8
Haipar brauchte keine Hilfe dabei, verzweifelt zu wirken. Sie war nicht mehr die Söldnerin, die Gestaltwandlerin, die Führerin. Die Jahre hatten sie schließlich doch eingeholt – und jetzt war sie nur noch ein kaputtes Überbleibsel. Einst hatte sie stolz Asche in ihr Haar geschmiert, aber jetzt war es längst grau, aus natürlichen und unnatürlichen Gründen. Ihre Gliedmaßen, einst muskulös wie Taue, waren nun so dürr wie die eines hungernden Flüchtlings. Nur ihre hervorstechende Nase und ihre Stirn schienen von der Reise und der viel zu kurzen Schwangerschaft nicht in Mitleidenschaft gezogen zu sein. Ilumene war auf der Reise nach Süden sehr nett zu ihr gewesen, was ihn selbst überrascht hatte. Im Gegensatz zu dem verdammten, jammernden Dohle, den er nur zu gern mit Vrenn auf die Reise nach Norden verabschiedet hatte, war Haipar zu zerbrechlich, zu gebrochen gewesen, um Ilumenes Abscheu zu wecken. Es war dem ehemaligen Mitglied der Bruderschaft von Narkang leichtgefallen, seine bösartige Natur zu zügeln. Wenn ihn König Emin eines gelehrt hatte, dann war es die Wichtigkeit der Selbstbeherrschung auf einer Mission.
Haipars Geist war zerstört, sie konnte keinem Gedanken bis zum Ende folgen, aber etwas Unterbewusstes, Urtümliches sorgte doch dafür, dass sie in das Bündel in ihren Armen sah. Als sie das Kind erblickte, zeigten sich Staunen und Angst in ihrem Gesicht. Ihr Sohn blickte zurück, mit einem Lächeln auf den Lippen und Schatten in den Augen – beobachtend, stets beobachtend.
Die Menge um sie herum war in der letzten Stunde angewachsen. Sie war als eine der ersten auf dem großen Platz der Stadt Byora eingetroffen, der dort lag, wo man auf der Hauptstraße das Viertel verließ. Byora war das größte und reichste der vier Viertel in der Runden Stadt. Wie die anderen, die sich an den großen Schwarzzahnberg schmiegten, stand sie unter Selbstverwaltung.
Ilumene nippte an einem schmutzigen Becher mit widerlich süßem Tee und sah seinem Mündel weiter dabei zu, wie sie ihr Kind schützte, als plötzlich Bewegung in die versammelten Bettler kam. Sie hatten sich hier in der – meist vergeblichen – Hoffnung auf irgendeine Arbeit zusammengefunden. Ilumene hatte Haipar gesagt, sie solle dorthin gehen, also hatte sie es getan, aber sie hatte höchstwahrscheinlich keine Ahnung, auf was sie da nun wartete. In ihren Augen zeigte sich kein Erkennen, nur Verwirrung über ein Land, das sie nicht mehr verstand.
Der Platz war durch seine Lage an der Hauptstraße zwischen dem Haupttor zu den oberen Vierteln und dem Gegenstück in der Mauer des Viertels ein sicherer Ort. Ilumene hob den Blick und sah zu den oberen Vierteln hinauf, die sich hinter einer hohen Steinmauer befanden und mit milder Verachtung auf den Rest von Byora hinabsahen.
Die hohen Bauten, von denen das Viertel Acht Türme seinen Namen hatte, waren vor der tief hängenden Schneewolke nur gerade so eben auszumachen. Neben ihnen standen, wie streitende Kinder, die von ihren Eltern auseinandergehalten wurden, die beeindruckenden Gebäude der Viertel Hale und Münze. Im Gegensatz zu Byoras südlichem Nachbarn Ismess, wo religiöse Gesetze herrschten und kein Gebäude höher als der Tempel sein durfte, blickten die acht Türme auf ihre Nachbarn hinab, was die Priester von Hale und die Händlerprinzen von Münze sehr ärgerte. Im Schatten von Schwarzzahn war Höhe ein Vorrecht der Mächtigen, und so stellten die acht Türme eine eindeutige Aussage für alle jene in Byora dar, die von niederer Geburt waren.
Hinter ihnen erhob sich drohend der Berg. Ilumene gelang es nicht, seine Anwesenheit nicht zur Kenntnis zu nehmen. Er war in der Küstenstadt Narkang geboren worden, fernab jeden Berges, und die gezackten, gewölbten Abhänge und die dünnen, schwarzen Spitzen, die aus diesen Abhängen ragten, beunruhigten ihn. Er fühlte sich eingesperrt, und mehr als einmal hatte er sich dabei erwischt, wie er sich von Schwarzzahn weglehnte, als dränge sich der Berg geradezu gegen ihn.
Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken, und als er sich umdrehte, sah er das sich nähernde Gefolge der Herzogin von Byora, Natai Escral. Die roten Roben der Rubin-Turmwache stellten an diesem trüben Tag einen plötzlichen Farbtupfer dar. Man hatte sich um den Schutz der Herzogin gekümmert, das war offensichtlich. Alle hatten davon erfahren, dass die Menin nach Norden auf Tor Salan zumarschierten, und wenn sie die Söldner, die diese große Handelsstadt bewachten, erst besiegt haben und weitergezogen sein würden, war die Runde Stadt der nächste Preis, auf den Lord Styrax’ Blick fiel.
»Und du weißt, dass du nicht annähernd so viele Mann aufbringen kannst wie Tor Salan«, murmelte Ilumene der Herzogin zu, während sie näher heranritt, »obwohl Aracnan und die Narren meinem Befehl unterstehen.«
Er leerte seinen Tee und war dankbar für die Wärme, die er spendete, auch wenn er scheußlich schmeckte, und schob seinen Stuhl ein bisschen nach hinten, damit er kein Hindernis für ihn darstellte, wenn die Zeit kam. »Keine Sorge, Euer Hochwohlgeboren«, murmelte er. »Ich werde dir in Kürze deinen Heiland vorstellen.«
Als die Gefolgschaft der Adligen den Platz erreichte, eilten die Bettler ihr entgegen, die Hände nach Almosen ausgestreckt, und ein wortloses Klagen erfüllte die Luft. Die Straße war im Nu voller zitternder Armer. Es schien fast, als habe der Winterwind ihnen jede Angst vor der Gefahr genommen. Haipar wurde von der Menge mitgerissen. Sie hörte einen Ruf und sah zu einem berittenen Soldaten auf, der auf sie zukam.
»Zurück! Zurück! Aus dem Weg!«, brüllte er und zügelte sein Pferd erst im letzten Augenblick, so dass er die in Lumpen gehüllte Bettlerin doch nicht niederritt. Er bemerkte auch das kleine Bündel in ihren Armen kaum, scherte sich nicht darum. Der Wind fuhr in seinen Mantel und blähte ihn auf, so dass er darunter eine makellose, blutrote Uniform mit goldenem Saum offenbarte, die ebenso bemerkenswert war wie die Waffe an seiner Seite. Die Menge hörte nicht auf ihn, drängte sich gegen die Kälte zusammen und bewegte sich beinahe wie ein einziges Wesen, als diejenigen an der Spitze weiter vorandrängten.
Ilumene lehnte sich vor, beobachtete das Geschehen eindringlich. Der Wind trug einen Geruch herbei, eine sanfte Berührung des Geistes, die er wiedererkannte. Aracnan folgte Ilumenes Anweisung. Der Unsterbliche stand jetzt sicher an einem Fenster, irgendwo in Sichtweite der Menge, nackt und mit dem Kristallschädel in den zitternden Händen. Sein Magen musste vor Hunger knurren.
Ilumene zog seine gefütterte Jacke enger um sich, als die Kälte direkt aus seinen Knochen zu sickern schien. Aracnan hatte seine eigene schlechte Laune und die Unbequemlichkeiten in den Wind gesät, damit sie alle auf dem Platz beeinflussten, und obwohl er darauf vorbereitet war, knurrte auch Ilumene voller Verärgerung auf. Seine Gedanken wanderten nach Narkang zurück, zu dem König, den er einst wie einen Vater geliebt hatte. Doch dann bekam er sich in den Griff und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Menge zu.
Die Veränderung kam sofort. Ilumene, ein Mann, der in der Kunst der Wut sehr bewandert war, spürte die Stimmung noch vor allen anderen kippen. Seine Augen wurden von einem großen Mann auf der linken Seite der drängenden Menge angezogen, der die Zügel des Pferdes neben ihm ergriff. Der Reiter bemerkte seine Bewegung und war schneller, trat nach dem Mann und sandte ihn damit zu Boden. Die Menge wich jedoch nicht zurück, sondern preschte vor. Der Reiter rief um Hilfe, aber die Worte gingen unter, weil beide Seiten nun ein wortloses, hasserfülltes Gebrüll anstimmten.
Die Reiterei erinnerte sich an ihre Ausbildung und kämpfte sich nicht in die Menge vor. Sie hielten die Reihen und waren damit zufrieden, mit den Schäften ihrer Speere auf alle einzuschlagen, die in Reichweite waren. Blut spritzte und Männer schrien auf, fielen zu Boden und wurden dort totgetrampelt. Jetzt erhob sich Ilumene von seinem Stuhl und nahm das noch in der Scheide steckende Schwert in die Hand. Hinter der Kutsche der Herzogin kamen nun zwei Einheiten Fußsoldaten hervorgestürmt.
Brüllend trafen die Soldaten auf die Menge, die ihnen sogar entgegenlief, dann wurde ein halbes Dutzend Bettler – oder mehr — von den schweren Schilden der Soldaten zu Boden geschlagen. Ilumene spannte sich an, die Augen auf Haipar gerichtet, die hin-und hergestoßen wurde und das Kind mit den Armen zu schützen versuchte. Die Stimme der Menge versagte, als sie von den Fußsoldaten zurückgetrieben wurde, und Haipar kauerte sich furchtsam zusammen – um dann plötzlich allein vor den Beschützern der Herzogin zu stehen.
Ilumene war bereits in Bewegung, als ein schriller Schrei erklang. Alle anderen hielten inne, sahen zu, wie sich die drei Soldaten mit erhobenen Waffen der Frau zuwandten. Haipar stand reglos da, im Blick schon den nahenden Tod, da kreischte das Kind in ihren Armen erneut.
Der Laut schien alle anderen erstarren zu lassen, bis Ilumene einen der Soldaten mit der Schulter anstieß und ihn zu Boden warf. Er sah in den Augen des nächsten Mannes Furcht aufblitzen, als er sich in unnatürlicher Geschmeidigkeit weiterdrehte, das Schwert zog, dem Soldaten ins Knie schnitt und sich weiterbewegte. Das Gesicht des dritten Soldaten war wutverzerrt, als er mit dem Speer nach Haipar stieß …
… aber Ilumene war bereits da. Er schlug das Schwert in den Speerschaft und ließ sich von seinem Schwung gegen den Mann tragen. Dann schlug er aufwärts und traf den Mann im Gesicht. Blut spritzte auf seine Wange, und der Soldat fiel. Ein kleiner Mann war der Erste, der handelte, indem er mit eingelegtem Speer und erhobenem Schild auf ihn zulief. Ilumene drehte sich an der Speerspitze vorbei, fing den Schild mit seiner Seite ab und rammte dem Mann dann den Ellbogen gegen den Hals, was ihn zu Boden brachte. Dabei hob er bereits das Schwert, um den Hieb des nächsten Soldaten abzuwehren.
»Halt!« , rief eine Stimme hinter ihm. »Steckt eure Waffen weg.«
Die Soldaten blieben stehen, als habe man ihre Füße am Boden festgenagelt. Ilumene, der beständig den Kopf bewegte, um alle Soldaten im Blick zu halten, trat an Haipars Seite. Dann erst senkte er sein Schwert und sah die Frau an, deren Befehl die Soldaten hatte innehalten lassen. Die Herzogin, die in ihrer offenen Kutsche stand, war eine Frau mittleren Alters mit einem stolzen Gesicht. Sie hatte ihre fellbesetzte Kapuze zurückgeschlagen und zeigte so die vom kühlen Wind geröteten Wangen. Ihr Haar wurde von einem mit Rubinen bedeckten Diadem zurückgehalten. An ihrer Seite saß, so nahm Ilumene an, der Herzog, auch wenn er nur ein Gesicht mit beunruhigtem Ausdruck und ein deutlich kleineres Krönchen entdecken konnte.
»Genug des Blutvergießens«, fuhr die Herzogin etwas leiser fort. Ilumene wartete ab, bis die Soldaten ihre Waffen weggesteckt hatten, bevor er ihrem Beispiel folgte. Er warf Haipar einen Blick zu. Die Frau war auf die Knie gesunken und hatte den Kopf gesenkt, als weine sie – oder bete. Ilumene hielt seine Miene ausdruckslos, damit sich seine Abscheu darüber, was aus der Frau geworden war, nicht zeigte. Sie hatte all ihre Fähigkeiten, ihren Mut, ihre Stärke vergessen. Jetzt war sie wertlos, taugte nur noch zur Amme seines Herrn – und auch das würde sie nicht mehr lange sein. Danach hinge ihr Überleben nur noch davon ab, wie sehr es Azaer nach Grausamkeiten gelüstete.
Ilumene nickte, während er sein Schwert wegsteckte, und als wäre dies sein Stichwort, stieß das Kind einen weiteren Schrei aus. Das herzzerreißende Geräusch reichte aus, um die Herzogin aus ihrer Kutsche zu locken. Es war bekannt, dass sie keine Kinder hatte, was das einfache Volk allein auf ihren schwächlichen Ehemann schob.
Sie war so groß und kräftig wie Haipar gewesen war, als er sie das erste Mal sah, aber davon abgesehen hätten sie unterschiedlicher gar nicht sein können. Ihre Gesichtszüge wirkten fein, hübsch und keines der sandbraunen Haare war am falschen Platz. Sie trug Ohrringe, goldene Spiralen, auf denen weitere Rubine zu finden waren.
»Wie heißt du?«, fragte sie Ilumene, nachdem sie sich an ihren Männern vorbeigeschoben hatte.
»Kayel«, antwortete er zögernd und warf einen nervösen Blick auf den Soldaten, der abgestiegen war, um an ihrer Seite Stellung zu beziehen. »Hener Kayel.«
»Du kommst nicht aus der Runden Stadt, oder?«
»Nein, Canar Thrit«, antwortete er, bevor er sich erinnerte und nachsetzte: »Euer Ehren.« Mist, was für ein dummer Fehler, wenn man versucht, untertänig zu wirken. Hoffentlich denkt sie, ich wäre einfach zu beeindruckt.
»Du bist ein Söldner. Hast du Heuer, oder suchst du nach Arbeit?« Sie hatte eine offene, beinahe freundliche Art. Offenbar war es Ilumene gelungen, sie zu beeindrucken.
Er zuckte die Achseln. »Ich habe für einen Händler gearbeitet, ihn zur Stadt begleitet. Ich sollte ihn später treffen, um über Weiteres zu sprechen, Euer Ehren.«
»Ist es eine gute Arbeit?«
Ilumene zuckte erneut mit den Schultern und senkte den Blick, wartete darauf, dass sie weitersprach. Gute Arbeit, ha! Du hättest erst die Flammen meines letzten Werks sehen sollen!
»Du wirkst, als hättest du deinen Teil an Schlachten gesehen«, sagte die Herzogin und sah auf die grobe Narbe, die von seiner Wange bis zu seinem verstümmelten Ohr verlief.
Ilumene hob die Hand zum Ohr und berührte die Narbe. An seinem Unterarm hatte er sogar für einen Söldner zu viele Verletzungen erlitten, aber diese wurden von den langen, mit einer Kette bedeckten Lederarmschienen verborgen, die er trug. Er hatte jedoch aus einer Laune heraus eine Schnur darum gewickelt, um sich an die Narben zu erinnern.
Er zuckte die Achseln und trug einen gequälten Gesichtsausdruck zur Schau. »Ich stand in einigen Kämpfen auf der falschen Seite, Euer Ehren. Ich brenne nicht darauf, weitere zu erleben, aber ich schätze, ich bin groß genug, um Diebe abzuschrecken.«
»Bist du ein Fahnenflüchtiger?«
Ilumene schüttelte den Kopf und blickte zu Boden, als sei er beschämt. »Kein Regiment mehr übrig, dessen Fahne man fliehen könnte, meine Dame.«
»Und doch hast du nicht gezögert, für ein Kind in Gefahr einzustehen – zudem für eines, das du, nach der Art zu schließen, wie ihr beide gekleidet seid, gar nicht kennst.« Sie musterte ihn nachdenklich.
Ilumene nickte einmal kurz. Das war alles, was Herrscher als Antwort auf ihre Fragen brauchten.
Die Herzogin wandte sich Haipar zu und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Der Soldat hinter ihr brummte missbilligend, aber sie verwarf seine Sorge mit einer Handbewegung. »Fohl, du bist manchmal so eine Glucke! Es ist doch offensichtlich, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann.« Sie hob Haipar vorsichtig auf die Füße. »Bist du verletzt?«, fragte sie.
Haipar blickte sie ängstlich an, ihr Blick zuckte zwischen der Herzogin und Ilumene hin und her, dann schüttelte sie den Kopf.
»Und dein Kind?« Die Herzogin schob das Tuch, das auf dem Gesicht des Säuglings lag, vorsichtig beiseite. Ilumene blieb beim Anblick der engelsgleichen Züge der sterblichen Gestalt Azaers die Luft weg. Er blickte zu der Herzogin auf und verzog den Mund zu einem bezaubernden Lächeln. Ilumene spürte den hypnotischen Blick Azaers sogar aus einigen Schritten Entfernung noch, als die Herzogin tief in seine schattenhaften Augen sah. Ilumene erschauderte bei der Erinnerung daran, wie er das Gleiche zum ersten Mal getan hatte.
»Ich …« Die Herzogin klang verblüfft. »Dein Kind ist wunderschön.«
»Er ist ein Prinz«, flüsterte Haipar. An ihrer eintönigen Stimme war nicht zu erkennen, ob sie verstand, was dieses Wort bedeutete. Sie hatte den Satz immer wieder gehört, bis sie ihn auswendig gelernt hatte und nicht mehr vergessen konnte, auch wenn alles andere ihrem Geist entglitt.
Die Herzogin nickte wie betäubt. Nach einigen Augenblicken blinzelte der Säugling — und der Zauber war gebrochen.
»Ja, in der Tat ein Prinz. Ich habe nie ein schöneres Kind gesehen. Wie heißt er? Wie alt ist er, sechs Monate?«, fragte die Herzogin von Escral mit sanfter Stimme und wirkte nun wie vernarrt.
Haipar schüttelte den Kopf, und Ilumene musste sich zusammenreißen, um ihr keine Ohrfeige zu verpassen.
»Einen Monat alt«, flüsterte sie. »Er heißt Ruhen.«
»Erst einen Monat alt?« Die Herzogin warf Ilumene einen zweifelnden Blick zu, der ihn nur erneut mit den Schultern zucken ließ. »Ich glaube, du hast ein wenig das Gefühl für die Zeit verloren, meine Liebe. Dein Kind ist älter als ein Monat.«
Haipar wollte erneut den Kopf schütteln, aber da fiel ihr Blick auf Ilumene, der sie anstarrte, und sie sank mit gerunzelter Stirn in sich zusammen.
»Bist du sicher?«, fuhr die Herzogin freundlich fort. »Nun, es spielt ja auch keine Rolle. Ich denke, wir werden alle mit dem Alter ein bisschen verwirrter. Komm, steig in meine Kutsche, denn ich könnte nicht mehr schlafen, wenn ich ein so hübsches Kind heute Nacht hungern ließe. Es ist zu kalt und gefährlich auf der Straße für ein so junges Ding.« Sie rang sich ein Lachen ab. »Und wir dürfen nicht vergessen, dass ein einziger Schrei von ihm einen alten Soldaten dazu brachte, sich mit einer Armee anzulegen. Stell dir nur vor, welcher Ruhm auf Ruhen wartet, wenn er erst zu sprechen lernt.«
Größerer Ruhm, als du dir vorstellen kannst, Schlampe, dachte Ilumene. Es wird dir noch leidtun, dass du diese Worte so unbedacht sprachst. Wenn du deinen Zweck erst erfüllt hast, wird deine einzige Freude darin bestehen, dass ich dich auf deinem Thron ficke, und dieser Schlappschwanz von Herzog sieht dabei zu, während er zu unseren Füßen sein Leben ausblutet. Und dann wirst du dich zu ihm gesellen …
»Hauptmann Fohl, vielleicht habt Ihr für jemanden, der so gut kämpft wie Meister Kayel, einen Platz in der Wache? Ich bin sicher, dass wir eine bessere Bezahlung bieten können als die meisten Händler. Er hat sein Können bereits unter Beweis gestellt.«
Sie winkte nachlässig zu den gefallenen Soldaten hinüber. Einer war offensichtlich tot, die anderen beiden noch immer ohnmächtig.
Der Hauptmann war von der Idee, einen unbekannten Söldner in seine Truppe aufzunehmen, sichtlich nicht begeistert, aber er war zu schlau, um mit seiner Herrin darüber zu streiten. Wenn sie einen Entschluss gefasst hatte, gab es keine Diskussionen mehr.
»Ich wage zu behaupten, dass wir schon irgendwo eine Uniform finden werden, die ihm passt«, grollte Fohl. Er war ein drahtiger Mann, über vierzig Winter alt, mit blondem Haar, das langsam grau wurde. Das Gelb seines linken Auges war getrübt.
»Was sagt Ihr dazu, Meister Kayel?«, fragte die Herzogin. »Der Rubinturm braucht mehr Wachen als die meisten Händler, und auch dort wird es Euch zum Vorteil gereichen, dass Ihr grimmig genug ausseht, um Diebe abzuschrecken.«
Ilumene blickte zu Boden und gab vor, sich unwohl zu fühlen. »Ich schätze, das schaffe ich wohl«, sagte er schließlich und erntete dafür einen tadelnden Blick von Fohl, der offenbar dachte, er habe den Sieg über die Wachen dem Glück und nicht seinen Fähigkeiten zu verdanken.
Du bist ganz offensichtlich ein Litse, dachte Ilumene, während er die Zügel entgegennahm, die ihm einer der Reiter hinhielt. Gelbes Haar, gelbe Augen und so arrogant wie sonst was. Ich wage zu behaupten, dass du eine Uniform finden wirst, die mir passt, aber ich denke, ich nehme lieber deine. Selbst mit zwei gesunden Augen wirst du mich nicht kommen sehen.
Eine Einheit der Fußsoldaten blieb zurück, um die Verletzten zu versorgen. Ilumene hielt den Blick auf die Straße vor ihnen gerichtet und warf der Menge nur einmal kurz einen Blick zu. Er fand das gesuchte Gesicht mit Leichtigkeit. Es gehörte einem Mann mit verkniffenem Ausdruck und vernarbten Wangen, die von einer Kinderkrankheit zeugten. Während sie vorbeitrabten, trug der Wind kurz die Stimme des Mannes an Ilumenes Ohr, und obwohl er zu leise sprach, als dass Ilumene ihn richtig verstehen konnte, wusste er doch, wie seine Worte lauteten.
Das Weinen eines Kindes ist alles, was nötig ist, um aus einem Feigling einen Helden zu machen.
Legana lehnte sich über den Balkon aus poliertem Holz hinaus und blickte auf die Straße hinab. Der Winterwind machte ihr nichts aus. Das war eine unbedeutende Unannehmlichkeit, wenn man eine so prächtige Unterkunft hatte. Sie hob ihr Glas und prostete dem Viertel im Allgemeinen zu, dann trank sie den Rest des angewärmten Weines in einem Zug.
»Wenn doch nur jeder Auftrag so angenehm wäre«, seufzte die Farlan-Spionin und wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich nehme an, dass es Haushofmeister Lesarl nicht gerne sieht, dass ich hier nur herumfaulenze, bis Zhia zurückkommt, aber er kann wenig dagegen tun, oder? Also, er kann mich mal!«
Sie richtete sich auf und zog ihre Ärmel zurecht. Sogar nach mehreren Monaten des Unterrichts bei Zhia Vukotic war Legana noch immer weit von dem entfernt, was Zhia für eine Adlige als angemessenes Verhalten betrachten würde. Die Kleider waren etwas für Frauen – und Legana dachte von sich nicht als Frau. Aber die aufmerksame Vampirin hätte dennoch eine Verbesserung im Schnitt ihrer Kleidung festgestellt. Das Messer in ihrem Stiefel und die Kurzschwerter an ihrem Gürtel waren natürlich noch immer an Ort und Stelle.
»Aber wie vertreibst du dir die Zeit, während du wartest?« Die Frauenstimme erklang aus dem Zimmer hinter ihr.
Legana fluchte. Der Raum war leer gewesen, und sie hatte von innen abgesperrt. Sie glitt leise zur Seite und verzog das Gesicht, als sie dabei ihr Glas vom Balkon stieß. Sie wandte sich dem Neuankömmling in einer fließenden Bewegung zu und zog dabei die Schwerter.
»Das ist unnötig«, fuhr die Frau fort und klang amüsiert. Sie trat vor und bedeutete Legana, sie solle die Waffen senken. Ein Schauer durchlief Leganas Arme, bis sie erschlafften. Die Waffen entglitten ihren Händen und fielen zu Boden. Als die Frau näher kam, wurden ihr langes, rotes Haar und ihre verstörend grünen Augen vom schwachen Tageslicht beleuchtet.
»Ihr Götter!«, keuchte Legana, vor Schreck ganz kurz wie erstarrt, dann sank sie auf ein Knie. »Dame.«
»Nur eine von uns, aber endlich hast du es doch begriffen.«
Legana spürte Schicksals prüfenden Blick auf sich.
»Ach, erhebt euch, Mädchen. Kriecherei steht uns beiden nicht gut zu Gesicht.«
Legana gehorchte, hielt den Blick aber gesenkt, während sie verzweifelt versuchte, sich an die Lektionen aus ihrer Kindheit zu erinnern. Sie alle hatten es für einen großen Spaß gehalten, als die Tempel-Herrin ihnen die Etikette für die Anrede ihrer Göttin beigebracht hatte, aber jetzt wünschte sich Legana eindringlich, sie hätte besser aufgepasst. Als ihr Blick auf ihre Kurzschwerter am Boden fiel, wallte Scham in ihr auf, und sie versuchte, sie mit dem Fuß hinter einen Vorhang zu schieben.
»Mach dir deswegen keine Gedanken«, sagte die Dame. »Warum holst du mir nicht ein Glas Wein?«
Legana war selbst überrascht, wie eifrig sie der Bitte nachkam.
»Und wie es aussieht, brauchst auch du ein neues Glas«, rief Schicksal ihr vom Balkon aus zu.
Legana sah sich um. Die Göttin lehnte sich über den Balkon, sah hinab und warf – ausgerechnet sie! – jemandem, der von unten hochrief, einen Handkuss zu. Da draußen gab es nichts, was für eine Göttin von Belang wäre. Es war nur eine Nebenstraße in Münze, dem Viertel der Stadt, in dem alle Geldgeschäfte abgeschlossen wurden. Es gab hier keine Tempel – nicht einmal für Schicksal, die Göttin des Glücks mit den vielen Namen. Das war der Grund dafür gewesen, dass Zhia Vukotic gerade hier ein Zimmer beziehen wollte.
Oh, Pisse und Dämonen, dachte Legana. Hat das Glas jemanden getroffen? Rasch eilte sie zu ihrer Herrin auf den Balkon und reichte Schicksal, etwas zögerlich, ihren Wein.
»Ah, danke.« Schicksal nippte mit einem Schmunzeln am Wein und ließ sich auf einem Stuhl nieder. Nach einem Augenblick bedeutete sie Legana, sich auf den anderen zu setzen. Legana tat es auch und kam sich neben der Göttin, die sich so geschmeidig wie ein Seidentuch im Wind auf dem Stuhl niedergelassen hatte, ungelenk und grobschlächtig vor. »Ich glaube, du bist der Grund dafür, dass sich ein junger Mann auf der Straße einnässte«, sagte sie plötzlich. »Hat die Vampirin dich nicht aufgefordert, unauffällig zu bleiben?«
Hol mich der Dunkle Ort, sie ist wegen Zhia hier, dachte Legana voller böser Vorahnung. Ich bin tot … tot und verdammt.
»Sie, äh, ich …« Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, als Schicksal eine wegwerfende Handbewegung machte, und Leganas ganzer Körper erstarrte, ganz wie bei einem Hund, der auf einen Befehl seiner Herrin hört.
»Ich bin nicht wegen der Vampirin hier, nicht grundsätzlich jedenfalls«, sagte sie nach einer Weile.
»Warum dann?« Legana versuchte, sich ihre Neugier und Angst nicht anmerken zulassen.
Die Göttin lachte sanft, was eisige Schauder über Leganas Rücken wandern ließ. »Ich bin hier, um das zu tun, was ich am besten kann: dich vor eine Wahl zu stellen.«
»Eine Wahl? Mich?« Leganas überraschter Blick amüsierte Schicksal umso mehr. »Warum? Vor welche Wahl solltet Ihr mich stellen? Ich bin eine Anhängerin Eurer Kirche, ich gehorche Euren Befehlen.«
»Ach, komm schon, du warst nie eine sonderlich fromme Frau, oder? Ich glaube nicht, dass eine göttliche Offenbarung angebracht wäre.«
In Schicksals Stimme lag kein Zorn, trotzdem erzitterte Legana und musste gegen den Drang ankämpfen, sich auf die Knie zu werfen. Sie wusste, dass Götter diese Wirkung auf Sterbliche haben sollten, aber es am eigenen Leib zu erfahren, war sehr verstörend. Es gab nicht viel im Land, vor dem sie Angst hatte, und sie war zu einer der besten Meuchlerinnen ausgebildet worden. Dennoch reichte der kleinste Hauch eines Lächelns ihrer Herrin, damit es ihr kalt den Rücken hinunterlief.
»Ich befürchte, ich verstehe nicht ganz, meine Dame.«
»Ich habe einen Auftrag für dich, das stimmt schon, aber zuerst habe ich noch einen Vorschlag zu unterbreiten.« Die Dame lehnte sich mit einem Mal vor, und Legana zuckte unwillkürlich zusammen. Dann nahm sie der Blick dieser erstaunlich grünen Augen Schicksals wieder gefangen.
Sie erinnerten sie an einen Freund, der einmal Würfel gewonnen hatte, auf denen die Augenzahlen von Smaragden gebildet wurden. Eine Woche später bot er ihr all das gewonnene Geld, allein dafür, dass sie ihm die Würfel abnehmen möge. Nur wenige Sterbliche überlebten ein solches Glück lange.
»Du warst in Scree, hast gesehen, was dort geschah.«
»Ich habe es gesehen, aber ich habe es nicht verstanden«, gab Legana zu und hielt dem Blick der Dame nicht länger stand, auch wenn ihre Augen trotzdem immer wieder davon angezogen wurden.
»Die Götter wurden für eine Zeit aus der Stadt vertrieben. Die Einwohner wandten sich gegen uns.« Schicksal flüsterte – und jetzt war jede Spur eines Lächelns von ihrem Gesicht verschwunden. »Wir wissen, dass es nie dafür gedacht war, lange anzuhalten. Aber der Vorfall beunruhigt uns, sagen wir es mal so.«
»Und der Eifer?«, fragte Legana vorsichtig, denn sie wusste nicht, wie die Göttin auf diese Frage reagieren würde. »Ich habe gehört, dass einst sanfte Priester jetzt Feuer und Schwefel predigen, dass manche davon auch schon zu Gewalttaten getrieben wurden.«
»Ich bin in dieser Sache zurückhaltend«, sagte die Dame mit einem scharfen Blick. »Aber andere sind zum ersten Mal seit den Tagen des Großen Krieges über die Maßen erzürnt. Einigen Angehörigen des Höheren Kreises wurde Schaden zugefügt, und sie drängen auf Rache.«
Legana erschauderte. Das klang ernstlich besorgniserregend. »Und was kann ich tun, meine Dame?«
»Ich habe einen Handel vorzuschlagen«, sagte Schicksal. »Die Fehler der Vergangenheit sollten nicht wiederholt werden. Unser größtes Versäumnis im Großen Krieg war es, am Anfang nicht gut genug aufgepasst zu haben. Unsterbliche sind nicht für die einfachen Dinge eines sterblichen Lebens geeignet, und doch ist genau dies der Ort, an dem in Kürze die Schlachten geschlagen werden.«
Die Göttin hielt inne und musterte Leganas Kleidung, die im Vergleich zu Schicksals dunkelgrünem Kleid, das sie in einer Brise, die Legana nicht spürte, wehend umschlang, noch schäbiger aussah. Dann sagte sie: »Ich möchte, dass du dich mit mir verbindest. Sonst greife ich selten auf Priester oder heldenhafte Streiter zurück, aber ich glaube, dass dies – und noch mehr – nun notwendig sein wird, wenn wir in den kommenden Schlachten nicht ins Hintertreffen geraten wollen.«
»Die kommenden Schlachten? Und was meint Ihr damit, dass ich mich mit Euch verbinden solle?«
Schicksal zögerte. »Wir haben das Zeitalter der Erfüllung erreicht, und ich kann noch nicht sehen, was geschehen wird. Es gibt so viele Möglichkeiten, und die Auseinandersetzungen sind sich so ähnlich. Ein dunkles Omen erwächst aus dem nächsten. Es gibt keinen einzelnen Feind, sondern es gilt, einen Wirbelsturm des Möglichen zu entwirren, zu verstehen und zu verzeichnen. Die Götter haben sich entzweit. Sie verfolgen unterschiedliche Ziele und sind nicht bereit, sich ihre Gefolgsleute zu teilen – es wird nie dazu kommen, dass Nartis ein Menin-Heer befehligt oder dass Tod durch die Straßen einer Stadt marschiert, um zu ihrer Verteidigung die Ärmsten hinter sich zu sammeln. Die Taten des Großen Krieges haben uns in mehr als einer Hinsicht gebrochen.
Und sich mit mir zu verbinden bedeutet genau das. Ich bin vermutlich die Erste meiner Art, die so ein Angebot unterbreitet, aber wohl kaum die Letzte.« Sie holte eine feine, goldene Kette erlesenster Handwerkskunst hervor, die mit Smaragden besetzt war. »Wir Götter brauchen sterbliche Handlanger von einer gänzlich neuen Art. Legana, ich biete dir eine Chance, ein Teil von mir zu werden – meine Macht mit mir zu teilen und in meinem Namen zu handeln.«
»Ihr wollt mich zu Eurer Erwählten machen?«, fragte Legana atemlos. Sie hätte sich niemals träumen lassen, dass ihr so etwas zuteilwerden könnte, nicht in tausend …
»Nichts so Jämmerliches«, sagte die Dame verächtlich. Sie hielt Legana die Kette nicht hin, obwohl sie doch offensichtlich Teil des Handels war. »Ich will, dass du ein Teil von mir wirst, nicht meine Dienerin. Ich möchte, dass du ein sterblicher Aspekt meiner selbst sein sollst. Du wirst mit meiner Macht und Befehlsgewalt ausgestattet das Land bereisen.
Wenn du diese Kette umlegst, wirst du zu einem Aspekt von Schicksal, nicht länger nur sterblich sein, aber auch nicht gänzlich göttlich. Ich brauche einen sterblichen Geist, um zu erkennen, was mir verborgen bleibt, einen sterblichen Körper, um zu fürchten, was ich sonst nicht beachten würde.« Sie sah Legana mit Trauer im Blick an. »Meine Liebe, dies wird keine einfache Entscheidung. So etwas ist nie zuvor getan worden, und ich kann auch nicht mit ruhigem Gewissen behaupten, dass ich genau wüsste, was tatsächlich geschehen wird. Aber lange warten kann ich nicht. Ich gebe dir bis zur Dämmerung Zeit, um deine Entscheid …«
»Das ist nicht nötig«, sagte Legana mit plötzlicher Zuversicht. »Meine Dame, ich nehme an.«
Schicksal warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, aber diesmal senkte Legana die Augen nicht. Ihr Blut hatte zu rasen begonnen. Sie war von Geweihten der Dame aufgezogen worden und hatte stets nur Freundlichkeit erfahren. Sogar die Bestrafungen für Fehlverhalten waren im Vergleich mit dem, was sie über die Züchtigungen gehört hatte, die Novizen in anderen Klöstern und Tempeln erleiden mussten, nachgiebig gewesen.
Am Tag, als sie den Tempel verlassen hatte, hatte Legana erkannt, dass die strenge Hand der Geweihten ihr stürmisches Gemüt gezügelt und sie zu einer besseren Frau gemacht hatte. Sie schuldete ihnen – und ihrer Göttin – eine Menge, und sie würde der Dame auf jede erdenkliche Weise dienen.
Und Legana war schlau genug zu erkennen, dass sie niemals ein besseres Angebot erhielte. Es war mehr, als sie sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte.
»Bist du sicher?«, fragte Schicksal. »Dies ist nichts, was man leichtfertig tun sollte, und ich möchte mich nicht an jemanden binden, der es nicht wirklich will.«
»Ich bin sicher«, sagte Legana und blickte der Göttin direkt in die Augen, denn ihre Angst war verschwunden. »Nur in Eurem Tempel hatte ich jemals den Eindruck, ich würde dazugehören – etwaige Mängel an Frömmigkeit erwuchsen bloß aus dem Gefühl, dass ich unwichtig, Eurer nicht würdig sei. Ich werde mein Volk oder meinen Lord nicht hintergehen, aber ich wünsche mir mehr zu sein als die Spionin eines Mannes, den ich kaum kenne.
Ich nehme also Euer Geschenk an und zahle den Preis, den es verlangt.«
Schicksal musterte die junge Frau und dann lächelte sie plötzlich strahlend. »Ich habe eine gute Wahl getroffen. Also, hör mir zu, bevor du die Kette umlegst, denn ich nehme an, dass mich das plötzliche Gefühl von Sterblichkeit wohl sehr mitnehmen wird, und ich mich in den Palast der Götter zurückziehen muss, um mich zu erholen.«
Legana nickte eilfertig, in ihren Augen glitzerte Ungeduld.
»Du wirst dich nicht länger mit Nekromanten und Vampiren abgeben können. Kümmere dich um deine augenblicklichen Gefährten und ziehe dann in meinen Tempel in Hale. Dort kannst du leben. Zhia Vukotic wird dir dorthin nicht folgen.«
Legana nickte erneut, ihre Augen zuckten zu den am Boden liegenden Waffen. Weder Mikiss, der Vampir, der nebenan schlief, noch Nai, der Nekromant, den sie zuletzt in der Nacht zuvor getroffen hatte, würden leicht zu töten sein, aber mit der Macht einer Göttin gab es wohl nichts, was sie nicht schaffen konnte.
Die Dame hatte Leganas Blick zu den Waffen bemerkt. »Gut. Töte sie beide, und dann kümmere dich um die Stimmen in dieser Stadt. Sie ist der wichtigste Treffpunkt des Westens, doch um gegen das zu bestehen, was kommen wird, müssen ihre Viertel geeint werden … und glaube mir, die Kreuzung des Westens muss überleben.«
Die Dame sprach jetzt schnell und reichte Legana die Kette.
Diese ließ die Finger über die Smaragde gleiten, ohne jedoch den Blick vom Gesicht der Dame abzuwenden.
»Ich schlage vor, du beginnst deine Arbeit damit, den Hohepriester Alterrs hier in Byora zu töten. Er ist ein armseliger kleiner Wicht, der auf den Namen Ayarl Lier hört.«
Legana riss die Augen auf. Die Götter wenden sich gegeneinander?
»Wir waren nie sonderlich harmonische Wesenheiten«, sagte die Dame lächelnd und erriet damit, was Legana gedacht hatte.
»Alterr ist eine von denen, deren Zorn ungezügelt wütet. Sie wird uns zu unbesonnen Taten zwingen, wenn ihrer Stärke keine Schranken gesetzt werden, und Lier verfügt über großen Einfluss, sowohl am Hof von Natai Escral als auch beim einfachen Volk von Hale. Es wird das Beste sein, diesen Einfluss zu entfernen. Und außerdem«, setzte sie mit einem frechen Lächeln hinzu, als schlüge sie nicht mehr als einen harmlosen Scherz vor, »gehört Alterr zum Höheren Kreis des Pantheons – und ich nicht. Ehrgeiz ist nicht nur bei Sterblichen verbreitet.«
Venn öffnete langsam die Augen und unterdrückte im schmerzhaft hellen Licht ein Stöhnen, während er sich auf die Gestalten konzentrierte, die neben ihm saßen. Sie alle waren jung, man erkannte sie an ihrer Haltung unzweifelhaft als Harlekine. Sie trugen Felle und Leder, die grobe Kleidung der Clans, nicht das auffällige Muster der Harlekine. Dies war also noch nicht ihr letzter Besuch in der Höhle, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis diese neue Ernte ihre Klingen ausgehändigt bekäme und ins Land hinausgeschickt wurde.
Und sie haben auf mich gewartet, dachte Venn zufrieden. Wie es scheint, ist meine unlängst aufgetauchte Schwäche nur ein weiteres Zeichen meines göttlichen Auftrages.
Es hatte noch nie einen Harlekin gegeben, der sich nach Jahren draußen im Land von den alten Wegen abgewandt hätte – diejenigen, für die er ein Verräter war, wussten darum nicht, was sie mit ihm tun sollten, und die Leute aus den Clans betrachteten ihn in zunehmenden Maße als den Mann, der sich über die althergebrachte Art zu leben erhoben hatte. Das Land hatte den besten der Harlekine verwandelt und zu ihnen zurückgeschickt, damit er sie in die Zukunft führte. Seine fremdartige Präsenz, die Dohle geschuldet war, stellte sicher, dass Beschwerden oder Vorwürfe nur im Geheimen geäußert wurden. Er hatte nichts von ihnen verlangt und sich keiner Ketzerei schuldig gemacht. Bis dies geschah, schützte ihn ihre eigene Unschlüssigkeit.
Sein Arm war bleischwer, als er nach der Wasserschüssel griff, die er in seiner Nähe hielt. Die Höhle war groß und bestand aus offenen Tempeln und Schreinen, aber die natürliche Unebenheit des Felsens sorgte für Dutzende von Erkern und Nischen. Eine solche hatte sich Venn gesichert, und hier verbrachte er die meiste Zeit des Tages: sitzend, den Rücken an die Wand gelehnt. Er ging nur selten nach draußen. Die einzige Bewegung, die er bekam, beschränkte sich darauf, von Schrein zu Schrein zu gehen.
Obwohl es Winter war, gab es mehr Besucher, und sie kamen, um ihn zu sehen, den Harlekin, der als verwandelter Mann aus dem Land zurückkehrte, darum zwang er sich dazu, wach zu sein, wenn sie kamen, um mit ihnen zu sprechen oder für sie zu predigen.
Er trank gierig, stellte die Schüssel dann wieder ab und beachtete seinen knurrenden Magen nicht weiter. Dohle befand sich noch immer in seinem Schatten, schwieg manchmal tagelang, brauchte aber dennoch alles, was ein gewöhnlicher Mann zum Leben benötigt. Der einzige Unterschied war, dass er es sich nun von Venn holte.
Fühlt sich so eine Mutter?, fragte er sich, und seine gesprungenen Lippen teilten sich zu einem schmalen Lächeln. Ein Kind zehrt gierig von meinem Körper, während ich hier sitze und die Tugenden anderer preise? Meister, einmal mehr verneige ich mich vor deinem Humor.
»Das Alter ist ein Fluch, den wir alle ertragen müssen«, setzte er an und war sich bewusst, dass die jungen Männer und Frauen allesamt begierig auf seine neuesten Lehren warteten. Religion, was für ein meisterhaftes Werkzeug. Sie erwarten Weisheit – und darum hören sie diese auch.
»Die Weisheit der Jahre trübt das Verständnis. Angst ist immer ein Teil des Lebens, doch sie entfernt uns von der Wahrheit. Könnte ein Neugeborener sprechen, er würde Ratschläge geben, die denen eines Königs überlegen sind, denn ein Neugeborener kennt keinen Schmerz, weder den des Verlustes noch den der Liebe, noch den des Hungerns, noch den der Angst.«
Neben ihm kam Bewegung in Dohle, als der ehemalige Mönch sein Stichwort erkannte. Seine Fähigkeiten wurden also wieder benötigt. Venn hob die Hand auf eine Art, dass sie manchen an die Ikonen von Shaolay, die Göttin der Weisheit erinnerten, die oft auf Thronen zu finden war. Er sah das Erstaunen in den Augen seiner neuen Schüler, als ein Schimmer von Dohles Magie durch seinen Körper strömte und den Eindruck eines von den Göttern Berührten unauffällig unterstützte.
»Ein vollkommenes Kind kann uns daran erinnern, wer wir selbst waren, bevor die Jahre im Land uns beschmutzten. Seine Stimme kann die Angst vertreiben, die unseren Ratschluss trübt, und uns wieder in einen Zustand der Reinheit zurückbringen. So ein Kind könnte die Wütenden besänftigen. So ein Kind gäbe dem Feigling Mut und ließe ihn wie einen Gott kämpfen, um die Unschuld zu verteidigen. Welches Ziel könnte erstrebenswerter sein, als solche Unschuld in anderen zu suchen, einem Kind zu dienen, das keinen Hass kennt?«