27
Überall in Tor Salan waren die Schritte der Händler und Arbeiter zu hören, ebenso wie das Klappern von Hufen. Es gab zwei kleine Flüsse in der Stadt, die aber beide nicht groß genug waren, um Handelsgüter darauf zu verschiffen. So lebte die Stadt ausschließlich von der glücklichen Fügung ihrer Lage im Herzen des Westens, in der Mitte eines Netzes aus Handelswegen, das ihr Reichtum und eine gemischte Bürgerschaft brachte.
Oberst Bernstein saß in dem verdunkelten Wachzimmer des Nordtors und erkannte, dass es in der Stadt zum ersten Mal seit Jahrzehnten ruhig war.
Die Stadt, die niemals schläft; die Stadt, in der es niemals dunkel wird – doch jetzt hatten die Menin ihr in einem grausamen Handstreich die Namen genommen und sie in nicht mehr als eine Ansammlung von Häusern und Menschen verwandelt, die vor Angst ganz still waren. Ohne seine tausend Magier kauerte sich Tor Salan wie ein Geprügelter zusammen, der auf den nächsten Schlag wartet. Ohne die Magier blieben die Straßen Tor Salans dunkel und leer – das einzige Licht und die einzige Geschäftigkeit fand sich an dem Denkmal, das sie zu Ehren von Lord Styrax’ Sieg errichtet hatten. Die Soldatentrupps, die auf die Einhaltung der Ausgangssperre achteten, waren fast überflüssig, aber Lord Styrax nutzte die Gelegenheit, um seine neuen Truppen in geregelte Bahnen zu lenken. Bisher hatten die Tachrenn der Zehntausend keinen Aufruhr gemeldet. Bernstein wusste, dass jeder Tag, an dem die Chetse-Soldaten in Styrax’ Namen durch die Straßen patrouillierten und dabei sein Wappen trugen, ihn dem Ziel näherbrachte, ihre vollständige Treue zu gewinnen.
Wir sind einfach zu halten, dachte er und leckte sich die Lippen, um dem schwachen Wein nachzuschmecken, den er getrunken hatte. Gib uns einen geregelten Ablauf, Essen und Frauen, und wir bellen für jeden, der es uns befiehlt.
Er saß schon eine halbe Stunde hier im Schatten, und starrte durch die offene Tür auf die leere Straße, und erst jetzt kam jemand anders vorbei als die Patrouillen. Es waren zwei Gruppen. Trotz des Zwielichts auf den Straßen, das nun herrschte, konnte er sie sehen, weil die Magier die Lichter nicht mehr entzündeten. Die erste Gruppe sah fast so wie die Menin-Wachen aus, die vor dem Tor aufgestellt waren, und sie gingen unbewusst in Reih und Glied, wie es Soldaten stets taten. Die zweite Gruppe folgte einige Minuten später. Ihre wispernden Stimmen und verstohlenen Blicke hätten Misstrauen erregt, wenn die Patrouillen nicht schon Befehle für diese Lage erhalten hätten.
Bernstein seufzte. Er war hier als Kindermädchen abgestellt und sollte die Gruppen leise durch das Tor scheuchen und sicherstellen, dass sie nicht verwechselt wurden. Als er aus dem Wachraum trat, salutierte die erste Gruppe geschlossen. Die zweite, vier Männer und eine Frau, unterbrachen ihr Gespräch nur kurz, um ihn zu mustern.
Der große Soldat nahm keinen Anstoß daran. Er sah hoch und stieß einen kurzen Pfiff aus, der bald vom Aussichtspunkt über dem Turm erwidert wurde. Ein Gesicht erschien, um auf die Männer herabzuschauen, und verschwand wieder. Dann war das gedämpfte Rasseln der Ketten zu hören, und das Tor öffnete sich langsam. Kaum war der Spalt breit genug, schlüpfte eine kleine Gestalt hindurch und trat zu Bernstein.
»Alle bereit?«, fragte sie, nachdem sie nachlässig salutiert hatte. Bernstein nickte der Frau zu. Er konnte das entspannte Lächeln auf Kirls Lippen im Dunkel, das seit einem Kieferbruch vor einigen Jahren Schlagseite hatte, gerade eben erkennen. An einem faulen Abend hatte er bemerkt, dass er Kirl länger kannte als jede andere Frau im Land. Zwischen ihnen war nie etwas gewesen – eine Schande, fand Bernstein. Es fühlte sich an, als minderte ihr Lächeln jedes Mal die Last der Jahre auf seinen Schultern, aber sie war schon längere Zeit Teil der dritten Legion der Chetse, als er darin gedient hatte.
»Was sagt man denn dazu?«, spie ein Mitglied der zweiten Gruppe förmlich aus. Der Rest verstummte und blickte Bernstein an.
»Ich sage dazu Reiterdame Kirl«, grollte Bernstein. »Und ich schlage vor, dass Ihr das auch tut, sonst müsst Ihr Euch zu Fuß auf den Weg in die Runde Stadt machen.«
Der Mann kam einen Schritt auf Bernstein zu und war damit nah genug, dass Bernstein seinen Gesichtsausdruck erkennen konnte, der seine Laune noch weiter verschlechterte. Der Mann trug eine aus billigem Leinen geschneiderte, schlichte Reiserobe. »Stellt nur sicher, dass sie ihren Platz kennt«, sagte er und blickte Kirl mit unverhohlener Geringschätzung an. Sein Gesicht war schmal und bleich, und sein Körper schien kein Gramm Fett an sich zu haben. Wie befohlen hatte er sich das Haar und die Augenbrauen abrasiert. Ohne Haar wirkten sie alle kaum noch wie Menin, und es war eine gute Verkleidung, weil sie so wenig menschlich aussahen. Der Mann war vermutlich jünger als Bernstein, aber ein seltsames Gefühl des Alters umgab ihn, das seine fremdartige Erscheinung noch unterstrich.
»Mein Platz«, antwortete Kirl ruhig, »ist ganz vorne, von wo aus ich euch Befehle gebe, wann immer ich Lust dazu habe.« Es lag keine Feindseligkeit in ihrer Stimme. Die erfahrene Reiterdame hatte ihren Lebtag lang Erfahrung mit Soldaten und würde nicht zulassen, dass sich ein Mann über sie erhob.
Bernstein biss sich auf die Zunge, um nichts zu sagen. Kirl brauchte keine Hilfe, sie kam allein zurecht.
»Das werdet Ihr bald anders sehen.«
»Nein, das werde ich nicht«, sagte sie und wirkte nun gelangweilt. »Ihr besitzt keinen militärischen Rang, und dies ist eine Heeresangelegenheit. Ich habe den Auftrag, Euch bis zur Grenze zu bringen und dann zurückzukehren. Wenn ich aber zu früh zurückkehre, weil Ihr unterwegs Eure Spielchen treiben wolltet, so habt Ihr damit den Einsatz scheitern lassen.«
»Und dann werdet Ihr herausfinden, dass die Stellung Eures Herrn bedeutungslos ist, wenn es darum geht, Euch zu bestrafen«, fügte Bernstein hinzu und wandte sich dem Mann ganz zu. Bernstein war sogar für einen Menin-Soldaten groß und kräftig, wollte sich aber trotzdem nicht auf einen Kampf einlassen. Der Mann wirkte zwar wie ein Schwächling, war aber ebenso wie seine Kameraden ein Adept Larats, und damit vor allem ein Magier. Er wäre schnell genug, um den Anführer niederzustrecken, doch danach würden ihn die anderen dafür umbringen.
»Ihr wagt es, einen Kirchenmann zu bedrohen?«, fragte der Adept mit einem grausamen Lächeln. »Das ist ebenso dumm, wie meinem Meister entgehen zu wollen.« Um seine Aussage zu unterstreichen, hob er eine Hand, so dass sein schwarzer Ärmel und der silberne Ring am Mittelfinger, die ihn als Priester Tods auswiesen, zu sehen waren.
»Ich weiß genau, wer Ihr seid, und dass Ihr Euch verkleidet habt, macht da keinen Unterschied, Magier.« Bernstein lehnte sich vor und drängte den Mann durch seine Körpermasse zurück. Adepten Larats, des Gottes der Magie, waren keine Priester, sondern Magier, Akolythen des Erwählten des Larat. Nachdem Lord Larim die treuesten Anhänger seines Vorgängers abgeschlachtet hatte, hatte er keine Zeit verschwendet, sondern sich einen eigenen Stamm an Magiern aufgebaut, um seine Machtgrundlage zu stärken. Jeder einzelne von ihnen war jung und ehrgeizig und gierte wie Larim nach Macht. Aber offenbar fehlte ihnen das Gespür des Weißauges für den Zeitpunkt, wann es genug war. Es schien nicht ungewöhnlich, dass man einer Frau keinen militärischen Rang zugestand, aber es verblüffte Bernstein in diesem Fall, weil die Magie stets beiden Geschlechtern offenstand.
»Haltet den Mund und tut, was man Euch sagt«, warnte Bernstein den Adepten und warf dann auch den anderen vieren einen Blick zu. Die Frau in der Gruppe blickte sogar noch giftiger zurück als ihre Kameraden. »Ihr bekommt zehn Tage Vorsprung vor uns. Sobald Reitdame Kirl euch absetzt, seid ihr zu Fuß unterwegs, also schlage ich vor, dass ihr ihre Pferde wertschätzt, solange sie euch zur Verfügung stehen. Verhaltet euch wie die Priester Tods, die ihr vorgebt zu sein, egal, ob ihr allein oder unter Zeugen seid. Das erstreckt sich auch auf alle Drogen, die ihr bei euch haben mögt. Nehmt nur die, die für die Erledigung der Aufgabe nötig sind, verstanden?«
Der Adept funkelte ihn böse an, gab aber keine Widerworte.
»Gut, dann aufgesessen«, blaffte er.
Die fünf Adepten gingen ohne ein weiteres Wort, wobei alle Bernstein grimmig musterten. Er aber bedeutete bereits der zweiten Gruppe, die schweigend zugesehen hatte, zu ihm zu kommen.
»Das gilt auch für euch«, sagte er, »aber ihr seid Soldaten, darum muss ich euch das wohl kaum sagen.«
Die Männer nickten allesamt. Sie trugen die Kleidung der Novizen Tods und sollten so tun, als seien sie jeweils Diener eines Adepten – so hatte man es Bernstein wenigstens gesagt. Er wusste nicht, aus welcher Legion sie stammten, nur dass sie treu waren und man ihnen nicht alle Einzelheiten des Auftrages mitgeteilt hatte. Auch Treue hielt nicht ewig, nicht einmal in der Menin-Armee.
Die fünf Männer salutierten und folgten den Adepten, so dass Bernstein und Kirl allein auf der Straße standen.
»Arme Schweine«, sagte er leise, während er ihnen nachsah.
»Ich will es gar nicht wissen«, sagte Kirl.
»Richtig«, stimmte Bernstein zu, »das willst du wirklich nicht. Aber es ist zum Besten und wird letztlich Leben retten. Wir müssen es nur ertragen.«
Sie zeigte erneut ihr bezaubernd schräges Lächeln und salutierte, wobei sie sich schon von ihm abwandte. »Wir sehen uns an der Grenze, mein Freund.«
Sie saßen schweigend auf ihren Pferden. Die Stille war nervenzermürbend. Irgendwo hinter ihnen rief ein einsamer Turmfalke klagend, aber aus der Ruine vor ihnen klang kein Laut. Rußgeschwärzte Steine lagen verstreut am Boden, und dunkles Gras wuchs über ihre Ränder, als wolle das Land diese schreckliche Tollheit verbergen.
»Kein Haus steht mehr«, keuchte Graf Vesna neben Isak. »Bei unserem Aufbruch stand alles in Flammen. Wenigstens die Mauern stehen noch.«
Sie befanden sich nicht weit vom Herbstbogentor Screes entfernt, wo die Farlan vor einigen Monaten die geschlagene Stadt betreten hatten. Jetzt … jetzt konnte Isak nur noch anhand der Straße erkennen, wo das Tor einmal gestanden haben musste.
»Sie haben das Feuer ordentlich angefacht«, sagte Isak matt, als wiederhole er etwas, das er vor langer Zeit auswendig gelernt hatte. »Die Wände standen noch, als die Feuer verloschen, aber dann sind sie abgekühlt, und das hat sie geschwächt.« Er spürte Bewegung überall um sich herum, ein Rascheln im Schatten seines Mantels, das keinen natürlichen Ursprung hatte. Die vier Aspekte, die er im Schatten seines eigenen Tempels irgendwie dem Griff ihres Gottes entrissen hatte, waren noch immer bei ihm. Die Schnitter erinnerten sich an diesen Ort, an das Gemetzel, das vor nicht allzu langer Zeit auf diesen Straßen stattgefunden hatte.
Der Himmel über ihnen war düster und bedrohlich. Der Morgen hatte sonnig begonnen, aber schon bald hatten sich aus dem Norden dicke Wolkenbänke herangeschoben. Die Luft wurde kalt, brachte die Androhung von Regen mit sich.
»Jetzt gibt es hier nichts mehr«, krächzte der Oberste Kardinal Certinse. Der Anblick erschreckte ihn, denn die Beschreibungen hatten ihn nicht darauf vorbereiten können, es mit eigenen Augen zu sehen. Er mochte kühl und berechnend sein, aber diese Reaktion bewies, dass er kein Monster war. Seine Verbindung zu Nartis war schon vor langer Zeit durchtrennt worden, weshalb sich der wilde Zorn der Götter über die Zurückweisung durch die Bürger Screes auf ihn nicht ausgewirkt hatte. Er spürte nur Entsetzen, wo die Gruppe aus Magier-Priestern, die Teil seiner Leibwache war, noch immer den Widerhall dieser Wut in den Knochen spürte.
Certinse hatte das Ruinenfeld über eine Stunde lang betrachtet, dann hatte er befohlen, dass man einen Steinhaufen für die Toten errichten und keine Widerrede gelten lassen sollte. Trotz ihrer Vergehen, das wusste er, waren die Leute in Scree nicht weniger fromm gewesen als andere. Dies hatten sie nicht verdient. Niemand verdiente so etwas.
Die Stadt war dem Erdboden gleichgemacht, und die wenigen Überlebenden waren von den Gläubigen im Blutrausch niedergemetzelt worden. Über die eingestürzten Mauern konnten sie auf die zerfallene Stadt blicken, auf die leblosen Trümmerhaufen, so weit das Auge reichte. Selbst Haushofmeister Lesarl vermochte nur zu schätzen, wie viele hier gestorben waren. Wenige dachten überhaupt darüber nach.
»Ist schon mal jemand hineingegangen?«, fragte Kommandant Jachen. Er verlor sich in den Erinnerungen an die Schlachten der letzten Nacht. Seit diesem Tag hatte er sich aus dem inneren Kreis Isaks zurückgezogen. Er befehligte noch immer die Leibgarde des Lords der Farlan, aber er hatte wenig Lust, mehr zu tun, als die Befehle zu befolgen. Isak machte ihm daraus keinen Vorwurf. In seinem Schatten wurde es in letzter Zeit ziemlich eng, und seit dieser letzten Nacht in Scree war die Gesellschaft dort wenig erstrebenswert. Die Erinnerung an ihre Verteidigungsschlacht, als die Schnitter die Angreifer hingeschlachtet hatten, war wenig angenehm.
»Wer sollte das wollen?«, fragte Certinse, und niemand brachte eine Antwort zustande. Die versammelten Kleriker aus Certinses Gefolge murmelten. Isak kannte keinen von ihnen. Niemand sprach so laut, dass Isak ihn hätte verstehen können, aber er wusste, dass sie alle Angst vor der zerstörten Stadt hatten. Für sie hatten die schrecklichen Ereignisse die Straßen wohl nicht von der Ketzerei gesäubert.
Der Oberste Kardinal wurde von einer Abordnung aus Klerikern verschiedener Kulte begleitet. Sie vertrauten einander nicht – alle hatten sie Bewacher mitgebracht, die Meldung erstatten sollten. Aber der Kommandant der Truppen war einer von Certinses Männern. Er war als Oberst Yeren vorgestellt worden, obwohl nur zwei Regimenter und keine ganze Legion Certinse begleiteten. Isak war aufgefallen, dass sich Graf Vesna und Kommandant Jachen gleichermaßen angespannt hatten, als der Name des Mannes fiel. Und Yeren war offensichtlich erfreut darüber, dass ihm sein Ruf – was immer er auch aussagen mochte – vorausgeeilt war.
Die Pferde hinter ihnen wurden langsam unruhig. Isak drehte sich im Sattel um und musterte die Soldatenreihen hinter sich. Sein ganzes Kontingent, bestehend aus Palastwachen und Heer, umfasste siebentausend Mann Kavallerie und fünftausend Fußsoldaten, die schon jetzt so weit zurückfielen, dass sie vermutlich zu weit entfernt waren, wenn sie auf den Feind trafen. Eine Vorhut von eintausend Berittenen unter General Lahks Befehl ritt dem Haupttrupp voraus. Sie alle strengten sich an, um Lordprotektor Torls Heer einzuholen.
Isak wurde von den Lordprotektoren Fordan, Selsetin, Foleh, Lehm und Nerlos sowie den Erben Tebran und Cormeh begleitet. Saroc, Torl und der vor kurzem erst ernannte jugendliche Lordprotektor Tildek waren Teil der vorgereisten Truppen.
Alle Lordprotektoren und Erben hatten wie befohlen ihre Leibgarde mitgebracht, und jeder mindestens noch eine Division stehenden Heeres. Isak hatte bei drei Dutzend Wagen allein für die Rüstungen der schweren Reiterei aufgehört zu zählen.
Soldaten in rot-gelber Uniform fielen ihm ins Auge. Zwei Regimenter leichter Kavallerie, die zwei Dutzend Magier der Akademie der Magie flankierten. Lesarls Sonderverlautbarung hatte bestehende Abmachungen mit der Akademie eingefordert, die draufhin ihre vier fähigsten Hellseher und sechzehn Kampfmagier unterschiedlicher Macht mitgeschickt hatten sowie ein Paar Heiler, das den gut zwanzig dicklichen Priestern des Shotir helfen sollte, die am Ende des Zugs ritten.
Er erwartete weitere Soldaten aus Lomin, bis zu fünfzehntausend Mann. Sie würden Lord Chalat über den einzigen großen Pass durch die Berge folgen und unterwegs Waldläufer einsammeln. Die Bergkette zwischen Lomin und Scree bot in den engen, verwinkelten Tälern unzähligen Dörfern Platz, in denen Ziegen gehütet wurden. Durch die Abgeschiedenheit und die wilden Tiere, die in der Wildnis Jagd machten, waren die Dörfler hart im Nehmen – und die besten Waldläufer Farlans.
»Dies ist eine gute Streitmacht«, sagte Isak zu sich selbst und schüttelte die düstere Stimmung ab. »Und ich muss mich um dringende Angelegenheiten kümmern. Wo befindet sich das vorgerückte Heer jetzt?«, fragte er Certinse.
»Wir schätzen, dass sie mittlerweile die Zwillinge erreicht oder sogar schon passiert haben«, sagte Certinse und riss sich vom Anblick des toten Ortes vor ihnen los.
»Die Zwillinge? Dann muss Torl sie ganz schön angetrieben haben.« Isak stellte sich den toten Flusslauf vor, den er einst mit dem Wagenzug befahren hatte. Die beiden Berge erschienen nach zwei Dritteln der Strecke zwischen Tirah und der Runden Stadt, und keine Armee aus dem Süden konnte ihre Versorgungslinien weiter als bis dorthin ausdehnen. Es gab auf der spärlich besiedelten Ebene südlich der Zwillinge und nördlich der Runden Stadt nur ein halbes Dutzend Städte, die groß genug waren, um diesen Namen zu verdienen.
»Das ist vernünftig«, sagte Vesna. »Er hält die Truppen in Bewegung, damit sie keine Zeit haben nachzudenken. Und so bleiben auch die Zivilisten, die sich ihnen angeschlossen haben, zurück. Diese Meute aus Eiferern, Verrückten und Verbrechern hat in einem Kampf keinen Wert, sie kommen der Kavallerie nur in die Quere, weil sie sich hinter ihr zu verstecken suchen. Sie wissen, dass sie diesseits der Zwillinge nicht angegriffen werden, und ein Kreuzzug wird vom eigenen Feuer angetrieben. Wenn er Glück hat, kann er dreißig Meilen am Tag aus ihnen herauspressen – auch wenn er dabei einige Pferde zuschanden reiten lassen muss.«
Isak nickte. Der Lordprotektor war ein harter Anführer, aber an den Abenden ging er durch sein Lager und sprach mit den Männern. Ein wenig Bedachtheit des Generals machte in einem Heer einen großen Unterschied. Mit seiner verbeulten Rüstung und den grau werdenden Haaren war er zwischen den Zelten schwer auszumachen, doch an seinen goldenen Ohrringen, die im Licht des Feuers funkelten, während er mit seinen Soldaten scherzte oder trank, war er zu erkennen.
»Jeder General macht es auf seine Weise«, hatte Carel Isak erklärt. »General Lahk und du, ihr seid Felsen in der Brandung, kräftig und unverrückbar, auf die sich die Soldaten verlassen können. Vesna ist der Held, der sie, als sie Jungen waren, alle werden wollten, und Torl ist für diese Haudegen wie ein Vater. Doch glaube mir: Für seinen Vater kämpft ein Mann bis zum Tod.«
Bei diesen Worten war Isak sofort aufgebraust, und Carel hatte eine Weile gebraucht, ihm glaubhaft zu versichern, dass er seinen Lord mit dieser Aussage nicht durch die Blume hatte schelten wollen. Die Erinnerung an sein mimosenhaftes Gemüt brachte Isak trotz des Anblicks von Scree beinahe zum Lächeln.
»Darf ich fragen, warum Ihr mich erneut zu Euch gerufen habt?«, riss ihn Certinse aus seinen Gedanken.
»Gewiss«, sagte Isak langsam und kehrte nur unter Mühen ins Hier und Jetzt zurück. »Wie Ihr wisst, hat sich die Lage verändert. Ich habe beschlossen, das Heer zu mobilisieren …«
»Gegen wen geht es?«, unterbrach ihn einer der Kleriker in Certinses Gefolge. Der Priester des Vasle war der kleinste der Gruppe und trug kein Zeichen seines Ranges an der blauen Robe.
Isak hatte den Mann kaum bemerkt und ganz sicher nicht erwartet, dass ein so rangniederer Unmen das Wort an ihn richtete.
Kommandant Jachen schnappte wegen der Unterbrechung nach Luft, aber Lordprotektor Lehm sprach als Erster: »Wer bei Ghennas stinkenden Abgründen bist du denn?«, fragte er wütend, und seine Hand zuckte zu seiner Waffe, wo er mit dem Daumen über den gebogenen Stachel an der Rückseite seiner Axt strich, die in Anspielung an sein Rosenblätterwappen wie ein Dorn geformt war.
»Ich bin Unmen Eso Kass«, sagte der Priester und ließ die Schultern sinken, während er zum Lordprotektor aufsah. »Und meine Frage bleibt bestehen. Gegen wen wird dieses Heer ins Feld geführt? Bisher habe ich noch nichts zur Ketzerei der Menin gehört.« Seine dünnen Lippen waren im Vergleich zu seiner Haut so hell, dass sie wie aufgemalt wirkten.
»Nur ein Unmen?«, fragte Lehm, und sein Ärger wurde von der Verwunderung darüber gedämpft. »Ein einfacher Gemeindepfarrer, und du wagst es, den Lord der Farlan infrage zu stellen? Verschwinde, bevor ich dich auspeitschen lasse.«
Isak schwieg, denn er wusste, dass er diese Beleidigung nicht einmal zur Kenntnis nehmen sollte, aber seine Faust ballte sich trotzdem wie von selbst.
»Kass, du gehst zu weit«, sagte Certinse schließlich scharf. »Lass uns allein.«
»Oberster Kardinal, dies ist ein heiliger Kreuzzug. Das Heer sollte dem Befehl der Kulte unterstehen und die Ketzer vernichten! In einem Kreuzzug haben politische Ziele nichts zu suchen!« , protestierte der Unmen.
Um Isak brach aufgeregtes Stimmengewirr aus. Lehm war nicht der Einzige, der sein Pferd antrieb, aber Isak war schneller. Flink wie eine Schlange zog er einen Dolch aus dem Gürtel und warf ihn. Er drang in das Auge des Unmen ein, sein Kopf wurde zurückschleudert, und der Mund klappte überrascht auf, dann zog ihn die Bewegung aus dem Sattel.
Als der Körper langsam zu Boden rutschte, langsam genug, dass Oberst Yeren, der ihm am nächsten war, das Messer aus der Wunde ziehen konnte, verebbten die Stimmen. Der Oberst beachtete das Blut, das dabei auf die Flanken seines Pferdes spritzte, gar nicht.
»Jeder, der sonst noch vorschlägt, dass man mir den Oberbefehl entreißen sollte«, sagte er ruhig, »wird den Preis dieser Aufwiegelung zahlen. Ist das klar?«
Die versammelten Kleriker starrten noch immer entsetzt auf den zuckenden Körper, aus dessen zerstochenem Auge das Blut lief. Der Oberste Kardinal wimmerte gepresst und erbebte, was auch ein Nicken hätte sein können.
Yeren hingegen wischte den Dolch mit einem breiten Lächeln auf den Lippen sorgsam sauber, als wäre der Mord an einem Priester in seiner Welt etwas Alltägliches. »Völlig klar, mein Lord«, sagte er gut gelaunt und steuerte sein Pferd, um Isak den Dolch mit dem Griff voraus hinzuhalten. »Und darf ich Euch zu Eurer formidablen Wurfhand beglückwünschen?«
Isak beachtete den Mann gar nicht, während Jachen den Dolch von dem Söldner entgegennahm und dann seinem Lord reichte.
Zeig ihnen den Sturm, damit sie Angst haben, dass er wiederkehren könnte, erinnerte er sich an Lord Bahls Worte. Diesem Ratschlag zu folgen war hingegen schwierig, denn er verlangte, dass man seiner Wut Zügel anlegte, und Isaks Gemüt kühlte sich nicht so schnell ab. Aber es war ein guter Rat. Da er wusste, dass sie jetzt das übliche Weißaugenverhalten erwarteten, hielt er seine Stimme bewusst ruhig.
»Ihr mögt mit Lesarl Eure Spielchen treiben«, fuhr er fort. »Eure lächerlichen Moraltribunale und die anderen Dinge, die in letzter Zeit in Tirah vor sich gingen – all das wurde hingenommen. Aber jetzt herrscht Krieg, und jedes Infragestellen meiner Autorität wird auf die gleiche Weise vergolten werden.
Die Farlan befinden sich im Krieg, und ihr seid Teil dieses Krieges, darum werdet ihr sicherstellen, dass eure Untergebenen begreifen, was das bedeutet. Wenn sie militärische Angelegenheiten behindern oder nicht den nötigen Respekt zeigen, werden sie ausgepeitscht, so wie es jedem Soldaten ergehen würde. Wenn es gezielte Versuche gibt, sich meinen Befehlen entgegenzustellen, werde ich euch alle abschlachten.«
Obwohl er es nicht wollte, hörte Isak die wachsende Wut aus seiner Stimme heraus, also atmete er tief durch und zwang seine Muskeln, sich etwas zu lockern.
»Es … wir haben verstanden«, brachte Certinse schließlich heraus und setzte eilig nach: »Mein Lord. Die jüngsten Gesetze sind keine Entschuldigung für Verstöße gegen das Protokoll – und Ihr seid noch immer der Erwählte meines Gottes. Unmen Kass sprach nicht im Namen der Kulte.«
Isak nickte dem Obersten Kardinal langsam zu und steckte den Dolch wieder in die Scheide. »Gut. Ich bin froh, dass wir uns verstehen.
Nun wieder zu der vorliegenden Angelegenheit. Ich habe Euch hergerufen, weil ich so schnell wie möglich zum Heer der Kleriker stoßen will, aber die Lage in Tirah ist noch immer angespannt. Ich möchte, dass Ihr zurückkehrt und zusammen mit dem Haushofmeister daran arbeitet, dass die Dinge in der Stadt glatt ablaufen.«
Isak erkannte am Gesichtsausdruck von Certinses Gefolge, dass die Finte funktionierte. Innerlich atmete er erleichtert auf. Sie nahmen an, dass sie in seiner Abwesenheit – und ohne die Stadtgarde – über die Stadt herrschen würden, aber sie hatten Certinse deutlich gemacht, welche Befehlsgewalt er tatsächlich haben würde, und Lesarl war sicher, dass der Oberste Kardinal seine Kompetenzen nicht überschreiten würde. Damit ging er ein gewisses Risiko ein, aber Isak wusste, dass Lesarl damit zurechtkäme. Und vor allem bedeutete dies, dass die wildesten Anführer des Kreuzzuges in die Stadt zurückeilen würden.
»Übergebt Lesarl diesen Brief«, fuhr er fort und bedeutete Jachen, Certinse einen versiegelten Umschlag zu geben. »Der Inhalt ist eine Sache der nationalen Sicherheit. Bitte lest ihn und versiegelt ihn wieder, ohne ihn anderen Personen zu zeigen.«
Certinse nickte und wusste genau, was Isak damit meinte. In dem Brief wurde ihre Abmachung genau beschrieben, und Certinse würde ihn vor seinen Kameraden verbergen müssen, wenn er seinen Posten behalten wollte. Er enthielt auch Angaben zur Nachfolge, sollte Isak sterben, denn dabei bräuchte Lesarl die Unterstützung des Obersten Kardinals, weil es keinen eindeutigen Nachfolger gab. Als Kopf der Synode war Certinse in der Lage, einen Herrscher zu bestätigen – oder aber einen Bürgerkrieg auszulösen. Isak hoffte, dass Lesarl Certinse in ausreichend klaren Einzelheiten geschildert hatte, wie er sterben würde, wenn er sein Versprechen nicht einhielt.
Wir setzen für meinen Geschmack ein bisschen viel auf eine Karte, dachte Isak, während Certinse den Brief unter den neugierigen Augen seiner Leute wegsteckte, und nicht zuletzt wegen des Erben, den ich erwählt habe. Er verabschiedete sich mit einem Mindestmaß an Etikette und befahl der Armee weiterzuziehen.
Die Priester brachen ebenso schnell auf und übergingen den toten Unmen, der im Staub lag. Man ließ zwei Pönitente zurück, damit sie ein Grab gruben. Als er davonritt, fiel ihm auf, dass sie sich nicht mal die Mühe machten, einen Fluss zu suchen, um den Priester des Vasle in der Nähe zu begraben. Sie hatten es so eilig, Scree zu verlassen, dass sie nicht einmal mehr vorgaben, sich an die Traditionen zu halten.
Scree, unser Denkmal für die Fähigkeit, zu vergessen, wer wir sind, dachte er verbittert.