahl für Lomin offenbaren?«
»Ja, ich möchte, dass Lokan und Sempes gegebenenfalls Widerspruch einlegen können. Ich mache mir auch so schon genug Feinde, da sollte ich lieber mit den beiden mächtigsten Leuten ver…« Da flammte ein Funke in Isaks Geist auf und brachte ihn mitten im Wort zum Verstummen. Magie sickerte durch den Raum, tanzte prickelnd und suchend über seine Haut. Er blickte zu Beschwörer hinüber, aber die Frau zeigte keine Regung. Ein Schauder lief wie bei der Berührung eines Mädchens über seinen Rücken, und eine Stimme flüsterte in sein Ohr: Isak.
Instinktiv wandte er sich wieder dem Fenster zu. Xeliath, das junge, dunkelhäutige Mädchen, das mit seinem zerschlagenen Schicksal verbunden worden war, befand sich dort draußen. Offenbar hatten Morghien und Mihn Erfolg gehabt und sie nach Tirah gebracht, bevor ein anderer Spieler dieses Mächtereigens sie finden und töten konnte. Lesarl bemerkte die Bewegung seines Lords und warf ihm einen fragenden Blick zu. Isak nickte.
»Sie ist hier, kurz vor der Stadt«, murmelte er.
Die Gesichter der Anwesenden legten Zeugnis darüber ab, dass ihnen Lesarl von dieser Angelegenheit noch nicht berichtet hatte. Isak stellte sich ihre Reaktion vor und brachte auf diese Weise etwas Ähnliches wie ein Lächeln zustande.
Er ging zur Tür und sagte dabei: »Diejenigen von euch, die Interesse daran haben zu erfahren, wie meine Außenpolitik aussehen wird, hören sicher gern, dass ich soeben eine weitere Schwierigkeit eingebaut habe.« Er blieb an der Tür stehen, Lesarl auf dem Fuße, und wandte sich an das Gefolge. »Heute Nacht trifft ein neuer Gast im Palast ein, eine junge Weißaugenfrau.«
»Und warum hat das Auswirkungen auf die Außenpolitik des Reiches?«, fragte Tänzer und sprach damit die Frage aus, die auch den anderen sichtlich auf den Lippen lag.
»Ihr Vater hat ihren Aufbruch nicht eben gebilligt … und er ist ein Lord – einer von unseren nicht so freundlichen Nachbarn, namentlich von den Yeetatchen.«
Er ließ ihre Einsprüche und Fragen im Raum hinter sich zurück. Die schmale Treppe, auf die er trat, wurde nur von dem spärlichen Licht erhellt, das von unten heraufschien. Es stammte von einer einzigen Lampe, die den Gang im ersten Stock und die drei Türen darin kaum aus der Dunkelheit befreite. Die Türen der beiden Schlafsäle standen offen. Im Vorbeigehen warf er einen Blick hinein und sah den üblichen Plunder der Arbeiter, Tuchbeutel sowie einen Öltuchmantel, und roch den durchdringenden Gestank nach Schweiß und Dreck.
Am Ende des Flurs führte eine zweite Treppe ins Erdgeschoss hinab. Sie war etwas zu schmal für seine breiten Schultern, darum musste er sich seitwärts wenden, um sie hinabzusteigen. Am Fuß der Treppe hielt Bürgers älteste Tochter Wache. Das Mädchen, das ähnlich gebaut war wie ihre Mutter, hörte seine Schritte und öffnete die Hintertür, die etwas verzogen war und wegen der seltenen Nutzung klemmte, so dass sie ihr einen Stoß mit der Schulter geben musste.
Isak wusste, dass sie ein langes Messer im Ärmel verbarg, und zwar kein einfaches Küchenmesser, aber die Klinge kam nicht zum Einsatz, als er hinaustrat und die Straße hinuntersah. Die andere Tür, auf der rechten Seite, führte in den Schankraum – Isak konnte ein Streitgespräch auf der anderen Seite hören – aber sie war verschlossen und verriegelt.
Isak wartete nicht auf Lesarl, sondern zog sich die Kapuze tief ins Gesicht und trat vorsichtig auf die Straße hinaus. Bürgers Tochter hatte sich vermutlich schon umgesehen, aber das beruhigte Isak wenig, denn das, wonach er suchte, hätte sie nicht bemerkt, geschweige denn etwas dagegen unternehmen können. Mit zwei Schritten war er an der Häuserecke angelangt und konnte aus dem Schatten um die Taverne herum die ganze Straße einsehen, die jedoch leer war. Seine scharfen Augen und Ohren bemerkten nichts Ungewöhnliches, nur das gelegentliche Tropfen von Wasser.
Mit dem Einbruch der Nacht war es kälter geworden, und so lag eine glasige Schicht auf den Pflastersteinen. Der Regen des Tages war einem leichten Nebel in der Luft gewichen, der das gelbe Mondlicht des hochstehenden Alterrs auffing. Isak wollte sich eben in Bewegung setzen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Er sah nach links, den Weg entlang, den er nach Hause hatte einschlagen wollen, da die Straßen nun leer waren. Gut hundert Schritt von ihm entfernt, stand etwas im Dunkeln.
Ein ungutes Gefühl nahm ihn in Beschlag. Es war kein Mensch, der dort stand. Der Körper war vollständig schwarz, im Nebel beinahe unsichtbar, trotzdem konnte er erahnen, dass es auf allen vieren stand. Erinnerungen an den Tempelplatz von Scree erschienen vor seinem inneren Auge, von dem grausamen Gemetzel im Feuerlicht, das vom Brennenden Mann ausgegangen war und die schrecklichen Gestalten um ihn herum und in der Ferne beleuchtet hatte, an die lauernde, gebückte Gestalt des Großen Wolfes.
Isak konnte jetzt wenig mehr ausmachen als einen Umriss und glühende Augen in der Dunkelheit. Das Mondlicht erreichte die Gestalt nicht, und der Nebel verbarg sie. Der schwarze Hund, mochte Isak ihn sich auch nur einbilden, bewegte sich nicht. Er stand einfach da und starrte Isak mit gespenstischem Blick an.
»Mein Lord?«
Isak erschrak so sehr, als die Frage erklang, dass sein Herz kurz aussetzte, bis er erkannte, dass es doch nur Lesarl war, der hinter ihm stand und ihm einen fragenden Blick zuwarf.
»Seht!«, sagte Isak rasch und wies die Straße entlang. Aber als er selbst wieder dorthin sah, wo der schwarze Hund gestanden hatte, blieben ihm die weiteren Worte im Hals stecken. Die Straße war leer und lag still da. Isak starrte auf die Stelle, suchte mit den Blicken dann vergeblich die Straße ab.
»Was ist da?«, fragte Lesarl, während er Isaks Fingerzeig folgte, der die Hand noch immer erhoben hielt.
»Ich … ich bin nicht sicher«, gab Isak zu. »Da war …« Er verstummte. Ich dachte, ich hätte einen gespenstischen Hund dort gesehen. Aber das waren keine Worte, die er an seinen Haushofmeister richten wollte. Eilig öffnete Isak seine Sinne für das Land und breitete sie aus. Vom Geschmack des Frostes und dem Schlamm in der Luft abgesehen, nahm er nur Beschwörer im Raum über sich wahr, ein schwaches Aufflackern von Magie, das stärker wurde, als sie seine Suche wahrnahm. Sonst gab es nichts. Isak sandte seine Sinne so weit er konnte, hoffte etwas zu spüren, das so ähnlich war wie Morghiens Geister, als sie seinen Verstand berührt hatten. Aber er spürte gar nichts.
»Da war?«, wiederholte Lesarl ruhig. Der Mann hatte unter Bahls Herrschaft genug miterlebt, um den Instinkt seines neuen Lords nicht infrage zu stellen.
»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen, aber ich habe mich wohl geirrt«, sagte Isak mit fester Stimme.
»Ihr wirkt aber nicht wie ein Mann, dessen Vorstellungskraft ihm gerade etwas vorgegaukelt hat. Was saht Ihr also?«
Isak funkelte den Mann böse an, aber Lesarl wartete geduldig, bis das Weißauge die Luft ausstieß, mit dem Atem auch den Ärger an die Nachtluft abgab.
»Was soll ich Euch erzählen? Was ich gesehen habe, war verschwunden, als ich wieder hinsah und alles, was dazu fähig ist, ohne dass ich etwas spüre, liegt doch wohl ein bisschen außerhalb Eurer Erfahrungswelt.«
»Das sehe ich ein, mein Lord«, sagte Lesarl und senkte den Kopf. »Aber ich möchte die Last, die sich in Eurem Gesicht widerspiegelt, gern mit Euch teilen. Kein Mann sollte so gehetzt wirken …« Er verstummte, als Isak freudlos auflachte.
»Gehetzt? Ja, das könnte sogar stimmen.« Er trat näher heran und beugte sich vor, um Lesarl in die Augen zu schauen. »Ich träume davon, dass Tod in meinem Schatten wandelt. Schon seit Screes Fall. Ich glaube beständig, dass ich die Schritte der Schnitter am Rand meiner Hörweite wahrnehme. Der Boden zu meinen Füßen bewegt sich, als öffne sich ein Grab vor mir. Ich erinnere mich an den Schmerz, den Aryn Bwr verspürte, als er im Kampf niedergestreckt wurde, und er ist mir so vertraut, dass ich mich sogar danach sehne.«
Er richtete sich wieder auf, und seine Gesichtszüge wurden hart. »Und heute Nacht sehe ich einen schwarzen Hund mit glühenden Augen vor mir auf der Straße, was meine Mutter stets als Omen des bevorstehenden Todes betrachtet hat. Wer wird diese Bürde nun also mit mir teilen?«
Lesarl blickte ihn besorgt an. Für einen Moment sah Isak den Haushofmeister so, wie er eigentlich war: Unter dem berechnenden Äußeren und dem sardonischen Lächeln war Lesarl nur ein Mann mit einer Menge Sorgenfalten im schmalen Gesicht und einem nervösen Zittern, das seinen knochigen Leib vom Scheitel bis zur Sohle erschaudern ließ.
»Wir alle werden Eure Last mit Euch teilen, mein Lord«, sagte Lesarl nach einer Weile und hatte sich wieder im Griff. »Eure Berater, mein Gefolge, die Palastwache, der ganze Stamm. Wenn Tod Euch heimsucht, werdet Ihr nicht alleine sein.«
Isak seufzte. »Nett von Euch, das zu sagen. Ich vermute zwar anderes, aber wenn die Zukunft unveränderlich wäre, wäre ich bereits tot, also habt Ihr vielleicht Recht. Kommt jetzt, es wird Zeit, die Vorbotin unseres neuesten Problems zu treffen. Ihr werdet sie hassen.«
»Die Weißaugen-Tochter eines Lords?«, fragte Lesarl und blickte missbilligend zu Boden, während er neben Isak die Straße entlangging. »Vermutlich habt Ihr damit aber Recht.«