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Oberst Bernstein trat aus seinem Zelt und sah sich im Menin-Lager um. Der Wind fegte über die Zeltreihe hinweg in sein Gesicht hinein, und er zuckte zusammen, als ihm ein Stück Dreck in das Auge geweht wurde. Er blinzelte es verärgert weg und rieb mit dem Fuchsfellkragen seines schweren, schwarzen Mantels darüber. Seinem Lord wollte er nicht mit Tränen in den Augen gegenübertreten. Am heutigen Tage sollte kein Menin auch nur einen Schimmer von Schwäche zeigen.

Die Sonne verbarg sich irgendwo am düsteren Horizont und versteckte sich hinter einer dicken, grauen Decke, so wie es auch Bernstein eigentlich hätte tun sollen. Er zog den Mantel enger um sich, weil der Wind fortwährend an jedem entblößten Stück Haut nagte, einschließlich der Ohren, die der stählerne Halbhelm nicht bedeckte.

Die Menin hatten ihr Lager am Fuße eines baumbewachsenen Hügels errichtet, am Westufer eines angeschwollenen Flusses, dessen Namen Bernstein nicht kannte. Er war erst vor zwei Tagen hier vor der Stadt Tor Salan zum Heer gestoßen. Die Menin marschierten nordwärts, während er von Scree nach Süden geflohen war.

»Oberst!«, rief jemand über den Lärm des Lagers hinweg. Bernstein blieb stehen und sah Hauptmann Hain durch den Schlamm auf sich zueilen. Mit dem Brustpanzer und den Schulterplatten, die Hain – ebenso wie Bernstein – angelegt hatte, wirkte der stämmige Hauptmann noch breiter als sonst schon. Hain trug den Helm unter dem Arm, aber als er Bernstein erreichte, wies der Oberst mit Bestimmtheit darauf und Hain errötete. Er schlug die Kapuze seines Mantels zurück, wobei er versuchte, nicht im Wind zu erschaudern, der sie umtoste, und setzte den Helm auf. Der Befehl war eindeutig gewesen: Sie sollten zu jeder Zeit wie die furchtlosen Krieger aussehen, als welche die Menin bekannt waren – und das bedeutete leider, jederzeit voll gerüstet zu sein und so zu wirken, als machten einem Widrigkeiten nichts aus, egal, wie kalt es wurde, vor allem, wenn ihr Lord in der Nähe war.

»Guten Morgen, Hauptmann.« Bernstein hob einen gepanzerten Arm, damit Hain seine Armschiene dagegenschlagen konnte, wie es als Gruß unter Soldaten üblich war. Aber er war deutlich größer als sein Untergebener und bemerkte, dass er seiner alten Angewohnheit folgte und seinen Arm so hoch hielt, dass sich Hain geradezu strecken musste, um ihn zu erreichen.

Es ist doch seltsam, dass wir nur in manche alten Angewohnheiten so leicht verfallen, dachte er. Ich habe die Hälfte meines Lebens diese schwere Rüstung getragen, und doch kommt es mir seit meiner Rückkehr so vor, als gehörte sie einem anderen Mann.

»Ist es denn ein guter Morgen?«, antwortete Hain. Seit er den Helm aufgesetzt hatte, trug er das gleiche grimmige und graue Gesicht zur Schau wie Bernstein selbst, doch der Oberst konnte durch die schmale Öffnung über Hains Mund dessen abgebrochenen Zahn sehen, als der Mann nun lächelte. »Sieht in meinen Augen weder nach gut aus noch nach Morgen.«

Oberst Bernstein schlug ihm auf den Rücken. »Ich weiß nicht, so wie es aussieht, wird es für dich ein guter Morgen werden.« Er führte ihn den Hang hinauf. Vor sich sah er die Rücken von Lord Styrax und General Gaur, die durch den Morgennebel auf Tor Salan hinabblickten.

»Da könntet Ihr Recht haben, Herr – und das habe ich Euch zu verdanken«, sagte Hain beschwingt. Die Zeichen auf seiner Schulterplatte und seinem Helm wiesen Hain als Mitglied der Dritten Cheme aus, Lord Styrax’ Lieblingslegion, und Bernstein hatte Hain für besondere Aufgaben empfohlen. Das Ergebnis seiner ersten Aufgabe würde sehr offensichtliche Auswirkungen haben.

»Ein Soldat schmiedet sein Glück selbst, das weißt du. Außerdem hatte ich ein paar Hauptmänner übrig und konnte dir ja schlecht den Befehl über meine Division überlassen – dann hätten die Männer den ganzen Sommer nur rumgehurt.«

Hain lachte. »Ich bin ein glücklich verheirateter Mann, Herr, ich weiß gar nicht, wovon Ihr sprecht. Ich hoffe, Ihr liegt mit Eurem Urteil über den heutigen Tag richtig, aber ich zähle meine Jungfrauen erst, wenn ich tot bin, wie die Chetse sagen würden.«

»So etwas sagen sie?«, fragte Bernstein verwundert.

Hain zuckte die Achseln. »Kann schon sein, sie sind ein seltsamer Haufen.«

Als sie in Hörweite von Lord Styrax gelangten, verstummten sie. Instinktiv musterte Bernstein die Gestalten, die sich auf der Anhöhe neben Lord Styrax versammelt hatten. Dieser überwachte seine jüngste Dreistigkeit, deren Durchführung von einem bestimmten Hauptmann der Dritten erleichtert worden war. General Gaur stand natürlich nah bei seinem Lord, und Kohrad Styrax, der Sohn des Lords, stand zwischen ihnen und einer Gruppe von Männern in prächtigen grünen und blauen Umhängen – Abgesandte von Sautin und Mustet, so hatte Bernstein gehört.

Sie alle blickten nervös auf zwei Regimenter, die in Quadraten am Fuß der Anhöhe Stellung bezogen hatten. Bernsteins Augen nahmen die Banner am Kopf jeder Einheit sofort wahr. Er erkannte erschrocken, dass es seine eigenen Männer waren, etwa zwei Drittel seiner fünfhundert Mann starken Division. Über ihnen flatterten längere Banner, auf denen der mit Fängen versehene Schädel Lord Styrax’ ein blutiges Zeichen vor dem stumpfen Himmel darstellte.

Das ist interessant. Da mich niemand geholt hat, um hier mit meinen Männern aufzumarschieren, werde ich wohl nicht so bald zu meinen üblichen Pflichten zurückkehren.

Im Vergleich zu anderen Legionen besaß die Elitetruppe der Dritten Cheme anderthalb Mal so viele Offiziere. Die erste Division der Dritten unterstand Oberst Bernsteins Befehl, und Oberst Ferek Darn war nach einer bemerkenswerten Tat zu seinem Stellvertreter berufen worden. Auf diese Weise konnten sie beide für besondere Aufgaben abkommandiert werden, ohne dass die Befehlsstruktur zusammenbrach.

Hinter den verschiedenen Ehrenmännern, einschließlich Bernsteins eigenem Kommandanten Kolonel Uresh, der mit General Vrill und einer Gruppe von grau gekleideten Männern zusammenstand, die wahrscheinlich Teil von Hains Unternehmung waren, sah er auch ein Regiment der Blutgeschworenen reglos und schweigend dastehen. Diese fanatischen Reiter boten mit ihrer Rüstung, die bis auf den leuchtend roten, fangbewehrten Schädel gänzlich schwarz war, einen furchterregenden Anblick.

Das ist also die Botschaft für die Abgesandten, dachte Bernstein, während er Hauptmann Hain um Gaur herumführte und sie vor ihrem Lord niederknieten. Seht nur genau hin. Alles, was ihr herausfinden werdet, ist, dass wir in jeder Hinsicht so mächtig und so schrecklich sind, wie ihr gehört habt. Dies ist ein weiterer Kampf, den wir mühelos gewinnen werden. Und nun stellt euch mal vor, was wir erreichen können, wenn wir uns anstrengen. Bernstein hatte genug vom Lager gesehen, um zu erkennen, dass Lord Styrax nur einen Teil des Dritten Heers hier versammelt hatte, vielleicht sieben Legionen.

Den Männern in den grauen Umhängen wurden nun Pferde gebracht. Sie alle wirkten darauf klein und dick, einige sogar zu fett, um sich überhaupt in der Nähe eines Schlachtfeldes aufzuhalten  – aber sie stiegen alle mühelos auf. General Gaur sagte etwas zu ihnen, dann wurde ihnen das Banner eines Unterhändlers gereicht und daraufhin ritten sie auf die Stadt zu.

»Meine Herren«, begrüßte Lord Styrax die Neuankömmlinge mit tiefer, grollender Stimme. Bernstein fühlte Stolz, als Hain und er sich verbeugten. Nur wenige Berufssoldaten würden jemals auf diese Weise angesprochen werden, es war eine Ehre, die man sich verdienen musste. »Hauptmann Hain, wird alles wie geplant verlaufen?«

»Ja, mein Lord«, antwortete Hain im Aufstehen.

Lord Styrax war fast einen halben Meter größer als Bernstein und dazu bedeutend breiter gebaut, aber er bewegte sich mit einer Geschmeidigkeit, wie sie nur wenigen großen Männern gelang. Sein Gesicht wirkte im schwachen Morgenlicht bleich, war aber weder von der Zeit, noch von Sorgen und auch nur von einer einzelnen, schmalen Narbe gezeichnet. Sogar nach den Jahren im Dienst des Lords war Bernstein noch immer vom Anblick des riesigen Weißauges beeindruckt.

Einmal mehr erinnerte er sich an die Worte seines Schleifers am ersten Tag der Ausbildung im Heer: »Das Wichtigste, was du heute lernen musst, ist, dass es immer jemanden gibt, der besser ist als du. Egal, wie stark und schnell du sein magst, es gibt immer einen Besseren, darum ist Übermut der schnellste Weg ins Grab.«

Ein junger Rekrut hatte nervös gefragt: »Was ist mit Lord Styrax?«

Statt den Jungen zusammenzustauchen, wie es Bernstein erwartet hatte, hatte der Ausbilder nur genickt. »Unser Lord ist die Ausnahme zu jeder Regel. Er steht über uns allen.« Diesen Moment hatte Bernstein niemals vergessen, und die Worte des Ausbilders waren heute ebenso wahr wie damals.

»Oberst Bernstein, gut dass Ihr wieder hier seid. Auch wenn sich die Dinge nicht ganz so entwickelt haben, wie wir hofften.«

Bernstein wurde von Lord Styrax’ Worten wieder in die Gegenwart gerissen. »Ah, nein, mein Lord, ganz und gar nicht wie geplant, aber ich habe trotzdem eine Menge gelernt.«

»Hervorragend, man sollte immer für eine Lektion offen sein, sogar so alte Männer wie ich.« Das Weißauge lächelte Bernstein kurz an, dann wandte er sich den Männern aus Sautin und Mustet zu. »Abgesandter Jerrer, Hohepriester Ayel, stimmt Ihr mir da zu?«

Kohrad neigte sich leicht zur Seite, damit die Männer mit seinem Vater sprechen konnten. Bernstein musterte ihre Gesichter. Jerrer versuchte offensichtlich immer noch zu ergründen, warum man ihm hier eine Belagerung vorführte; es war unmöglich, die Gedanken des Hohepriesters Vasles zu erahnen. Bernstein hatte widersprüchliche Gerüchte darüber gehört, was mit den Priestern des Landes geschah, aber keines von ihnen war ihm sonderlich einleuchtend erschienen.

»Welche Lektion wollt Ihr uns heute erteilen?«, fauchte Hohepriester Ayel. Er war ein großgewachsener, stolzer Mann, der für seine Stellung sehr jung und noch nicht von den Jahren des Dienstes ausgezehrt schien. »Kardinal Afasin wird durch diese Zurschaustellung Eurer Stärke keine Angst bekommen, nicht so, wie sie jetzt wirkt. Euer Heer scheint mir erstaunlich klein dafür zu sein, dass Ihr eine so reiche und mit Söldnern vollgestopfte Stadt wie Tor Salan belagern wollt.«

»Ha! In dieser Stadt arbeiten die Leute so gut zusammen wie ein ganzer Sack voller wilder Katzen«, gab Kohrad Styrax zurück und Bernsteins Hand zuckte schon zum Knauf seines Säbels. Das junge Weißauge schien wieder zurück zu seiner alten, reizbaren und jederzeit streitlustigen Form gefunden zu haben, was ein großer Fortschritt war. Das letzte Mal, als Bernstein ihn gesehen hatte, hatte er in Thotel, der Chetse-Hauptstadt, nur ohnmächtig dagelegen. Die Menin waren in dieser schrecklichen Nacht gezwungen gewesen, ihre eigenen Leute abzuschlachten.

»Nun, Erbe Styrax«, fuhr Ayel mit vor Wut aufgerissenen Augen fort. »Ich lade Euch ein, auf Mustet zu marschieren, wenn Ihr eine Lektion darin erhalten möchtet, wie man eine Verteidigung aufbaut. Die Ritter der Tempel geben Euch gerne eine umfassende Lehrstunde.«

Bernstein blieb die Spucke weg. Ihr Götter, dieser Priester ist irrsinnig. Man zeigt nicht, dass man vor wütenden Weißaugen keine Angst hat!

»Da das Siegel an dieser Rolle gebrochen wurde, muss ich annehmen, dass Ihr mein Angebot bereits gelesen habt«, sagte Lord Styrax ohne eine Spur von Ärger, während sich sein Sohn vor dem Magier aufbaute.

»Ich habe es gelesen und meine …«

»Antwortet noch nicht«, unterbrach Styrax den Hohepriester scharf, bevor dieser einen zu großen Fehler begehen konnte.

Ayel war zwar rot vor Wut, aber er verstummte doch unter Lord Styrax’ grimmigem Blick. »Sagt nichts, was Ihr später bereuen würdet. Ihr werdet noch heute aufbrechen, um Kardinal Afasin das Angebot zu überbringen.«

Kardinal Afasin? Bernstein lächelte grimmig in sich hinein. Als ich das letzte Mal von ihm hörte, war der Mistkerl noch General Afasin. Es ist nie ein gutes Zeichen, wenn sich ein Weißauge Religion zuzieht. Ich glaube auch nicht, dass Ritter-Kardinal Certinse darüber sehr erfreut sein wird. Was sagt das über den Zustand der Ritter der Tempel aus, dass sich Afasin lieber Priester als Soldat nennt?

»Heute?«, fragte Abgesandter Jerrer. »Wir waren eine Woche hier – warum schickt Ihr uns jetzt weg?« Der Sautin-Unterhändler war ein unauffälliger Mann: ergrauend, mittelalt, mit mattblauen Augen. Seine Kleidung wirkte eher praktisch, nicht elegant, was bedeutete, dass er entweder ein Lakai war und als Beleidigung geschickt worden sein musste, oder als eine Art von Meisterspion. Nach einigen Augenblicken des Musterns verlegte sich Bernstein darauf, das Letztere anzunehmen. Der Mann konnte auf keinen Fall so harmlos sein, wie er wirkte.

»Warum heute?«, wiederholte Styrax. »Weil heute der Tag sein wird, an dem ich meine Standarte von den Himmelssäulen wehen lasse.«

»Heute?«, fragte Ayel patzig und trat vor seinen Genossen. Ein Knurren von General Gaur verhinderte, dass sich der Hohepriester weiter näherte, aber er fuhr fort: »Ihr müsst mit der Belagerung der Stadt erst noch beginnen. Der Patriarchenrat hat nur zur Vorsicht das Tor versperren lassen.« Er wies mit dem Finger, der in einem roten Handschuh steckte, auf Tor Salan. »Ich habe die Hände des Riesen ihr Werk verrichten sehen … sie werden Euer Heer im Nu kleinkriegen.«

Bernstein folgte Ayels Fingerzeig und sah fünfzehn gleichmäßige Hügel, die sich aus dem Boden vor Tor Salan erhoben. Aus dieser Entfernung wirkten sie nicht sonderlich bedrohlich, aber wenn das Menin-Lager näher dran gewesen wäre, hätte sich die Gefahr gewiss offenbart. Er stellte sich Lord Styrax’ Festung im Heimatland der Menin vor. Sogar aus der Entfernung waren die schwarzen Tore von Crafanc ein furchterregender Anblick – und es wurde noch schlimmer, je näher man kam.

Styrax bedeutete Ayel mit erhobener Hand zu schweigen. »Ich muss zugeben, dass ich die Hände des Riesen noch nie bei der Arbeit gesehen habe, aber ich habe mich ausführlich mit Berichten darüber befasst. Tor Salan, die Stadt der tausend Magier. Und sie besitzt einige einzigartige Verteidigungsanlagen. Diese riesigen Arme aus Kupfer, Stahl und Stein müssen in der Tat ein beeindruckender Anblick sein, immerhin schießen sie weiter und genauer als jede Blide – und das alles wird von den Magiern Tor Salans mit Magie betrieben.«

»Und sie haben mehr Munition zur Hand, als sie für dieses kleine Heer brauchen«, fügte Ayel selbstgefällig hinzu.

»Ich würde ja vor Angst zittern«, sagte das riesige Weißauge weihevoll, »aber ich muss eine Stadt erobern. General Gaur, lass vorrücken.«

Bernstein erschrak, als die tieftönenden Hörner geblasen wurden. Er hatte nicht erwartet, dass man irgendwelche Truppen in die Schusslinie marschieren ließe. Auf die Hörner folgte wenig später das dumpfe Dröhnen der Kriegstrommeln der Menin. Zwei Trommlergruppen arbeiteten zusammen, trotz des kalten Wetters ohne Hemd, und sie waren um die über zwei Meter hohen Trommeln versammelt, die von großen, ochsenähnlichen Tieren aus der Brache getragen wurden. Bernstein erschauderte unter dem hypnotischen Rhythmus, einem Nachhall der langen Jahre des Kämpfens.

Neben ihm grinste Hauptmann Hain noch breiter als zuvor.

»Lass den abgebrochenen Zahn verschwinden«, riet Bernstein leise, als die Blutgeschworenen lostrabten. Es überraschte ihn nicht, dass seine eigenen Truppen die Position hielten. Selbst mit Oberst Darn als Kommandant war es undenkbar, dass er bei einem Kampf nicht in ihren Reihen stehen sollte.

Die beiden Männer blickten auf Tor Salan, hielten angestrengt nach Bewegungen dort Ausschau, während die Kavallerieregimenter dem Angriffsbefehl folgten und auf die Stadt zuritten. Binnen einer Minute erklang in der Stadt ein Ruf, der eine Antwort auf ihre Herausforderung war.

»Hier kommt Eure Lehrstunde«, fauchte Ayel. »Studiert sie gut!«

Bernstein entdeckte kurz etwas Verärgerung im Gesicht Styrax’, was ein seltener Anblick war und durchaus ausreichte, um alle zu warnen, die den Weißaugenlord kannten. In einem einzigen Wimpernschlag trat Lord Styrax zurück, zog sein Breitschwert Kobra, drehte sich mit unglaublicher Geschwindigkeit herum und stürzte vor, alles dies in einer fließenden Bewegung.

Hauptmann Hain keuchte angesichts der erstaunlichen Geschwindigkeit des Lords auf und niemand bewegte sich, als Lord Styrax dastand, den Arm über die Schulter des Hohepriesters ausgestreckt.

Dann wich Ayel zurück, umklammerte seinen Kopf und kreischte weibisch auf, während er auf die Knie fiel. Bernstein blickte auf das Schwert des Lords. Zwischen den handlangen Fängen an der Spitze des Schwerts steckte das Ohr des Hohepriesters, und zwar so sauber abgeschnitten, als habe es ein Feldscher abgetrennt.

»Kohrad«, grollte Lord Styrax. »Hilf ihm auf und erklär ihm mal die Angelegenheit, ja?« Mit einer geübten Bewegung schleuderte er das Ohr von der Spitze in die mit spärlichen Büscheln bedeckte Wiese. Das wenige Blut, das auf der magischen Klinge zurückblieb, sog das Metall rasch und gierig auf.

Das jüngere Weißauge sprang vor, packte Ayel am Kragen und zog ihn auf die Füße. Er verpasste dem Mann Ohrfeigen, bis seine Schmerzenslaute verstummten und zu Schluchzern wurden. »Es ist lediglich eine Geste des guten Willens deinem Lord gegenüber, dass du noch lebst«, blaffte Kohrad, das Gesicht keine Handbreit vor Ayels. »Aber ich verspreche dir, dass ich dich an die Minotauren verfüttern werde, wenn ich dich noch mal sehe, nachdem du Afasin die Nachricht überbracht hast.

Jetzt steh aber auf und sieh genau hin, was hier heute passiert, damit du jede Einzelheit wahrheitsgemäß wiedergeben kannst. Vielleicht belehrt dich das eines Besseren, und du wirst die Menin nicht wieder unterschätzen. Du glaubst, wir sind Wilde, weil wir die Brache durchquert haben? Du glaubst, wir sind Idioten, nur weil wir nicht aus dieser Gegend stammen?«

Bernstein hörte verschliffene Worte des Widerspruchs, etwas Gebettel, aber es verstummte schlagartig, als Kohrad dem Hohepriester die gepanzerte Faust in den Magen schlug.

»Hast du schon mal von Eraliave gehört? Dem Elfengeneral? Nein? Manch einer sagt, er sei sogar noch besser als Aryn Bwr gewesen, weil er bis ins hohe Alter überlebte.«

Kohrads Augen glühten vor Eifer. Als Bernstein das Menin-Heer im letzten Sommer verlassen hatte, um nach Norden zu reisen, hatten die Medici und Magier versucht, die magische Rüstung zu entfernen, die Kohrad in einen irrsinnigen Blutrausch trieb. Bernstein hatte gehört, diese Erfahrung hätte Kohrad in einen Schatten seiner selbst verwandelt, aber nun sah er, dass doch noch ein Funke in ihm glomm.

»Und im hohen Alter schrieb Eraliave die klassischen Abhandlungen über die Kriegskunst«, fuhr Kohrad fort, während er Ayel nach vorne zu einem guten Aussichtspunkt schleifte. »Einer seiner Lieblingsaussprüche passt auf unsere Lage besonders gut: Ein guter General erkennt den Schwachpunkt seiner Feinde und greift dort an; ein wahrhaft schlauer Geist erkennt den stärksten Punkt seines Gegners und zerstört ihn.«

»Genau diese Worte hat Lord Styrax an mich gerichtet«, flüsterte Hain Bernstein zu, »als er mir meinen Auftrag erteilte.«

»Das war deine Idee?«

Hain schüttelte kaum merklich den Kopf. »Das würde ich gerne behaupten können, aber er wies mir den Weg dorthin mit diesen Worten. Nur ein Narr hätte das falsch verstehen können.«

Und so beginnen die Lektionen, wie man weiter denken kann als ein einfacher Soldat, dachte Bernstein spöttisch. Ich erinnere mich noch gut an sie. Leider sind nicht alle von ihnen so angenehm.

Jedes weitere Gespräch wurde von einem neuen Geräusch unterbunden, das von der Stadt herüberklang. An jedem der Hügel zeigte sich Bewegung. Auf diese Entfernung waren kaum Einzelheiten zu erkennen, aber da er genug über die Verteidigungsanlagen Tor Salans gehört hatte, konnte Bernstein sich recht genau vorstellen, was dort gerade vor sich ging.

Am Boden lag ein gewaltiger ausklappbarer Arm aus Stahl, Stein und Kupfer, fünfzehn Meter lang. Die »Schulter« dieses Arms war mit einem massiven, verstärkten Steinwall verbunden, von dem vier unterirdische, niedrige Gänge abgingen, die an Kanäle erinnerten. Im vorderen Bereich befand sich ein thronähnlicher Steinsitz, auf dem der leitende Magier mit Sicht auf die Ebene saß. In jedem der Kanäle wartete ein Dutzend Magier, das dem leitenden Magier all seine Macht zur Verfügung stellte. Der sammelte sie und bewegte damit den Arm. Wenn wilde Magieströme durch die Kupferstäbe des Arms liefen, fingen die riesigen Finger zu zucken an, um sich dann zu schließen, wenn der ganze Arm sich hob. Binnen Augenblicken wäre er bereit, Steine von den Haufen zu nehmen, die unordentlich um die Stellung verteilt lagen, und sie mit unglaublicher Zielgenauigkeit auf die herannahenden Heere zu schleudern. Die Hände des Riesen würden die Truppenzahl schnell erheblich verringern und die vollständige Vernichtung folgte auf dem Fuße.

»Guck mal da, da ist der Erste, ganz rechts«, flüsterte Hain.

Einer der Arme hob sich mit einer ruckartigen Bewegung in die Luft. Von ihrer Warte aus erinnerte es an eine Weizenähre, die sich aus dem Feld nach oben streckte. Nein, berichtigte sich Bernstein, nichts so Friedliches. Eher ein Hund, der die Bürste oder ein Stachelschwein, das seine Stachel aufstellt.

In schneller Folge zuckten auch die anderen Hände hoch. Bernstein konnte sich kaum vorstellen, wie viel Magie nötig war, um ein solches Gewicht zu bewegen. Er vermutete aber, dass jeder Magier sein Äußerstes geben musste.

Während die Reiterei in enger Formation auf die Hände des Riesen zutrabte, hatten die Männer in Grau mit dem Unterhändlerbanner die halbe Strecke zurückgelegt. Sie ritten schnell, als wollten sie um jeden Preis vor den Soldaten bleiben.

Wollen wir hoffen, dass der Hund nicht nervös wird und in die erstbeste Hand beißt, die er entdeckt, dachte Bernstein.

Die riesigen Waffen zuckten, als die Männer in Grau die Reichweitenmarkierung passierten und weiterritten. Einige bogen sich mit erstaunlicher Geschmeidigkeit und Schnelligkeit hinab, um Felsbrocken zu ergreifen und sich dann in Wurfposition zurückzubeugen. Die Knöchel ruhten auf dem Boden, damit die Magier das Gewicht nicht zu lange halten mussten.

»Kommt schon, ihr Mistkerle«, keuchte Hain und lehnte sich vor. »Wartet auf eure Befehle, bevor ihr schießt, ich will das nicht Lord Styrax erklären müssen.«

Bernstein konnte nicht anders, als zu grinsen. Die Momente verstrichen, und Hains Gebete wurden erhört, denn die Grauen passierten unbehelligt, ohne dass ein Regen aus riesigen Felsbrocken auf sie niederkam.

Die Blutgeschworenen und die Reiterei befanden sich noch vor der Tausend-Schritt-Markierung und würden anhalten, bevor sie diese erreichten, denn sie stellten ja nicht mehr als eine Finte dar. Der Kampf – und die Belagerung – würde von dieser Handvoll Männer in grauen Umhängen gewonnen werden. Bernstein hielt den Atem an, als die Delegation einen sicheren Punkt erreichte und anhielt, vorgeblich, um auf Abgesandte aus der Stadt zu warten und ein letztes Mal mit ihnen zu verhandeln.

Doch bevor die Söldnerhauptmänner Tor Salans ein Begrüßungskomittee zusammenstellen konnten, zogen die Männer Hörner unter ihren Umhängen hervor und spielten eine Reihe kurzer Töne darauf. Bernstein war zu weit entfernt, um die Melodie zu erkennen, aber das brauchte er auch nicht – er hatte die gleichen Befehle vernommen, als sie auf Thotel marschiert waren. Es waren Befehle der Chetse-Armee, auf den Langhörnern gespielt, die sich um den Körper des Spielers wanden.

Der Ruf zu den Waffen wurde zweimal in schneller Folge gespielt und in der Stille, die darauf folgte, warfen die Männer ihre Umhänge ab. Erst geschah gar nichts, dann wandten sich die Reiter um und eilten auf die nächstgelegene Hand zu. Das Land hielt wie Bernstein den Atem an, wartete auf den Moment, da es umschlug – der in Form plötzlicher Geschäftigkeit an den Händen des Riesen kam, als sich die Fußsoldaten, die zum Schutz der Magier da waren, zu Verteidigungsreihen zusammenzogen.

»Ihr habt Handlanger vor Ort?«, vermutete Abgesandter Jerrer und trug dabei einen Ausdruck leidenschaftsloser Neugier im Gesicht. »Aber wie sollen sie mit so vielen Magiern fertigwerden? Und den Soldaten, die sie schützen? Es wird doch sicher keine ganze Armee sein.«

»Eine Handvoll, nicht mehr«, antwortete Lord Styrax mit Blick auf die Stadt. Es war offensichtlich, dass dort gekämpft wurde. Wenig später öffnete sich das Haupttor von Tor Salan und weitere Truppen strömten heraus.

»Ich gebe zu, ich bin ratlos, mein Lord«, sagte der Botschafter. Bernstein hörte eine Spur Bewunderung in Jerrers Stimme.

»Es ist sehr einfach, Abgesandter. Die Verteidiger Tor Salans sind zu Recht der Meinung, ihre unlängst angeheuerten Chetse-Söldner seien für die Aufgabe, die wichtigsten Waffen zu schützen, besonders gut geeignet.«

»Und damit lagen sie falsch?«

»Unter herkömmlichen Umständen nicht, nein. Doch dies sind keine herkömmlichen Umstände, nicht wahr? Die von mir ausgeschickte Vorgruppe bestand nicht aus Boten, Abgesandter. Es waren vielmehr die Tachrenn der Zehntausend, angeführt von General Dev höchstselbst.«

»Die Zehntausend?«, fragte Jerrer fassungslos, als er begriff, was vor sich ging. »Ihr habt den Chetse-Soldaten erlaubt, nach Norden zu ziehen und sich als Söldner zu verdingen und habt dabei sichergestellt, dass genug der Zehntausend unter ihnen waren, damit sie einen Widerstand aufbauen konnten? Und kaum sehen sie ihre Generäle unter Eurem Banner, da wenden sie sich gegen die verbleibenden Truppen, ihre einstmaligen Kameraden, und erschlagen die Magier? Aber dort gibt es Hunderte von Magiern! Lord Styrax, Eure Verluste müssen doch gewaltig sein?«

»Hauptmann Hain?«

Hain zuckte zusammen. Er hatte nicht erwartet, dass man ihn für die Erklärung des Plans heranzog, aber als sich ihm alle Gesichter zuwandten, fasste er sich ein Herz und erklärte: »Lord Styrax deutete an, dass ein so großer Energieaufwand, wie er für die Hände des Riesen nötig sein muss, nur mit Ritualen und der sorgfältigen Bindung der Kraft möglich wäre. Unsere Nachforschungen ergaben, dass die Magier miteinander verbunden sind und diese Verbindung nur schwer und nicht allzu schnell wieder lösen können.« Er räusperte sich laut und fühlte sich sichtlich unwohl.

Bernstein litt mit dem Mann. Er war für den Kampf geschult worden, hatte nie gelernt, wie man vor einer Versammlung von Ehrenmännern und einem Helden des Stammes einen Vortrag hält. Niemand sah zu Bernstein hin, darum zeigte er dem Hauptmann den erhobenen Daumen.

Hain nickte kaum merklich, gab sich einen inneren Ruck und fuhr fort: »Die magische Kraft wird vorrangig im Arm selbst gesammelt. Sie fließt von den verbundenen Magiern in die Kupferstäbe und wird dort verwahrt. Mit genug Soldaten können die Magier ausgeschaltet werden, bevor sie eine nennenswerte Gegenwehr aufbauen können.«

»Ausgeschaltet …« Jerrer schien über dieses Wort erstaunt, als wäre ihm abgeschlachtet lieber gewesen.

»Wir befinden uns im Krieg«, sagte General Gaur mit tiefer, grollender Stimme. »Wenn der Patriarch des Mosaikrates nicht ein größerer Idiot ist, als unsere Nachforschungen nahelegen, wird er die Stadt übergeben – und es kostet nur einige Hundert das Leben.«

»Dennoch, Tor Salan ist ein Rückzugsort für Magier – sie werden in allen Schichten der Gesellschaft gebraucht …« Jerrer ließ die Worte verklingen.

Magier waren das Rückgrat vieler Gesellschaften. Der Rest des Landes würde sich merken, was in Tor Salan geschah.

»Das wird ein Exempel statuieren«, antwortete Gaur. »Es ist eine Torheit, sich Lord Styrax zu widersetzen. Das Ausmaß der Beschädigung in jedem einzelnen Stadtstaat hängt davon ab, wie lange sie brauchen werden, um dies einzusehen.«

Der Tiermensch war wie immer gelassen. Bernstein hatte schon mehr Weinschläuche als genug mit dem General geleert, aber er war nie in der Lage gewesen, seine Stimmung aus seinem Gebaren abzulesen. Man bemerkte, wann der Halbmensch nachdachte, denn dann bewegte sich sein Kiefer unablässig. Aber davon abgesehen übertraf Gaur sogar die Dharai, die Kriegsmönche der Menin, an Gelassenheit. Bernstein sah zum Schlachtfeld hinab, konnte aber nur undeutlich Bewegungen erkennen, vermutlich die Chetse-Söldner, die ihre früheren Verbündeten niederstreckten. Hier und da wiesen Lichtblitze darauf hin, dass sich zumindest einige der Magier hatten lösen können und sich nun wehrten, aber das magische Leuchten blieb vereinzelt. Eine nach der anderen erbebten die Hände des Riesen und krachten dann zu Boden.

Die Menin-Reiterei spaltete sich in zwei Teile auf und ließ eine Bresche in der Mitte der Überschwemmungsebene. Sobald sie die Hauptverteidigung der Stadt ausgeschaltet hätten, würden die Chetse einfach davonmarschieren und eventuelle Verfolger konnten von der Menin-Reiterei aufgehalten werden.

»Hauptmann«, rief General Gaur. »Lasst das Pferd unseres Lords holen.«

Hain salutierte, winkte jemanden herbei und binnen weniger Augenblicke standen Pferde für die ganze Gruppe bereit, angeführt von einem gewaltigen Schecken, der Lord Styrax’ Farben trug. Das Pferd war volle neunzehn Hand hoch und trug einen stählernen Kopfschutz, an dem zu beiden Seiten lange Fänge hervorragten und so Styrax’ Standarte imitierten.

Während sie aufsaßen nutzte Bernstein die Gelegenheit, um Hauptmann Hain zuzuflüstern: »Sagst du mir jetzt, warum du so sicher bist, dass sie sich schnell ergeben werden?«

Alle Sondereinsätze unterlagen der Verschwiegenheit, die auch höheren Rängen gegenüber galt. Hain hatte die Einzelheiten seiner Unternehmung nur zu gerne vor seinen Vorgesetzten verheimlicht, damit sie eine Überraschung blieben. Er grinste. »Der Patriarch wird den Befehl geben, ohne sich mit dem ganzen Rat zu besprechen, er bespricht sich vermutlich bereits jetzt mit seinen wichtigsten Beratern. Sobald er sieht, dass seine sechstausend Chetse vor Lord Styrax das Knie beugen, wird er erkennen, dass er nichts ausrichten kann.«

»Es wird keine einfache Aufgabe sein, die Stadt einzunehmen, trotz dieser Machtverlagerung.«

»Darum wollen wir ihm gar nicht erst die Zeit geben, allzu genau nachzudenken.«

»Können wir es erzwingen?«

»Sobald wir unterwegs sind, wird man die Nachricht überbringen. Ich hörte, dass der Raylin, den sie Aracnan nennen, in Scree war, darum konnten wir ihn für diese Aufgabe nicht auftreiben. Aber Lord Larim wird es ebenso gut hinbekommen.

»Larim ist bereits in der Stadt?«

»Das Weißauge in ihm freut sich darauf, sich zur Abwechslung mal die Hände selbst schmutzig zu machen.«

Während sie Lord Styrax auf die Ebene folgten, stellte sich Bernstein Lord Larim vor, den jungen Erwählten Larats, des Gottes der Magie. Larats Anhänger zogen es gemeinhin vor, anderen das Töten zu überlassen. Larim würde diese Aufgabe ohne Zweifel sehr unterhaltsam finden.

»Aber was, wenn der Patriarch nicht tut, was man ihm sagt?«

Hain zuckte mit den Schultern, und Bernstein begriff, dass er eine dumme Frage gestellt hatte.

»Dann tötet Larim ihn und gibt den Befehl für den Angriff. Egal, wohin sich Lord Styrax als Nächstes wenden will – nach Westen auf Narkang oder nach Norden auf Tirah zu –, wir müssen die beiden großen Handelsstadtstaaten auf jeden Fall beherrschen, und wenn sich Tor Salan nicht ergibt, dann werden wir hier so viel Zerstörung anrichten, dass die Runde Stadt nicht einen Augenblick daran denken wird, sich uns zu widersetzen.«

»Sautin und Mustet werden keinen Ärger machen, solange wir nicht auf ihrer Schwelle aufmarschieren«, sagte Bernstein. »Und damit bleiben Embere und Raland, die beide von den Geweihten beherrscht werden – und die sich beide zweifellos jetzt schon auf uns vorbereiten.«

»Ganz recht, Herr«, sagte Hain fröhlich. »Also werden wir dieses Jahr doch noch unseren Kampf bekommen!«

Und dann werden wir unserem Lord aus ihren Schädeln ein weiteres Denkmal errichten, fügte Bernstein in Gedanken hinzu.