Epilog

e9783641087791_i0039.jpg

Mihn zog den abgewetzten Ledermantel enger um sich und blickte über den See hinweg, auf dem die Regentropfen Kreise in das sonst stille Wasser malten. Er versuchte herauszufinden, warum er so unsicher war. Der Regen hatte am frühen Morgen eingesetzt, und die marmorgrauen Wolken verbargen die Sonne so vollständig, dass er die Zeit nur raten konnte.

Die einzige Siedlung in Sichtweite war eine niedrige Hütte, die dringend repariert werden musste. Ein altes Fischerboot war ganz aufs Ufer gezogen worden und wurde von ineinandergesteckten Ästen bedeckt, über denen eine Öltuchplane lag. Die Hütte war seit zwei Jahreszeiten verlassen, also hatte Mihn sie für sich in Anspruch genommen. Er wusste Einsamkeit ebenso sehr zu schätzen, wie es die Hexe tat. Und er hatte nicht vor, ihre Gastfreundschaft länger als unbedingt nötig in Anspruch zu nehmen.

Nur das Prasseln des Regens auf den See und den Boden war zu hören. Er sah sich nach den Bäumen um, hoffte dort Angehörige des edlen Volks zu sehen, aber es waren keine da. Wie es schien, hatten sie ihre Neugier nun doch befriedigt und beschlossen, die Anwesenheit eines Menschen hinzunehmen, dessen Heimlichkeit ebenso unglaublich war wie ihre eigene. Ihre Abwesenheit sorgte dafür, dass sich Mihn einsam vorkam.

Er hatte schon zu lang auf das Wasser gestarrt und sich in seiner Unruhe verloren, aber nichts hatte sich geändert. Er dachte gerade darüber nach, das kleine Ruderboot zu Wasser zu lassen, um sich am Fischen zu versuchen, da klang ein entfernter Laut an sein Ohr. Waren das schnelle Schritte?

Er hatte sich gerade erst wieder dem Waldrand zugewandt, als ein Mädchen von vielleicht zwölf Sommern den Weg zwischen den Bäumen herabgestürmt kam und stolpernd vor ihm stehen blieb. Sie starrte den ehemaligen Harlekin mit offenem Mund an, und er nutzte die Zeit, um sie eingehender zu betrachten: leuchtend blaue Augen und eine gerötete Nase, die unter sandgelbem, zerzaustem Haar hervorlugte.

»Suchst … sucht Ihr … mich?«, fragte Mihn sanft und versuchte, freundlich und zugänglich zu klingen, aber allein dass er sprach ließ das verängstigte Kind bereits zurückweichen.

»Wie heißt Ihr?«, versuchte er es erneut.

Das Mädchen schluckte schwer. »Chera, Herr.«

Ihr verblasstes Kleid war am Saum mit schlecht gestickten roten Blumen verziert. Er vermutete, dass es vor ihr mindestens einer ältern Schwester gehört hatte. Dann verneigte er sich leicht. »Hallo, Chera. Ich bin Mihn ab Netren ab Felith. Wurdet Ihr ausgeschickt, mich zu suchen?«

»J… Ja, Herr. Sie schreit, Herr, das braune Mädchen, sie schreit, als wären die Wesen des dunklen Ortes hinter ihr her.«

Mihn runzelte angesichts der Wortwahl des Mädchens die Stirn, und sie wich, von seinem Gesichtsausdruck erschrocken, einen weiteren Schritt zurück.

Er glättete seine Stirn und fragte sanft: »Sagte die Hexe, ich solle mit Euch zurückkommen?«

Chera schüttelte den Kopf. »Im Zwielicht, Herr«, murmelte sie. »Sie sagte, Ihr sollt Euch vorbereiten und dann zur Geisterstunde kommen.«

Mihn nickte schwermütig. »Dann sei es die Geisterstunde. Danke, Chera.«

Gelassen stand er da, bis das Mädchen zwischen den Bäumen verschwunden war, erst dann gab er den überwältigenden Gefühlen nach, die ihre Worte in ihm ausgelöst hatten.

Sein Gesicht wurde bleich, und er sank auf die Knie, weil ihn seine Beine im Stich ließen. Er keuchte wie ein ertrinkender Mann, dann erlaubte er einem einzigen Klagelaut, sich seiner Kehle zu entringen, bevor er das Gesicht in den bemalten Händen barg.

»Isak«, flüsterte er und drohte an seinen eigenen Tränen zu ersticken. »Ihr gnädigen Götter, Isak, was haben wir getan?«