25
Der Abend brachte Byora einen Regen, der wie Nadelstiche wirkte, den kräftige Böen vor sich hertrieben. Zwei Männer kauerten im Schatten eines Schornsteins, hielten ihre gewachsten Mäntel über den Kopf und spähten über den Rand des Daches auf die Straße hinab.
»Was denkst du?«, fragte Sebe, dessen Stimme wegen des prasselnden Regens kaum zu verstehen war. Er schob Doranei zur Seite, um neben ihm Platz an dem warmen Kamin zu finden, aber Doranei beachtete ihn nicht. Er hatte nur Augen für den Mann, den er durch ein Erdgeschossfenster auf der anderen Seite der Straße beobachtete. Trotz des Regens waren die Läden weit genug geöffnet, um die Straße von innen gut einsehen zu können.
»Er ist sicher nicht wegen seiner Gesundheit hier«, sagte Doranei schließlich. »Sie wechseln sich an dem Fenster ab, wenn sie auch so unauffällig vorgehen, dass man es nur bemerkt, wenn man darauf achtet.«
»Aber es gibt keinen Zweifel, oder? Verdammt. Was tun wir jetzt?«
»Unsere Arbeit.« Doranei sah seinem Kameraden – wie er ein Mann des Königs – ins Gesicht und Sebe nickte widerstrebend. »Das sind keine Unschuldigen, die man zur Bewachung der Tür abgestellt hat. Es sind Feinde. Diese Jungs mögen in der Überwachung nicht sonderlich geübt sein, aber sie sind auch keine Anfänger.«
Auf dem Weg zurück übernahm Sebe die Führung, geduckt, bis sie die Rückseite des Hauses erreicht hatten. Sie ließen sich wieder in den kleinen, dunklen Hof hinab und waren gerade auf dem Weg zu der Gasse, die dahinter verlief, als sie von einem Husten überrascht wurden.
Doranei drehte sich um und sah am nächsten Haus einen Mann unter einem Vordach stehen, ein Filetiermesser in einer Hand, einen halb abgezogenen Hasen in der anderen. Der Mann hatte graue Haare, schien aber sonst noch bei guter Gesundheit zu sein und wirkte nicht ängstlich, als sich ihm die beiden Männer zuwandten. Er hob das Messer und wollte nach einem weiteren greifen, aber Doranei schüttelte den Kopf.
»Wir sind nur auf der Durchreise«, sagte er ernst und öffnete den Mantel, damit der Mann einen Blick auf seine Waffen werfen konnte: ein Paar langer, schlanker Messer, ein Schwert und eine Axt. Das waren nicht die Waffen eines Diebes.
»Wird es Ärger geben?«, fragte der Mann mit deutlichem Akzent und senkte das Messer, da er einsah, dass er diesen Kampf nicht gewinnen würde.
»Nein«, sagte Doranei. »Wir verschwinden gerade.«
Der Mann wirkte erleichtert, als Doranei den Hof verließ. Der Regen hatte die meisten Leute von der Straße vertrieben, so dass sie ohne Mühe einen sicheren Weg zur Rückseite des Hauses der Beobachter suchen konnten. Es dauerte eine Weile, bis sie überzeugt waren, dass sie ohne Schwierigkeiten hineinkommen würden. Doranei wurde immer nervöser. Das beobachtete Haus war der Stützpunkt des Narkangspions in Byora, ein Kontakt, der nur von ausgesuchten Leuten aufgesucht wurde. König Emins geheimes Netzwerk war klein, und alle wussten, dass sie kein Risiko eingehen sollten, solange es nicht befohlen wurde. Es war beunruhigend, dass jemand von diesem Unterschlupf wusste.
Das Haus stand Rücken an Rücken mit einem anderen, und der Weg führte zu beiden Seiten der Häuser zu den Gärten. Das Tor des ersten blieb unverrückbar, aber das zweite war ohne Probleme zu öffnen. Da die meisten Leute wegen des Regens und der Dunkelheit ihr Heim nicht verließen, war es vertretbar, hineinzugehen und dann die beiden Zäune zu überklettern. Im Hof der Beobachter angekommen, wurden Doranei und Sebe nicht langsamer, denn die Hintertür war nicht verriegelt. Also stieß sie Doranei mit einem Messer in der Hand auf. Im Innern lehnte ein blonder Mann gerade über einem Ofen. Er hatte sich noch nicht ganz umgedreht, um zu sehen, warum sich die Tür öffnete, da war Doranei auch schon zu ihm gesprungen und hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt. Der Mann schlug noch um sich und fegte eine Pfanne vom Ofen, die auf den Boden polterte, obwohl Doranei versuchte, sie zu fangen. Er packte den Mann und ließ ihn zu Boden sinken, wischte sein Messer ab und folgte Sebe, der an ihm vorbeigeglitten war.
»Was hast du jetzt wieder runtergeschmissen?«, rief eine Stimme aus dem vorderen Raum, als Sebe gerade die Tür erreichte. Sebe stürmte hindurch und Doranei, der an der Tür wartete, hörte noch, wie Stahl auf einen Schädel krachte, gefolgt von einigen schnellen Schlägen und dem Geräusch eines fallenden Körpers.
Er spähte in den Raum und sah Sebe auf einem liegenden Mann hocken, die Klinge gegen den Hals gedrückt, also eilte er weiter, um die übrigen Zimmer im Erdgeschoss zu überprüfen. Wie erwartet waren sie leer, ebenso wie die Zimmer im oberen Stockwerk. Kurz darauf war er wieder unten.
Sebe hatte den Mann mittlerweile auf den Bauch gedreht und kniete auf seinen Armen. Es war kein schwerer Mann, aber die Haltung wirkte so verdreht, dass Sebe dem Gefangenen jederzeit die Kehle durchschneiden konnte. Doranei rammte sein Messer unmittelbar am Kopf des Gefangenen in den Holzboden und hockte sich neben ihn.
»Dein Freund ist tot«, sagte er sachlich. »Wenn du nicht ebenso enden willst, antwortest du mir schnell und aufrichtig und versuchst nicht, mich zu verarschen, klar?«
Der Mann stöhnte leicht und hatte mehr damit zu tun, seinen Kopf hochzuhalten.
»Das Messer bleibt da«, sagte Doranei, »und je länger du für deine Antworten brauchst, umso schwerer wird es dir fallen, den Kopf oben zu halten.«
Dann folgte ein zweites Stöhnen, das Doranei als Zustimmung deutete und fortfuhr: »Guter Junge. Für wen arbeitet ihr?«
»Herzogin«, keuchte der Mann. Er hatte eine Platzwunde an der Stirn, wo Sebe ihn hart genug getroffen hatte, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber nicht kräftig genug, um ihm den Schädel einzuschlagen. Blut lief aus der Wunde, doch Doranei vermutete, dass der Mann das Stechen jetzt noch gar nicht spürte. Seine Augen waren vor Angst weit aufgerissen, was Doranei zeigte, dass er ein ganz gewöhnlicher Mann war, gewiss nicht an die brutale Welt gewöhnt, in der sich Doranei bewegte. Das waren gute Neuigkeiten. Vielleicht glaubte er, dies hier überleben zu können, wenn Doranei mit seinen Antworten zufrieden war.
»Ihr habt Nummer zweiundvierzig beobachtet, mit den Türklopfern in Adlerkopfform?«
Wieder stöhnte er.
»Warum?«
»Weiß nicht«, lautete die heisere Antwort. Der Mann war jetzt kreidebleich, und seine Wangenmuskeln zuckten vor Anstrengung, den Kopf hochzuhalten. »Hat uns keiner gesagt.«
»Lass seine linke Hand los«, sagte er zu Sebe, und ihr Gefangener schnappte erleichtert nach Luft, als er sich mit einem Ellbogen abstützen konnte. »Wenn Leute wie wir da hineingehen, solltest du dann die Rubinturmwache benachrichtigen?«
»Die Byoranische Wache, eine Sondereinheit. Wenn irgendjemand reingeht, schicken wir eine Nachricht zum Turm.«
»Wer hat euch den Befehl dazu erteilt?«
»Mein Hauptmann, aber die Nachricht sollte an den neuen Sergeanten im Turm gehen.«
»Name?«
»Kayel, ein großer Mistkerl, Ausländer, so heißt es, ich habe ihn aber nie getroffen.«
»Ein großer Mistkerl?«, fragte sich Doranei laut und tauschte einen Blick mit Sebe, der offensichtlich das Gleiche dachte. Es gab nicht viele Leute, die wussten, wer in einer Stadt der Spion Narkangs war und wie man ihn unter Beobachtung stellen konnte, aber der verräterische Goldjunge der Einheit war sicher einer von ihnen.
»Wie lautet der volle Name dieses Sergeanten? Wie sieht er aus?«
»Hener Kayel, glaube ich. Ich habe ihn nie selbst getroffen, aber man erzählt sich, er prahle damit, dass er von einem Löwen verstümmelt worden sei – es hat ihm das halbe Ohr abgebissen, während er das Tier getötet hat. Sie haben alle Angst vor ihm. Der tötet Menschen wie andere Leute Fliegen, heißt es.«
Doranei schwieg einen Moment, dachte an den Tag zurück, an dem Coran, König Emins Weißaugen-Leibwache, in den Palast getaumelt kam, das Knie zerschlagen und Ilumenes Dolch noch zwischen den Rippen steckend. Coran hatte Ilumene selbst nur einen Kratzer beibringen können. Ilumene hatte sich dagegen stärker verletzt, nämlich das Stück seines Ohrs abgeschnitten, auf dem sich das Zeichen der Bruderschaft befunden hatte. Er hatte es König Emin zwei Tage später in den Palast geschickt, um ihn wissen zu lassen, dass Ilumene noch lebte.
»Dann gibt es keinen Zweifel«, sagte Doranei schließlich und steckte den Dolch weg, während er sich erhob. »Wir müssen Verstärkung holen.«
Er trat über die Beine des Mannes, ohne hinabzusehen, und ging auf dem gleichen Weg wieder hinaus, auf dem sie gekommen waren. Nach einer kurzen, ruckartigen Bewegung folgte ihm Sebe.
Legana erwachte vor Schreck, als ihr Bett zu zittern begann. Sie sah sich um, während die Erinnerung an ein Geräusch in ihren Ohren nachhallte, dann erkannte sie, dass es von der schweren Vordertür unter ihrem Zimmer stammte, die zugeworfen worden war. Es war dunkel, und unter dem Vorhang zeigte sich kein Licht. Also musste sie wohl bis tief in die Nacht hinein geschlafen haben. Sie tastete nach dem Stuhl neben ihrem Bett und fand ihre Kleidung. Dann zog sie sich eilig an und wickelte zum Schluss auch noch den langen Schal aus kupferfarbener Seide um sich, den die Frau des Weinhändlers ihr geschenkt hatte. Legana war nicht in der Lage, die Farbe zu würdigen, aber als sie ihn angelegt hatte, waren alle im Raum verstummt, und das schien Erklärung genug zu sein.
Sie nahm ihre Tafel und die Kreide auf und öffnete dann die Tür, um auf den dunklen Flur zu treten. Dazu brauchte sie den Gehstock, den der Händler ihr geliehen hatte, kaum noch. Er war alt gewesen und schwarz angelaufen – sein Vater hatte ihn dreißig Jahre lang benutzt – aber als sie ihn dann berührt hatte, war der Belag verschwunden und hatte den wunderhübschen silbernen Knauf offenbart.
Legana hielt inne, um sich die Tafel unter den Arm zu klemmen und ihren Augen Zeit zu geben, sich an das Licht zu gewöhnen, das die Treppe hinaufschien. Sie waren noch immer empfindlich und die Farben wirkten grau, aber sie sah wieder weitgehend scharf und erkannte den Flur fast so gut, wie jeder andere auch. Es war Gewohnheit, dass sie auf dem Weg zur Treppe nach unten mit den Fingern an der Wand entlangstrich.
Sie fühlte sich noch immer verletztlich, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie genesen war. Sie hörte schlechter, und ihre Stimme war gebrochen, aber sie war jetzt deutlich stärker als ein Mann und auch erheblich zäher. Daran, dass sie manchmal das Gleichgewicht verlor und sie sich lieber langsam und vorsichtig bewegte, würde sich nichts mehr ändern, und sie musste lernen, damit zu leben.
Das Gebäude hatte drei Teile. Die Geschäfte wurden in der großen Halle an der Vorderseite abgehalten. Sie wirkte eher wie ein Lagerraum, weniger wie ein Ladengeschäft. Legana wandte sich zuerst dorthin, denn sie wusste, dass Lell Derager, der Weinhändler, der als Farlans Spion in Byora tätig war, nach Einbruch der Dunkelheit keine Geschäfte mehr machte. Sicher waren es diese Narren aus Narkang gewesen, die bei ihrer Rückkehr die Tür zugeschlagen hatten.
Als sie am Fuß der Treppe ankam, fand sie Derager und seine Frau Gavai im Eingang zu seinem vollgestopften Arbeitszimmer stehend. Der dicke Mann wandte sich um, als er ihre Schritte hörte, und breitete die Arme zu einer Willkommensgeste aus, weil er wusste, dass Legana Schwierigkeiten damit hatte, den Ausdruck von Gesichtern zu erkennen.
»Legana, hat Euch das Schläfchen wohl getan?«, fragte er mit donnernder Stimme.
Sie nickte, machte sich aber nicht die Mühe etwas aufzuschreiben. Lell störte so etwas nicht. Er war so höflich, dass Legana schon misstrauisch wurde, und tat alles selbst, was mit ihr zu tun hatte, statt einen Diener zu rufen. Er war nicht alt – weniger als vierzig Sommer – aber seine Kotletten und sein Bart erschwerten es, sein Alter zu schätzen. Er wirkte deutlich fröhlicher als seine Frau, die zehn Jahre älter war, aber sie waren beide bedachte, freundliche Gastgeber – und Leute, die man sich nach Leganas Meinung niemals als Spione vorstellen konnte, was wohl auch der Grund für Flüsterers Vorgänger Grund gewesen war, sie auszuwählen.
»Eure Freunde sind zurückgekehrt«, berichtete ihr Gavai. »Sie ziehen sich gerade etwas Trockenes an. Warten wir im Esszimmer auf sie.« Sie bot Legana ihren Arm. Nach kurzem Zögern ergriff sie ihn und ließ sich in den zweitgrößten Raum des Hauses führen. Sie wusste zwar nicht aus eigener Erfahrung, wie man als Tochter behandelt wurde, vermutete aber, dass es wohl so ähnlich wie dies hier sein musste.
Ein unverhältnismäßig großer Tisch aus Mooreichenholz bestimmte den Raum, aber obwohl er so groß war, gab es um ihn herum in jeder Richtung drei Schritt freien Raum. Ein Kandelaber hing über dem Tisch am dicken Hauptbalken der niedrigen Decke. Zur Linken standen unterschiedliche Stühle in einer wie zufällig wirkenden Aufstellung vor dem Kamin. Gavai führte Legana zu einem, der mit dem Rücken zu den flackernden Flammen stand und setzte sich neben die ehemalige Meuchlerin aus Farlan. Lell folgte ihnen und scheuchte seinen jugendlichen Sohn in die Küche, wobei er etwas sagte, das Legana nicht verstand.
Als Lell wiederkam, hielt er volle Weingläser in den Händen, und Doranei und Sebe, die sich mittlerweile zu ihnen gesellt hatten, nahmen das Getränk dankbar entgegen. Doranei stürzte den Wein in einem Zug herunter, was Legana nicht sonderlich wunderte, bis Sebe es ebenso hielt.
Lell nahm den Weinkrug aus Messing auf, um nachzuschenken, und Legana schrieb auf ihre Tafel: – Schlechte Neuigkeiten?
Sie glaubte zu erkennen, dass Doranei das Gesicht verzog, und sein grimmiger Tonfall bestätigte ihre Vermutung.
»Wie es aussieht, hast du Recht gehabt«, sagte er zögernd. »Azaers Gefolgsleute sind hier.«
»Seid Ihr sicher?«, fragte Lell, antwortete sich aber gleich darauf selbst: »Natürlich seid Ihr das. Niemand trägt eine solche Miene zur Schau, wenn er nicht sicher ist. Wie habt Ihr es herausgefunden ?«
»Unser Spion in der Stadt wurde von Männern beobachtet, die Meldung an den Rubinturm erstatten sollten«, antwortete Sebe an Doraneis Stelle, der bereits den nächsten Becher leerte. »Wir halten unser Netzwerk geheimer als Ihr, darum wird es eigentlich nie zufällig entdeckt. Wir haben einen der Beobachter befragt. Sie sollten einem neuen Sergeanten in der Rubinturmwache alle Besucher melden.«
– Herzogin und Azaer?, fragte Legana
Doranei schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, aber die Beschreibung des Sergeanten reichte aus, um ihn zu erkennen. Wenn er hier ist, dann ist vermutlich auch der Rest von Azaers Gefolgschaft nicht weit. Ich glaube nicht, dass sie mächtig genug sind, um zu diesem Zeitpunkt ihre Kräfte aufzuteilen. Scree, vor allem der Verlust von Rojak, wird sie einiges gekostet haben.«
»Was bedeutet, dass es entweder ein Zufall war, dass Aracnan den Hohepriester tötete … oder es ist ein Zeichen dafür, dass er unter Azaers Befehl steht«, sagte Lell und warf seiner Frau einen Blick zu. »Jetzt, wo Lier aus dem Weg ist, ist die Herzogin deutlich anfälliger für Beeinflussungen und außerdem schürt es den Konflikt zwischen Acht Türme und Hale.«
»Und in diesem Geschäft gibt es keine Zufälle«, ergänzte Gavai. Sie wären in den Kreisen, in denen Legana und die Männer des Königs unterwegs waren, keine hochrangigen Spione gewesen, aber sie gaben sich keinen Trugschlüssen darüber hin, in was sie da verwickelt waren.
»Ich habe genug erfahren, um meinem König Bericht zu erstatten«, sagte Doranei und sah Legana an. »Aber was wirst du tun?«
Legana antwortete nicht gleich. Alle Blicke wandten sich ihr zu, doch sie sah Doranei weiter an. Er verstand nicht, was mit ihr geschehen war – sie verstand es ja selbst noch nicht –, aber er selbst war, vielleicht ohne es zu wissen, kein einfacher Bauer in diesem Spiel. Er war ein Mann, der Lord Isak einen Freund und Zhia Vukotic noch etwas mehr nennen konnte. Von ihnen allen war er der Einzige, der die Welt des Zwielichts, in der sie sich nun befand, zu verstehen vermochte. Ihre Hand berührte die Erhebungen an ihrem Hals, die eine regelmäßige Kurve knapp über ihrem Schlüsselbein bildeten. Das Schattenmal, das die Hälfte der unter der Haut verborgenen Smaragde überdeckte, konnte sie aber nicht fühlen. Sie konnte ihre eigenen Augen nicht sehen, wusste aber, dass sie sich verändert hatten. Und das waren nicht die einzigen Veränderungen. In ihrem Blut brannte ein Feuer, das so wirkte, wie sie sich immer das Gefühl von Magie vorgestellt hatte. Ein leichtes Prickeln, das plötzlich in eine Flammenhölle explodieren konnte.
Darf ich mich noch als eine Farlan bezeichnen? Kann ich es? Ich bin der Familie der Dame beigetreten, aber sie ist tot – ich spüre den toten Teil von ihr in mir – aber was ist mit den anderen Göttern? Sind auch sie nun Teil meines Volkes, oder bin ich nur eine Raylin, ein mächtiges Wesen ohne jede Zugehörigkeit?
Schließlich schrieb sie zögerlich: – Ich weiß nicht, wem ich nun folgen soll.
Gavai sprach die Worte, die Legana schrieb, leise mit und legte dann tröstend die Hand auf Leganas Arm, zog sie aber zurück, als diese zusammenzuckte.
Der einzige Ort, an dem ich jemals wirklich zu Hause war, ist der Tempel der Dame, erkannte Legana, während sie die Tafel sauberwischte. Reicht der Funke der Göttlichkeit, der zurückblieb, um die Tempel zu unterhalten, oder werden sie alle als bezahlte Mörder enden? So weit waren wir schon fast.
»Ich sehe dein Problem«, sagte Doranei und riss sie damit aus ihren Gedanken. »Aber wir könnten deine Hilfe brauchen. Du hast uns einmal deine Verbündeten genannt, können wir das nicht auch weiterhin sein? Und wenn es nur aufgrund eines gemeinsamen Feindes ist?«
– Er ist zu stark für mich, schrieb sie.
»Ihr Götter! Ich bitte dich doch nicht darum, Aracnan zu vernichten.« Doranei schüttelte heftig den Kopf, um seine Aussage zu unterstreichen, obwohl er laut genug sprach, damit sie ihn verstand. »Unsere beste Waffe werden Einzelheiten sein, die uns jemand liefert, der Einsicht in Dinge hat, die wir selbst nicht ergründen können.«
– Sie würden mich spüren, wenn ich die Herzogin ausspionierte.
»Dann finden wir einen anderen Weg. Du willst dich doch rächen, oder?«
Legana antwortete nicht. Sie spürte nichts in sich, nur die Leere, und zwar an der Stelle in ihr, an der die göttliche Berührung der Dame geruht hatte. Aber dann erinnerte sie sich an die Nacht im Tempel, an die Gewalt, unter der ihr Körper zerbrochen war, und an den Anblick der Dame, deren Haut ihr vom Leib gebrannt worden war, als sie sich von Aracnan abgewandt hatte.
Warum hat sie mich und nicht sich selbst gerettet? Selbst wenn sie sich selbst nicht retten konnte, warum sollte sie dann mich retten? Wer gibt in einem solchen Kampf auf, selbst wenn er unterlegen ist? Als sie sich an Schicksals Gesichtsausdruck im Moment ihres Todes erinnerte, ballte sie unwillkürlich die Faust. Die Göttin dachte nicht so. Das Glaubensbekenntnis sagt, wir sind ihre Töchter, und keine Mutter lässt ihre Töchter zurück.
– Ich will Rache. Der Anblick Schicksals stand deutlich und schmerzlich in ihrer Erinnerung und die smaragdgrünen Augen der Dame leuchteten aus dem Dunkel des Grabes.
– Aber nicht so sehr, dass ich meine Schwestern im Stich ließe, fügte sie hinzu und hielt Doranei dann die Tafel vor, um diesen Punkt zu unterstreichen.
»Natürlich, das verstehe ich«, sagte er. »König Emin hat immer nur gute Worte für die Dame gehabt. Wenn Narkang helfen kann, brauchst du nur zu fragen.«
»Aber vorher«, unterbrach Lell, »muss ich noch einen Vogel nach Tirah schicken. Lord Isak benötigt diese Nachrichten.«
– Ich werde ihm berichten.
»Kannst du ihn direkt erreichen?«
Sie zuckte mit den Schultern. Ihre Göttlichkeit war ihr noch neu, und sie hatte bisher keine Gelegenheit gehabt, sie zu erforschen. Die meiste Zeit hatte sie verschlafen, war zu Kräften gekommen, und hatte ihre Grenzen nicht erforscht. Es war nicht ungefährlich – auch Lord Isak besaß seine Macht noch nicht allzu lang, und er mochte unbedacht reagieren. Bei diesem Gedanken fingen Leganas Hände an zu zittern, doch sie hatte sich entschieden: Ihre Treue galt zwar ihrem Kult und ihren Schwestern, aber sie hatte jahrelang für den Lord der Farlan gestritten – und sie hatte Lord Bahl respektiert, was bedeutete, dass sie auch Bahls Erben respektieren musste. Und dies wiederum hieß, dass sie ihm persönlich sagen musste, dass sie nicht länger in seinen Diensten stand.
– Ich werde ihn finden, schrieb sie mit knappen, sicheren Strichen.
König Emin sah zu dem großen Mann neben sich auf. Coran, seine Leibwache, blickte schweigend und mit ernstem Gesicht auf ihn herab. Hinter ihnen erzitterten die Fensterläden unter dem Ansturm eines Unwetters.
»Nun?«, Emin drehte sich auf seinem Stuhl, um das Weißauge besser ansehen zu können. Es befanden sich nur zwei weitere Männer in diesem Versammlungshaus für Edelmänner, ein Hauptmann der Stadtwache im Ruhestand, der friedlich in einer Ecke saß und schnarchte, und dann noch Graf Antern, der im hinteren Teil des Raumes über einem Stapel Berichte grübelte. Der König nutzte das Versammlungshaus als Fassade für verschiedene Unternehmungen, und viele der Mitglieder waren dann und wann in solche Unternehmungen verstrickt. Normalerweise würde sich Coran nichts dabei denken, vor den Anwesenden frei zu sprechen.
Coran schob den linken Ärmel seines Wamses hoch. »Ich werde diesem verdammten Magier seine Eier abschneiden«, sagte er heftig und drehte sich um, damit König Emin einen Blick auf die Innenseite seines Unterarms werfen konnte.
»Wir können Endine wohl kaum seine Erfolge vorwerfen, oder?«, antwortete Emin etwas gepresst. Es war offensichtlich, dass durch die Trennung eine Last von ihm genommen wurde, aber das Ritual hatte seinen Tribut gefordert.
Coran warf ihm einen seiner üblichen Blicke zu, während ein Blutfaden an seinen Fingern hinablief und auf den Boden tropfte. »Ich werde einen Weg finden.«
Emin musterte seine blutige Haut. »Sei nur froh, mein Freund, dass er die Kurzschrift der Bruderschaft benutzt! ›Feind gesichtet, Ilumene und andere, Absichten unbekannt, erwarte Befehle‹«, las er vor. »Seltsam, dass er die anderen Feinde nicht benennt – sie sind zwar wichtig genug, um Erwähnung zu finden, aber kein Name.«
»Ilumene wird den Befehl haben, egal, wer sonst noch da ist«, grollte Coran, dessen schlechte Laune nun nachvollziehbar war. Ilumene war ihm zweimal entkommen, und so etwas nahm sich Coran zu Herzen.
»Zweifellos, aber ich vermute eher, dass Doranei einen neuen Gefolgsmann entdeckt hat, dem wir erst noch ein Symbol in der Kurzschrift zuweisen müssen.« Emin erhob sich und warf Graf Antern einen Blick zu, der bei Corans Worten aufgeschaut hatte. Er hatte die Nachricht gehört.
»Antern, bitte hol Sir Creyl und Morghien her«, bat der König, und sein erster Minister eilte davon. Emin ging zu dem schlafenden Mann und stieß ihn an.
»Hauptmann, es wird Zeit, dass du nach Hause zu deiner Frau gehst«, sagte Emin sanft.
Der weißbärtige Mann zuckte einige Male, dann öffnete er ein Auge. »Was?«
»Zisch ab nach Hause«, sagte Coran.
»Zisch selber ab«, antwortete der Hauptmann mit schwerer Stimme. »Sie will mich nicht da haben, seit Brandt bei der Verteidigung Eures Palastes starb.«
Seine Haut wirkte wie altes, gegerbtes Leder und sein weißer Bart war von zahlreichen Lücken durchzogen, wo sich Narben darunter verbargen. Er war schon über sechzig und die Kraft, die ihm in vielen Prügeleien das Leben gerettet hatte, schwand allmählich. Als Coran nicht antwortete, seufzte der Alte und stemmte sich keuchend hoch. Das Weißauge stützte ihn, bis er stand.
»Ich habe geträumt, ich wäre wieder jung«, klagte der Hauptmann Emin sein Leid. »Ich habe einen Mann mit all der Freude der Jugend über den Königinnenplatz verfolgt.«
Der König lächelte. »Du warst schon ein grummeliger alter Bär, als wir uns zum ersten Mal trafen. Und ich bezweifle, dass das zwanzig Jahre davor anders gewesen sein wird.«
Der Hauptmann lachte und ging mit steifen Schritten zur Tür. »Ha – und Ihr wart der hochnäsigste Mann, den ich kannte«, sagte er. Leiser fügte er hinzu: »Aber Ihr habt Euer Versprechen noch nicht eingelöst. Ich werde es Euch nie verzeihen, wenn ich den Tod des Schattens nicht mehr miterlebe.«
»Ich tue mein Bestes, mein Freund«, sagte Emin und sah dem humpelnden Alten nach.
Als der alte Offizier an Morghien und Sir Creyl, dem Kommandanten der Bruderschaft, vorbeiging, nickten die beiden respektvoll. Kaum war die Tür geschlossen, kamen sie jedoch zur Sache.
»Meine Herren, Doranei hat Ilumene in der runden Stadt entdeckt«, verkündete König Emin. »Vorschläge?«
»Lasst Euch nicht von Eurer Wut übermannen«, sagte Sir Creyl. Er war ein untersetzer Mann und trug die praktische Kleidung der Leibgarde. Seine auffälligen blassblauen Augen waren mehr als einmal für Weiß gehalten worden, obwohl es sich bei Creyl um einen ruhigen Mann handelte, der auf einem Schlachtfeld gänzlich fehl am Platze schien.
»Danke, dieser Punkt wurde bereits angesprochen.«
»Wie lautete die Nachricht?«, fragte Morghien, ging an Emin vorbei und nahm auf dem Stuhl Platz, den der Hauptmann gerade geräumt hatte. Er starrte ins Feuer, sah den Flammen bei ihrem Tanz zu, wenn ein Windstoß durch den Kamin hinabfuhr.
Emin wiederholte die Nachricht.
Seit dem Ritual im Turm hatten sie kaum miteinander gesprochen. Der Wandernde wirkte noch ausgezehrter als sonst. Er war in eines der Gästezimmer des Versammlungshauses gezogen und verbrachte genauso viel Zeit in den Flinken Fingern, wie Doranei vor seinem letzten Auftrag. »Eine weitere List?«, fragte Morghien schließlich.
»Das wäre dann zweimal hintereinander fast der gleiche Trick, oder?«
»Ein doppelter Bluff. Ich würde dem Schatten nicht zutrauen, so dumm zu sein, und dieser Mistkerl weiß das.«
»Wir müssen wissen, wie man in den Besitz dieser Nachrichten gelangte«, sagte Sir Creyl. »Das letzte Mal hat man sie uns praktisch aufgezwungen, weil es ihren Zielen diente. Vielleicht haben sie zugelassen, dass Doranei diese Dinge herausfand.«
»Die Tatsachen bleiben davon unberührt«, seufzte Emin. »Kommt schon, ihr habt doch alle über unsere nächsten Schritte nachgedacht, wie lauten eure Vorschläge?«
»Behaltet Euren eigenen Hinterhof im Auge«, sagte Morghien, bevor einer der anderen das Wort ergreifen konnte. »Wenn die Aufmerksamkeit auf die Runde Stadt gelenkt werden soll, dann plant er vielleicht erneut etwas gegen Narkang zu unternehmen.«
»Pah! Diese Stadt ist besser geschützt, als sogar die Bruderschaft ahnt«, sagte Graf Antern mit einer wegwerfenden Geste. »Der Schatten würde sich nicht einmal die Mühe machen, hier etwas zu versuchen.«
»Ich vertraue Doranei«, sagte Sir Creyl zögernd. »Er ist auf der Hut vor Finten, denn in Scree hat er seine Lektion gelernt.«
»Euer Mann ist ausgebrannt«, widersprach Antern. »Zhia Vukotic hat er gar nicht erwähnt – und ihretwegen wurde er doch ursprünglich ausgeschickt.«
»Ich vertraue ihm«, wiederholte Creyl. »Er weiß, was er tut, und er ist nicht ausgebrannt. Wenn Doranei diese Nachricht ausschickte, dann hat er das Wissen sorgsam gesammelt und sich vergewissert, dass es keine Falle ist. Es sei denn, die List ist so unglaublich raffiniert, dass auch wir darauf hereingefallen wären.«
»Also?«, wollte König Emin wissen, zog eine Zigarre unter seinem Wams hervor und entzündete sie an einem Holzspan. Er hielt Morghien das Lederetui hin, doch der Mann der vielen Geister winkte ab.
»Also handeln wir«, sagte Creyl nachdrücklich. »Wenn Doranei Befehle erwartet, heißt dass, dass er nicht allein mit der Lage fertig wird. Ich schlage vor, dass wir einen Trupp aus Magiern und Brüdern zusammenstellen und in die Runde Stadt schicken. Wir kümmern uns nicht um die Lage der Stadt oder unsere Beziehungen zu ihr, sondern richten ein großes Durcheinander an und überlassen es anderen, es zu bereinigen.«
Antern nickte knapp. »Mit der groben Keule, das erwarten sie nicht. Ich habe Nachricht erhalten, dass Abgesandte aus Mustet und Sautin nach Thotel gereist sind. Wenn sie ein Abkommen mit Lord Styrax schließen, wird er ungehindert nach Norden ziehen können, bis nach Tor Milist, zur Runden Stadt, dann nach Embere. Alles südlich der Farlan-Ländereien wird ihm offenstehen, also brauchen wir uns auch keine Sorgen um gute Beziehungen zur Runden Stadt zu machen. Wir reißen ein Loch in die Stadt und verschwinden schnell wieder. Das ist unsere letzte Gelegenheit, bevor uns die Menin-Armee von der anderen Seite der Grenze entgegenblickt.«
»Und dann haben wir ganz andere Probleme«, fügte Coran hinzu.
»Aber zuerst müssen wir doch wohl herausfinden, was Ilumene dort treibt?«, fragte Morghien. »Oder sollen wir bloß für die Rache ganze Jahre verdeckter Ermittlungen wegwerfen?«
König Emin schwieg eine Weile und sah dem dünnen Rauchfaden seiner Zigarre nach. »Hier geht es nicht um Rache, mein Freund. Diesen Fehler mache ich nicht noch einmal. Wir nutzen diese Gelegenheit, um Azaers Gefolgsleuten Schaden zuzufügen und uns auf den nächsten Schritt vorzubereiten, denn wir wissen alle, dass es einen solchen geben wird.« Er warf die kaum kürzer gewordene Zigarre ins Feuer und schürzte die Lippen, als sei ihm der Geschmack mit einem Mal unangenehm. »Er wird seine Handlungen hinter dem Eroberungsfeldzug der Menin verstecken, darum müssen wir vor Ort und bereit sein, wenn er handelt.«
Die letzten Regentropfen verdampften zischend in den Feuern, die Ehla um Mihn herum entzündet hatte. Er saß im Schneidersitz da, versuchte die Feuchtigkeit nicht zu beachten, die aus dem Boden kroch, und zitterte trotz der Feuer. Es war einigermaßen warm für den Winter, doch er trug unter dem Mantel kein Hemd und seine magere Gestalt verfügte auch über kein Fett, das ihn hätte warm halten können.
»Die Zauber wirken gut«, sagte Fernel, der sich unter einen Baum gestellt hatte. Sein mitternachtblaues Fell verschwamm mit dem Schatten, und Mihn konnte von dem Halbgott eigentlich nur die gelblichen Augen und Fänge erkennen. »Sie haben deine Ankunft verdeckt – soweit das nicht Xeliaths Nähe geschuldet war.«
»Was hat es gesagt?«, fragte Xeliath von ihrem Platz am Rand von Ehlas Zelt aus und brauste gleich auf, weil sie ihren Namen zwischen Worten hörte, die sie nicht verstand.
»Er«, antwortete Mihn ruhig, »sagte, dass er mich nicht spürte, als wir herkamen, dass daran aber auch deine Anwesenheit Schuld sein könnte.«
»Ha«, machte das Mädchen und sagte auf Farlan, damit Fernal sie verstehen konnte: »Hast nur Augen für mich, was, du Haariger? Du bist mir aber zu blau, also beherrsch dich.«
Fernal knurrte Xeliath leise an, was sie zum Lachen brachte.
Xeliath, sprach die Hexe in ihren Köpfen, du bist hier Gast, also verhalte dich auch wie einer. Jemand mit deiner Kraft sollte es wirklich besser wissen.
Das junge Mädchen verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Stattdessen legte sie die Hände so gut es ging um den Tee, den Fernal ihr kurz zuvor gereicht hatte. Jenseits des Lichtes, das vom Feuerkreis kam, beobachtete der Sohn Nartis sie ohne ein Blinzeln. Sie war zwar nur halb so groß wie er, aber der Kristallschädel, der mit ihrer Hand verwachsen war, verschaffte ihr einen Vorteil.
Die Hexe kam aus ihrem Zelt und stellte sich neben Xeliath. »Mihn ab Netren ab Felith. Du richtest deine dritte Bitte an mich. Es heißt, dass man ein Stück seiner Seele verliert, wenn man eine Hexe zum dritten Mal um etwas bittet.«
»So heißt es«, antwortete Mihn gefasst. Er hatte den Tag über gefastet und sich auf das Kommende vorbereitet. In stundenlanger Meditation im kleinen Nartistempel des Palastes hatte er den Alltag abgelegt und seine Zuversicht gestärkt, dass er auch den richtigen Pfad beschritt. »Der Preis der Macht liegt darin, sie anzuwenden«, sagte er ruhig. »Ich kann mich nicht von dem Weg abwenden, der begangen werden muss, denn ich bin derjenige, der am besten dafür geeignet ist.«
Die Hexe kam einen Schritt näher und sah wie ein hungriger Raubvogel auf ihn hinab. »Und du wirst den Preis zahlen?« Ihre Stimme klang trocken und rau und so gnadenlos wie der Nordwind.
»Ich werde zahlen, was es kostet.«
»Das sind mutige Worte.«
Ein weiterer Schritt. Xeliath erhob sich hinter ihr und folgte der Hexe. Sie sah nun eher wie ein Weißauge aus, ihr Gesicht zeigte den gleichen wölfischen Ausdruck, die gleiche Entschlossenheit, wie sie Mihn bei Isak schon so oft gesehen hatte.
»Ich habe dir zwei Dienste erwiesen, Grabräuber, der dritte erlaubt mir, einen schrecklichen Preis einzufordern. Ich gab dir Stille, das ungesehene Dahingleiten einer Geistereule. Schutz gab ich dir, die Blätter der Eberesche und der Haselnuss auf deiner Haut.«
»Grabräuber«, flüsterte Xeliath neben der Hexe – und ihr Gesicht und ihre Augen strahlten vor wilder Freude.
»Du hast Weiteres von mir erbeten«, fuhr die Hexe fort und wurde dabei lauter. Mihn spürte die Worte überall um sich herum, sie ließen seine Knochen erbeben. »Und so habe ich Anspruch auf deine Seele, kann mit ihr tun, was ich will. Diesen Anspruch trete ich ab, an das Grab, den wilden Wind, den gerufenen Sturm.«
Die Worte trafen Mihn wie Hammerschläge, jedes einzelne hallte wie das Pochen, mit dem Sargnägel eingeschlagen wurden, durch seinen Geist.
»Also gut«, flüsterte Mihn und spürte einen Abgrund in seinem Bauch aufklaffen. »Was du auch forderst, ich werde es tun. Was kein anderer tun kann, werde ich tun. Was von keinem anderen verlangt werden sollte, das werde ich tun.«
Die Hexe machte einen weiteren Schritt und war nun auf Armesreichweite an den sitzenden Mann herangekommen. Sie beugte sich vor, um ihm in die Augen zu sehen. Ihr bleiches, stolzes Gesicht hatte nie fürchteinflößender gewirkt.
»Um durch die Dunkelheit geführt zu werden, braucht es mehr als Licht.« Sie griff hinter sich und umfasste Xeliaths Hand, während sie die andere um Mihns Kehle legte. Er wehrte sich nicht, als ihre Fingernägel blutig in seine Haut schnitten.
Die Hexe senkte die blutige Hand und legte sie auf Mihns Brust, die warm war. Plötzlich frischte der Wind auf und umwirbelte sie, peitschte durch die Bäume, weil Xeliath tief in den Energiestrom eintauchte, der ihr zur Verfügung stand.
»In der Dunkelheit erwartet dich mein Preis«, rief die Hexe. »In der Dunkelheit wirst du um Herrn und Herrin weinen, die so grausam sind wie das Eis in ihren Augen. In der Dunkelheit wirst du deinen Weg finden, aber auch eine Leine um deine Seele.«
Die Wärme ihrer Hand nahm zu, und Mihn keuchte auf, als ihm Blätter ins Gesicht schlugen und der Boden erbebte. In der Ferne hörte er den Sohn des Nartis aufstöhnen, aber seine Wahrnehumg war ganz auf die Flammenlanze gerichtet, die durch seine Brust zu schießen schien, und auf das gleißend helle Licht, das seine Augen erfüllte. Er schrie, und der Laut mischte sich im Wind mit dem tierischen Kreischen der Hexe.
Das Land blieb hinter ihm zurück, um dann schlagartig zurückzukehren, als Xeliath den Magiestrom unterbrach. Mihn wurde rückwärts zu Boden geschleudert, wo er sich zusammenkrümmte und sein Jaulen sich in ein Wimmern verwandelte.
»Es ist vollbracht«, sagte Xeliath ohne Mitgefühl für den sich windenden Mann. »Und es hat Aufmerksamkeit erregt. Ich spüre, dass sich mit dem Wind jemand nähert.«
Mihn wurde von einem Hustenanfall geschüttelt, der ein letztes Brennen durch seine Glieder jagte. Fernal kam aus den Schatten geeilt und half Mihn dabei, sich aufzusetzen. Er stöhnte, denn der Schmerz hallte noch nach. Als er saß, bemerkte er einmal mehr den Geruch verbrannten Fleisches, der von seiner Brust aufstieg. Er blickte aus regen- und tränenfeuchten Augen darauf hinab.
»Es ist vollbracht«, wiederholte Fernal.
Mihn runzelte die Stirn, weil sein Blick verschwommen war. Mit einem zitternden Finger suchte er seine Brust ab, bis er die richtige Stelle fand und mit einem heißen Stechen belohnt wurde, als er die rote Haut auf seinem Brustbein berührte. Auf seiner weißen Haut zeichnete sich ein Kreis mit einer Rune ab, die er gut kannte.
»Sind wir fertig?«, fragte er benommen und sah die Hexe an.
In ihren Augen zeigte sich Mitleid, und zwar ein so umfassendes, dass es Mihn genauso viel Angst machte wie der gnadenlose Ausdruck, den sie kurz zuvor getragen hatten. »Nein, Grabräuber, wir sind noch lange nicht fertig.«
»Verdammt.« Er sank in Fernals Arme und wurde ohnmächtig.
Im grauen Himmel wogte und donnerte es. Auf einem kleinen Hügel stand der Fuß eines ehemaligen Turms, der nur noch ein Stockwerk hatte und von einem Meer aus Ginster umgeben wurde.
Auf dem, was nun das Dach war, ruhte Xeliath in einem gewaltigen Thron und genoss den Ausblick über die zerschlagenen Wände hinweg. Die Brise, die den Turm umwehte, verfing sich nicht in ihrem Seidenhemd oder ihren Reiterhosen, obwohl sie mit Gewalt über die scharfkantigen Steine pfiff.
Das Yeetatchen-Mädchen blickte gedankenverloren auf den Ginster hinab. Sie hatte keine Angst, war nur verwundert. Dies war ihr Land, ihre Traumlandschaft, ausgestaltet von ihrem Geist, und hier fürchtete sie niemanden – aber bisher hatte sich ihr hier auch noch nie jemand so vorsichtig genähert.
Sie ballte die Finger der linken Hand und spürte sie zweifach – einmal unbeschwert und frei, dann wieder mit dem Kristallschädel verbunden. Mit einem Gedanken hüllte sie ihren Körper in eine schimmernde Kristallrüstung und eine Gleve mit kurzem Griff erschien in ihrer Hand, denen der Geister ähnlich, allerdings aus Elfenbein gefertigt.
»Das wirst du nicht brauchen«, rief eine Frau hinter ihr.
Xeliath blinzelte. Das ganze Land schien sich um sie zu drehen, während sie selbst unbewegt blieb. Die Frau, eine rothaarige Farlan, taumelte und wäre beinahe gestürzt, fand dann aber ihr Gleichgewicht wieder.
Sie stützte sich auf einen Spazierstock mit silbernem Knauf und bewegte sich, als sei sie verletzt. Nicht einmal in dieser Traumgestalt schien sie ganz unversehrt.
Ist das eine Finte, oder hat sie einfach nicht die Stärke, so zu erscheinen, wie sie will?
Die Yeetatchen blickte unwillkürlich auf ihren linken Arm hinab, der gesund und makellos erschien. Vielleicht ist das ja auch Eitelkeit, aber wenigstens dies schuldet mir das Land.
»Wer bist du?«, fragte Xeliath, und ihre Stimme schnitt durch den Wind wie ein Schwert durch Rauch. »Was willst du von mir?«
»Bist du Xeliath?«, fragte die Frau. Sie wischte sich das Haar aus dem Gesicht, und Xeliath sah einen schwarzen Handabdruck an ihrem Hals. »Mein Name ist Legana.« Der Wind zerrte an ihrem langen, smaragdgrünen Umhang.
Das Weißauge streckte seine Sinne aus und die Verwunderung nahm zu. »Was bist du?«, fragte sie sich. »Dein Gesicht weist auf Farlan hin und dein Haar darauf, dass du eine Geweihte der Dame bist – warum riechst du dann göttlich?«
Legana kam einen Schritt näher. Der Wind, der sie berührte, verebbte schlagartig. »Ich bin der sterbliche Aspekt der Dame, aber früher war ich eine Spionin für Farlan. Ich möchte mit Lord Isak sprechen, um ihm abschließend Bericht zu erstatten. Dann trete ich aus seinem Dienst aus.«
»Warum sollte ich dir glauben?«, fragte Xeliath.
»Ich habe mich deiner Macht ausgeliefert«, sagte Legana schlicht. »Hier bin ich von deiner Gnade abhängig. Lord Isak kennt mich, er wird mich auch erkennen, aber ich bin nicht stark genug, um ihn unmittelbar zu erreichen.«
»Ist dies dein wirkliches Gesicht?«, wollte Xeliath wissen. Ein Windstoß strich unvermittelt an Legana vorbei und ließ sie zusammenzucken. Als sie den Kopf wieder hob, war ihr Gesicht unverändert, aber jetzt sah Xeliath eine geschwungene Linie aus Erhebungen, die sich um ihren Hals zog.
»Dies ist mein wahres Gesicht. Ich bin nicht mächtig genug, um es vor dir zu verbergen. Könnte ich dies, so würde ich das Mal an meinem Hals verbergen, das von dem Mann stammt, der mich versehrte und meine Göttin tötete.«
Xeliath ließ ihre Gleve los. Die Waffe fiel langsam und verschwand, bevor sie den Boden erreichte. An seiner Stelle erschien ein kleiner Tisch mit einer Kristallkaraffe und zwei Gläsern darauf. »Ich habe ihn benachrichtigt«, verkündete Xeliath. »Wollen wir etwas trinken, während wir warten? Es ist natürlich kein echter Wein, aber wen schert das schon?«
Die beiden Frauen schwiegen eine Weile, während sie sich eingehend musterten. In ihrer Traumlandschaft unterlag Xeliath keiner solchen Lähmung wie in der echten Welt. Leganas Schönheit war ungebrochen, auch wenn ihre Geschmeidigkeit durch das stofflose Wesen der Götter ersetzt worden war.
Als Isak eintraf, verschwand sein verdrießlicher Ausdruck angesichts der Lumpen, die er hier trug, schnell. Er musterte die Frauen eingehend und versuchte gar nicht erst, sein anerkennendes Lächeln zu verbergen. Erst als ihm Xeliath einen bösen Blick zuwarf, der von entferntem Donnergrollen untermalt wurde, kam der Lord der Farlan näher und hob die Hände zum Gruß.
»Legana«, sagte er, als sie den Gruß erwiderte. »Du hast dich verändert, seit wir uns zuletzt trafen.«
»Es gab viele Veränderungen, Lord Isak.« Sie senkte den Kopf, eher um seine Erkenntnis zu bestätigen, als um sich unterwürfig zu zeigen. »Ich bin gekommen, um abschließend Bericht zu erstatten.«
»Abschließend?« Er warf Xeliath einen Blick zu. Sie ruhte nun auf einer grünen, gepolsterten Liege und beobachtete sie beide wie eine Katze. »Du willst nicht länger in meinem Dienst stehen?«
»Ich stehe schon nicht mehr in Eurem Dienst«, stellte sie richtig. »Meine Treue gilt nicht mehr den Farlan.«
»Sind wir dann jetzt … Feinde?« Seine Stimmte klang vorsichtig, gar nicht feindselig, aber trotzdem erschien – wohl ungefragt – Eolis in seiner Hand.
»Nur, wenn Ihr es wünscht, mein Lord«, sagte sie bedacht. »Ich habe mich nicht so sehr verändert, dass ich mich nicht mehr an die Vergangenheit erinnere.«
»Na, dann ist es gut«, antwortete Isak und versuchte entspannt zu wirken. »Ich habe genug Feinde. Lass mich deinen Bericht hören.«
»Vorweg in aller Kürze: Ihr wisst, dass die Dame tot ist.« Ihre Stimme blieb sachlich.
Er nickte, schwieg aber.
»Aracnan tötete sie und mich tötete er auch fast – ich überraschte ihn, als er es gerade so aussehen lassen wollte, als hätte ein Hohepriester einem Dämonen geopfert.«
Sie hielt inne, als sich Isaks Gesicht verfinsterte und der grimmige Blick, der nie fern war, in seinen Augen erschien, während er ihr bedeutete fortzufahren. »Ich traf in Byora auf zwei Männer des Königs aus Narkang, und wir haben Grund zu der Annahme, dass Aracnan Befehle von Azaer erhält, und dass andere Gefolgsleute des Schattens den inneren Kreis der Herzogin von Byora unterwandert haben.«
»Hohepriester, die mit Dämonen spielen? Der Mistkerl wird sich freuen zu erfahren, wessen Taktik er sich da angeeignet hat«, murmelte Isak. »Habt ihr denn Hinweise, was der Schatten vorhat?«
»Nein, und ich bin auch nicht in der Verfassung, mehr herauszufinden.«
»Wie leicht konnten diese Dinge in Erfahrung gebracht werden?« , unterbrach Xeliath. »Isak, es hieß doch, dass in Scree alles von Anfang an abgekartet sei – warum sollte es in Byora also anders sein?«
Legana zögerte erst mit der Antwort, sagte dann aber schließlich: »Ich hatte Glück, seinen Angriff zu überleben, hätte es jedoch beinahe nicht … getan«, gestand sie leise ein. »Ich war erst seit einigen Tagen der sterbliche Aspekt der Dame gewesen, bevor sie mich zum Tempel schickte, in dem ich Aracnan antraf. Sie hat eingegriffen, um mich zu retten und zu spät erkannt, dass er sogar für sie zu mächtig war.«
»Zu mächtig für eine Göttin, in einem offenen Kampf?«, sagte Isak ungläubig. »Das wusste ich nicht.«
Xeliath gab einen Laut der Verärgerung von sich. »Gibt es irgendeinen Sterblichen, der so mächtig ist? Oder einen Unsterblichen – von den Göttern des Höheren Kreises und den Prinzen des Dunklen Ortes abgesehen?«
»Was willst du damit sagen?«
»Dass du ein dummes Wagenzug-Balg bist!«, rief sie aufgeregt. »Aracnan kann niemals aus eigener Kraft so mächtig geworden sein. Er ist nur ein Halb-Gott. Wenn er mächtig genug war, um die Dame in einem offenen Kampf zu besiegen, warum ist er dann nicht in das Pantheon aufgestiegen?«
»Bei Karkarns Horn«, keuchte Legana, als diese Erkenntnis sie traf.
»Was?« Isak sah verwirrt von einer zur anderen. »Was zur Hölle wollt ihr beiden …? Ah. Oh.«
»Genau. Wir wissen, dass einer von Azaers Anhängern einen Kristallschädel besitzt«, sagte Xeliath und bewegte die Finger der linken Hand.
»Legana, du solltest die Runde Stadt so schnell wie möglich verlassen«, sagte Isak. »Du bist ein loser Faden für ihn, und er wird darauf aus sein, solche Enden abzutrennen. Aber zuerst sag mir, warum du nicht glaubst, dass es eine Falle ist.«
»In Scree versuchten sie nicht, die Ereignisse zu steuern, sondern warteten ab, bis sie außer Kontrolle gerieten. Wenn Azaer die Herzogin lenkt, dann greifen sie hier unmittelbarer ein und bauen auf Screes Zerstörung auf. Diesmal wird die Stadt nicht dem Wahn verfallen, sondern es werden sorgsam Schlachtenlinien der unterschiedlichen Mächte aufgestellt.«
»Aber wenn das stimmt, was sollte mich dann davon abhalten, mit der gesamten Farlan-Armee nach Süden zu ziehen und Byora dem Erdboden gleichzumachen? Die Straßen sind frei – und Tor Milist würde es nicht wagen, sich mir in den Weg zu stellen – selbst geeint dürfte die Runde Stadt keinen Sieg erwarten, wenn ich angriffe. Es könnte eine List sein«, wiederholte er, »um mich zu einem übereilten Angriff zu verleiten.«
Legana dachte über Isaks Worte nach, dann riss sie die Augen auf. »Weil Azaer nicht allein sein wird! In Byora sind unzählige Gerüchte über Tor Salan im Umlauf. Die Menin haben die Stadt erobert und bereiten sich darauf vor, nach Norden zu marschieren. Die Runde Stadt ist so schwach wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Lord Styrax kann die einzelnen Stadtteile einen nach dem anderen einnehmen. Er wird sie auch brauchen, wenn er Raland und Embere erobern will.«
Isak fluchte. »Sie werden die Runde Stadt lange vor uns erreichen, selbst wenn wir sofort aufbrächen. Hat der Schatten dies herbeigeführt, oder nur vorhergesehen?«
»Auf jeden Fall könnt Ihr Azaer nicht angreifen, ohne Euch mit den Menin anzulegen.«
Der Weißaugenlord lachte plötzlich auf, trotz seiner Jugend, die voller Weltschmerz und Bitterkeit war.
»Und so holen mich meine alten Sünden ein. Ich befürchte, es wird nicht möglich sein, diesen Konflikt zu vermeiden – morgen früh verabschiede ich öffentlich eine Armee unter Lordprotektor Torls Kommando!« Isak sah mit ernstem Gesicht beiseite. »Auf mein Drängen hin haben die Bruderschaft der heiligen Lehre und die neuerdings so gewaltbereiten Kulte der Farlan einen Kreuzzug gegen Lord Styrax ausgerufen. Es wird keinen Preis dafür geben, dass Ihr erraten könnt, wo sich diese Heere treffen werden.«