12

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Mihn und Graf Vesna gaben ein seltsames Paar ab, während sie durch die fast leeren Straßen Tirahs ritten. Seit dem Sonnenuntergang war es merklich kälter geworden, und das kalte Funkeln der Sterne brach sich im Frost auf jedem Stein und jeder Dachschindel. Sie brauchten nicht lange bis zum Hambleweg, wo viele der kleineren Händler Tirahs lebten und arbeiteten. Er unterschied sich gewaltig von den Anwesen der wirklich Reichen, war tagsüber gut besucht und nachts angenehm ruhig. Im tiefsten Winter jedoch wirkte hier alles, wie im Rest der Stadt auch, wie ausgestorben. Es herrschte zwar nicht der Prunk, den die Altstadt südlich des Palastes zu bieten hatte, aber die Läden und kleinen Werkstätten, von denen sich eine an die andere reihten, machten guten Umsatz. Darum waren die Häuser auch groß, mit vielen Wasserspeiern darin.

Aus den fünf schlanken Türmen der Akademie der Magie schimmerten bunte Lichter durch den Kaminrauch. Die Akademie verzichtete auf die Läden und schweren Vorhänge, mit denen der Rest der Stadt die Kälte abzuwehren versuchte. Die Kälte der Nacht hatte die meisten Leute bereits in ihre Häuser getrieben, und die wenigen, die noch draußen waren, eilten vorüber, weil sie die Aufmerksamkeit der Reiter nicht auf sich ziehen wollten.

»Darf ich dir eine Frage stellen? Eine persönliche, meine ich?« Vesnas Stimme erschien ihm ungewöhnlich laut, aber Mihn antwortete nur mit einem nachdenklichen Nicken. »Ich frage aus Neugier, nicht, um dir etwas vorzuwerfen, aber warum hältst du an deinem Schwur fest, wenn du einen Weg suchst, Isaks Zwecken zu dienen? Du bist ausgesprochen gut mit dem Stab, aber deine wirkliche Begabung liegt doch woanders. Du hast lange Buße getan, reicht das nicht? Du solltest nicht den Rest deines Lebens leiden.«

»Ich denke, es ist aber richtig, dies zu tun.«

»Du sagst, du habest dein Volk enttäuscht«, setzte Vesna nach, »und ich will über diesen Punkt gar nicht streiten, denn ich kenne eure Bräuche nicht. Aber ich würde sagen, dass die Strafe abgeleistet ist.« Er zog seinen Tabakbeutel hervor und stopfte sich eine Pfeife. »Es stimmt doch, dass du mich besiegen könntest, wenn du ein Schwert hättest?«

Mihn schlug die Kapuze seines Mantels herunter und wandte seinem Kameraden das Gesicht zu. Im fahlen Mondlicht hatte es etwas Unwirkliches, die dunklen Augen verrieten nichts. »Es wäre knapper, als Ihr denkt. Ihr unterschätzt Eure Fähigkeiten.«

»Aber du würdest bei einem Kampf mit mir erwarten zu gewinnen.«

»Wenn mir das Pech keinen Strich durch die Rechnung macht, ja. Ihr seid vor allem ein Soldat, ich hingegen wurde zum klassischen Duellanten ausgebildet. Wenn es ein formelles Duell wäre, stünden meine Chancen besser.«

»Und mit Eolis?«

Mihn wandte sich ab und sah die leere Straße vor ihnen. »Zielt Ihr darauf ab, ob ich Lord Styrax töten könnte, um so Isaks Träume abzuwenden?«

»Könntest du das?«

»Könnte das überhaupt irgendjemand?«, wandte Mihn ein. »Das kann man nicht wissen, bis es zu spät ist. Ich vermute, dass er bisher noch kein Duell verloren hat, denn so haben die Götter ihn erschaffen. Mit der Waffe eines Meuchelmörders hätte ich vermutlich bessere Chancen, und selbst dann ist es noch fraglich, ob ich nah genug herankäme.«

»Ich vermute nicht.« Vesna hörte die Enttäuschung in seiner eigenen Stimme und erkannte, dass er auf Mihns erstaunliche Fähigkeiten als Lösung des Problems gehofft hatte.

»Wie auch die Chancen stünden«, sagte Mihn mit fester Stimme, »ich werde dennoch nie mehr eine Klingenwaffe benutzen. Je länger ich darüber nachdenke, umso sicherer bin ich, dass es meine Pflicht ist, Isak selbst zu dienen. Mein Versagen entstammte dem Geist oder der Seele, nicht dem Körper – und so soll es auch nicht mein Körper sein, der die Buße herbeiführt.«

Vesna entzündete ein Schwefelholz der Alchemisten und hielt es in seine Pfeife. Das flackernde Licht schien die Schatten um sie herum noch finsterer zu machen. Sie trabten eine Weile schweigend weiter. Während sie sich der Stadtmauer näherten, nahm die Zahl der Häuser an den Hamblewegen stetig ab.

»Habe ich dir je erzählt, wie mein Vater starb?«, fragte Vesna mit einem Mal.

»Nein.«

Der Graf zog an der Pfeife und blies eine kleine Wolke Rauch aus, die sein Gesicht kurz verbarg. »Er starb in einem Duell, als ich ein junger Mann war, im Kampf gegen einen Ritter, der zwanzig Jahre jünger war als er. Es ging um die Ehre eines Vetters.«

»Das erscheint mir ein unnötiger Tod zu sein.«

»Die Ehre ist ein seltsames Ding. Manchmal verlangt sie etwas, das man lieber nicht tun würde.«

»Wie groß war die Verletzung der Ehre des Vetters?«

»Ach, nicht so schlimm, aber mein Vater war trotzdem der Meinung, dass der Junge wegen einer solchen Kleinigkeit nicht zusammengetreten werden musste.« Er verzog das Gesicht. »Ein Tadel hätte nach allem, was ich gehört habe, ausgereicht.«

»Hat kein Magistrat eingegriffen? Ich hatte den Eindruck, Euer zivilisiertes Reich pflegte eine Tradition des Rechts?«

Vesna sah Mihn an. In der Dunkelheit vermochte er nicht zu entscheiden, ob seine Worte sanfter Spott gewesen waren, oder eine Verurteilung darstellten.

»Leider«, fuhr Vesna schließlich fort, »leider haben auch Magistrate Söhne, zu denen sie stehen, was auch immer sie anstellen. Das ist weniger ein Fehler der Zivilisation, als vielmehr einer der Menschheit, denke ich.«

»Also hat übermäßiger Stolz auf allen Seiten zum Tod Eures Vaters geführt«, sagte Mihn ernst. »Eine echte Schande.«

»Das Merkwürdige war, dass mein Vater den wahrscheinlichen Ausgang des Duells kannte. Er war über fünfzig Jahre alt und – nie viel mehr als ein passabler Schwertkämpfer gewesen.«

»Und doch hat er angeboten zu kämpfen? Wegen der Ehre.«

»Der Junge gehörte zur Familie. Alles andere war für ihn unwichtig. Er pflegte zu sagen: ›Es gibt solche, die mit dir verwandt sind, aber niemals zu deiner Familie gehören, und solche aus einem anderen Stamm, die du mit Freuden deine Brüder nennst. Sieh niemals tatenlos zu, wenn jene, die du Familie nennst, angegriffen werden.‹«

»Also konnte die Beleidigung nicht übergangen werden? Blaue Flecken verheilen in einigen Wochen, Tode dagegen eher selten.«

»Jemand musste sich für die einsetzen, die es nicht selbst konnten, so sah es mein Vater«, sagte Vesna traurig.

»Ich denke, ich kann mir den Rest der Geschichte denken«, erwiderte Mihn, der noch immer geradeaus blickte.

»Wer sagt denn, dass es noch mehr zu erzählen gibt?«

»Es gibt noch mehr.«

»Woher weißt du das?« Vesnas Stimme klang misstrauisch. Mihn hatte so etwas an sich: Man konnte in seinen Worten einen unausgesprochenen Tadel hören, wenn man sich schon schuldig fühlte.

»Ich weiß es, weil Ihr es wisst, und ich kenne solche Geschichten. Sie werden nicht ohne Grund erzählt. Aber zuerst der Abschluss der Geschichte: Euer Vater starb, und Ihr erfuhrt davon, als Ihr von Eurer Reise zurückkehrtet. Hätte der alte Mann gewartet, so wäre er vielleicht heute noch am Leben. Wenn ein Rüpel den Vater eines Mannes tötet, der zum Helden bestimmt ist, dann wird er dafür zur Rechenschaft gezogen, und davon wollt Ihr mir berichten.«

Vesna nickte zu Mihns Worten. »Er war der erste Mann, den ich tötete.«

»Ihr wart fort, um im Kampf geschult zu werden? Er sah wahrscheinlich noch das Kind in Euch, das Ihr einst wart. Wie viele Streiche waren nötig?«

»Drei.«

Mihn schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Und warum erzählt Ihr mir davon?«

Vesna seufzte. »Ehre kann einen umbringen. So etwas geschieht, wenn man zu lange versucht, sie zu wahren.«

»Und doch gibt es mehr als das im Leben – manchmal muss man Stellung beziehen, auch wenn man den Preis ganz genau kennt. Euer Vater wusste das. Er wollte, dass diejenigen, die er seine Familie nannte, auch wissen sollten, dass sie ihm mehr wert waren als sein eigenes Leben.«

»Bei der Verteidigung derer, die du Familie nennst«, sagte Vesna mit fernem Blick.

»Ich höre da eine Frage heraus.«

»Ja. Wen zählst du zu deiner Familie?«

Mihn sprach so leise, dass Vesna nicht sicher war, ihn richtig zu verstehen: »Jene, für die ich zu opfern bereit bin – denen ich an den Dunklen Ort folgen würde, wenn es nötig ist.«

Die beiden Männer schwiegen. Nur das Hufgeklapper auf den Kopfsteinen der Straße und Vesnas Atemzüge störten die Ruhe. Minuten verstrichen, und Vesna dachte noch immer über das Gespräch nach, als er plötzlich ein Geräusch hörte – vielleicht das Kratzen einer Schindel. Beide Männer drehten sich sofort um. Vesna griff nach hinten zu der Armbrust, die an seinem Sattel hing.

Er hatte die Waffe vor ihrem Aufbruch gespannt. In der Nacht gab es wenig Zeugen und einige der Dinge, die sich in den Straßen herumtrieben, wären nicht damit zufrieden gewesen, sie nur auszurauben. Es gab Wasserspeier und Colprys, die einen Menschen angriffen, auch wenn solche Angriffe selten waren. Gruppen wütender Pönitenten zogen durch die Straßen.

»Kannst du etwas sehen?«, fragte Vesna leise und legte einen Bolzen ein.

»Nein, aber was sich da auf dem Dach auch befinden mag, wir müssen es wohl gar nicht sehen«, sagte Mihn und drehte den Kopf, um genauer hinzuhören. »Kein Mensch würde in dieser Kälte da oben herumlaufen, und ich glaube nicht, dass ein Tier zwei Männer auf Pferden angreifen würde.«

Vesna starrte weiterhin auf die dunklen Häuser, aber bis auf das Klappern der Hufe war nichts zu hören. »Wenn du es sagst.« Er drehte sich wieder um, blickte ihren Weg entlang, ließ die Armbrust aber vor sich auf dem Sattel liegen.

Das Bordell war ein großes, befestigtes Gebäude, das an die Mauer gebaut war. Der Stadtrat hatte es während der Friedenszeiten vermietet, und von der jetzigen Unruhe wurde es vermutlich nicht betroffen. Es war gut zu verteidigen und erfüllte die Wünsche der Adligen, so dass man genug Geld für Wachen hatte, auch wenn die meisten Kunden ohnehin bewaffnet waren.

»Sind wir in der Nähe von Tods Gärten?«, fragte Mihn und wies nach rechts.

»Ja, ich glaube schon.« Vesna drehte sich mit nachdenklichem Gesichtsausdruck im Sattel um und musterte die nach Süden führenden Straßen. »Ja, sie liegen in dieser Richtung, hinter dem Schrein des Wilderermondes.« Er wies die Straße hinab.

Tods Gärten, das war der Name eines kleinen öffentlichen Parks, der im Besitz des Kultes von Tod stand. Jede der drei Seiten war weniger als zweihundert Schritt lang. Der Großteil wurde von uralten, gepflegten Eiben eingenommen, und in der Mitte befand sich ein kleiner Teich, in dem – ohne dass Vesna einen Grund dafür erkennen konnte – zwei Hechte lebten, die von den Priestern Tods gefüttert wurden. Ehla, die Hexe von Llehden, und der Halbgott Fernal hatten die Bürger der Stadt empört, indem sie in den Gärten ihr Lager aufgeschlagen hatten, denn sie hatten sich im belebten und begrenzten Palast von Tirah nicht recht wohlgefühlt. Die Kleriker der Stadt hatten bisher jedoch nur pro forma Anklage wegen Hexerei erhoben. Hexerei war nicht schlimmer als Magie und die Priester machten sich mehr Sorgen wegen der Magier, die traditionell ihre Gegenspieler und außerdem noch reicher und nicht in Begleitung eines schrecklichen Halbgottes waren.

»Um diese Zeit willst du die Hexe besuchen?«

»Mich quälen viele Fragen, und ich glaube, sie kennt das Wesen des Landes besser als jeder andere, dem ich meine Gedanken anvertrauen kann.«

»Ein bisschen spät für einen freundlichen Besuch, oder?« Vesna zog den Umhang mit Fuchsfellbesatz enger um sich und erschauderte leicht. Die Kälte stach in seinem Gesicht, und als er sich die Wangen mit der Innenseite seiner Handschuhe rieb, wurde es nur noch unangenehmer.

Mihn zuckte die Achseln. »Sie wird sich nicht beschweren. Es ist ihre Lebensaufgabe, für andere da zu sein, wenn sie Hilfe brauchen.« Er lenkte sein Pferd in die entsprechende Richtung.

Als er an Vesna vorbeiritt, erkannte dieser eine ungewohnte Verunsicherung im Gesicht des Mannes und erinnerte sich daran, dass der gescheiterte Harlekin seit seiner Verbannung aus dem Stamm allein gewesen war. Es würde ihm gewiss schwerfallen, von anderen einen Rat anzunehmen.

»Danke, dass Ihr mich hergebracht habt. Ich … ich habe den Palast seit meiner Rückkehr nicht verlassen. Ich denke … offenbar habe ich verlernt, Spaß zu haben.« Scham flackerte in Mihns Augen auf.

Vesna lächelte. »Darin bin ich hingegen sehr geübt, also wird es noch andere Gelegenheiten geben. Geh nur, aber beeil dich. Es mag ihre Lebensaufgabe sein, Hilfsbedürftigen beizustehen, trotzdem erscheint es mir besser, eine Frau wie Ehla nicht zu verärgern. Und es ist schon spät genug.«

Mihn lächelte matt und entfernte sich im Trab, so dass der Graf nun allein auf der Straße stand.

»Die Zeiten müssen wirklich schlecht sein«, murmelte Vesna. »Ein Mann mit meinem Ruf, der allein in der Kälte zu einem Bordell unterwegs ist. Wahrscheinlich sind die anderen bereits weitergezogen, und ich finde nur in Tods Gärten noch Gesellschaft.«

Er bog an der nächsten Kreuzung rechts ab und sah sich aus Gewohnheit nach Gefahren um. Abgesehen von den Lichtern der Akademie der Magie gab es nur wenige Lebenszeichen in der Stadt, die sich bereits in Erwartung des nahenden Winters verbarrikadiert hatte. Innerhalb der Mauern würde das Familienleben ganz normal weitergehen, aber als sein Blick auf einen der Türme der Stadtmauer fiel, wurde ihm Mihns Abwesenheit besonders deutlich bewusst.

Also ist es nicht nur für Lord Isak angenehm, den Mann um sich zu haben, scherzte Vesna mit sich selbst und rang sich ein Lächeln ab.

Er ließ die Hamblewege hinter sich. In diesem ärmeren Viertel waren die Häuser seltsamerweise größer und beherbergten mehr als nur eine Familie. Die kantigen Flügel waren um einen Innenhof herumgebaut und boten im Winter Platz für Reisende, unter anderem für den Wagenzug, zu dem Isak gehört hatte. Das junge Weißauge hätte keinen Schlafplatz im Innern bekommen, vermutlich hatte man ihn im Stall untergebracht, fernab des Feuers, wo er sich darauf verlassen musste, dass ihm das Vieh genug Wärme spendete.

Das Klirren von Metall auf Stein schreckte ihn aus seinen Gedanken. Er riss den Kopf herum und suchte in den Schatten nach einer Bewegung.

Verdammt, dieser Ort ist für einen Hinterhalt so gut wie jeder andere geeignet. Er konnte immer noch niemanden entdecken, fasste die Armbrust aber fester und trieb sein Pferd zu einem zügigen Trab an.

Bilde ich mir das nur ein? Ich bin sicher, dass uns niemand vom Palast hierher gefolgt ist. Er wollte eben aufgeben und sich selbst auslachen, da schallte aus der gleichen Richtung wie zuvor das Scharren von Schritten. Vesna wartete nicht ab, bis er noch etwas hörte, sondern gab seinem Pferd die Sporen und beugte sich über den Hals, als das Tier in Galopp verfiel.

Die Straße bestand nur aus festgestampfter Erde, aber das schnelle Geräusch der Hufe darauf reichte trotzdem aus, um die Stille zu zerreißen. Hinter Vesna erklang ein Ruf. Er hatte Recht gehabt. Während er das Pferd weiter antrieb, hielt er vor sich Ausschau – wenn dies ein Hinterhalt war, so war er der Falle möglicherweise noch nicht entkommen, und auch, wenn er aus dem Ritt heraus nicht sonderlich treffsicher war, würde ein Schuss einen Angreifer vielleicht ablenken …

Er kam gar nicht dazu. Von der Seite näherte sich etwas rasend schnell und bohrte sich in den Hals des Pferdes. Vesna hatte kaum Zeit, es als Pfeil zu erkennen, da schrie das Pferd auch schon auf und fiel nach einigen taumelnden Schritten zu Boden. Vesna sprang aus dem Sattel und von dem stürzenden Tier weg. Seine linke Schulter traf hart auf den Boden, er selbst wurde auf den Rücken geworfen. Helle Lichter flackerten vor seinen Augen auf, als sein Kopf auf den Boden schlug.

Vesna starrte einige Sekunden blinzelnd in den Nachthimmel, zu schwer angeschlagen, um sich zu bewegen. Er sah eine Sternenwolke und den größeren Mond über sich, Alterr, von Wolken halb verdeckt. Während er langsam wieder zu Sinnen kam, hörte er schnelle Schritte und Rufe. Drei Gestalten näherten sich ihm rasch, der große Mann in der Mitte hielt einen Bogen in Händen.

Pisse und Dämonen, dachte Vesna und klopfte seine Brust ab, bis er sein Schwert fand. Nein, wo ist die Armbrust?

Er sah sich um und schnappte nach Luft, als er bemerkte, dass er eine Platzwunde am Hinterkopf hatte. Die Armbrust lag nur einen Schritt neben ihm, war noch immer gespannt. Der Bolzen war zwar aus der Führung gefallen, aber er lag neben der Armbrust und wäre schnell wieder eingelegt.

Der Mann in der Mitte erkannte, was Vesna vorhatte, und griff nach einem weiteren Pfeil, aber da waren die drei nur noch knapp zwanzig Schritt entfernt. Trotz seiner Benommenheit schaffte es Vesna, sich auf ein Knie hochzukämpfen und die Armbrust anzulegen.

Er schoss – und der große Mann fiel mit einem Schrei, dann warf er die nutzlos gewordene Waffe nach den anderen beiden, die langsamer wurden, als ihr Kamerad zu Boden ging. Einer sah auf die Straße, der andere sprang zur Seite, als die Armbrust über die Straße in seine Richtung schlitterte. Dann riss er die Augen auf, denn Vesna stürzte auf sie zu, wobei er sein Schwert aus der Scheide zog.

Er überbrückte die Entfernung so schnell, dass er die Klinge gerade erst herausgeholt hatte, als er die Männer erreichte. Beide trugen mannshohe Speere, schienen aber nicht bereit, sie einzusetzen. Vesna schlug den Speer des einen beiseite, unterlief seine Reichweite und schnitt dem Mann in den Arm, dann holte er aus und hieb ihm auch noch den Griff ins Gesicht. Der taumelte gegen seinen Kameraden zurück, wodurch Vesna Zeit hatte, wie ein Fechter vorzustoßen und dem Zweiten die Klinge ins Herz zu rammen. Er zog die Waffe wieder heraus und spießte den Ersten auf, bevor der andere noch zu Boden fallen konnte.

Dann sah er zu dem großen Mann hin. Der Bolzen hatte ihn knapp über der Hüfte getroffen. Er wand sich schreiend vor Schmerz und dachte gar nicht daran, seine Waffe aufzuheben. Da keine Gefahr von ihm ausging, sah sich Vesna nach dem Rest der Bande um …

Da waren sie, eine zweite, deutlich größere Gruppe von Männern.

»Pisse und Dämonen, ich bin des Todes«, knurrte Vesna.

Vorsichtig hob er den linken Arm und bewegte die Schulter ein wenig. Sie brannte zwar, war sonst aber intakt.

»Zu den Waffen«, befahl er sich selbst und überließ das Denken dem erfahrenen Soldaten in sich. Fünf Schritt entfernt lag der Schütze, und neben ihm der Bogen, also hob er einen Speer auf und holte sich dann den Bogen. Er wusste, dass er nur Zeit für einen einzigen Schuss hatte, übereilte sich – und der Pfeil sirrte weit über das Ziel hinaus. Das ließ sie nicht einmal langsamer werden.

Vesna umfasste den erbeuteten Speer. Er bemerkte jetzt, dass die Männer auf dem Boden wie Pönitente gekleidet waren. Vermutlich Söldner. Besser als Fanatiker, dachte er, während er den Speer hob, aber nicht viel besser.

Er wartete, bis sich die Gegner auf ein Dutzend Schritte genähert hatten, dann schleuderte er den Speer. Der Anführer hatte den Wurf erwartet und duckte sich, aber der Mann hinter ihm wurde in den Oberschenkel getroffen und stürzte schreiend zu Boden. Sofort wechselte Vesna das Breitschwert in die Schwerthand, zog seinen Duelldolch und trat von den Körpern am Boden weg. Die Waffe hatte keine sonderlich große Reichweite, aber mit dem Stahlkorb, der über seine Hand reichte, konnte er eine Klinge abwehren.

Zeit, meine letzte Karte auszuspielen. »Wisst ihr, wer ich bin?«, rief er so laut er konnte.

Die Gruppe wurde langsamer, und der Anführer bedeutete den anderen aufzufächern. Jetzt konnte er erkennen, dass sie die grauen Roben des Kultes von Tod trugen, nicht die schwarzen der Pönitenten des Nartis.

Scheiße, dann sind beide Kulte beteiligt und denen hier wird schwerer beizukommen sein.

Sie trugen Schwerter und Äxte bei sich und schienen auch zu wissen, wie man sie einsetzte. Es war zwar seltsam, sich darüber zu freuen, aber der Krieg schien nicht so ausgefeilt wie ein Duell. Pikeniere hätten ihn einfach aufgespießt wie einen Eber. Diese Söldner würden die Waffen auf eine Art führen, die er vorhersehen konnte – und er war sicher, dass ihm keiner mit dem Schwert das Wasser reichen konnte.

»Ja, wir wissen, wer du bist, und wir werden dich töten.« Er sprach mit einem nördlichen Farlan-Akzent, was es unwahrscheinlicher erscheinen ließ, dass sie Söldner waren, die auf den höchsten Preis aus waren.

Vesna drehte sich langsam, behielt den Anführer dabei gar nicht erst im Blick. Es waren zwölf Mann, gegen so viele hatte er noch nie zuvor allein gekämpft.

Einer nach dem anderen, hörte er die Stimme seines früheren Waffenlehrers, eines Mannes, der ihm schon am ersten Tag den Nutzen eines Tritts zwischen die Beine erklärt hatte. Bewege dich, wenn sie es nicht erwarten, töte einen und beweg dich weiter.

»Dann wisst ihr, wer mein Lord ist«, sagte er und schob sich näher an einen Mann im Kreis heran. »Egal, was man euch zahlt, wir verdoppeln, verdreifachen es.«

Der Mann lachte freudlos auf. »Und ganz sicher macht ihr mich auch zum Ritter.«

»Dafür kann ich sorgen. Du besitzt Informationen, die wir brauchen.«

»Tut mir leid, Kumpel, so läuft das nicht.«

Vesna drehte sich weiter, das Schwert vorgestreckt, während ihn die anderen beobachteten. Er bewegte sich mit schnellen, kurzen Bewegungen, nicht schnell genug, damit ihm schwindelig wurde, aber so unregelmäßig, dass er niemandem zu lang den Rücken zuwandte.

»Wie läuft es dann? Ihr klingt nicht wie ein Fanatiker.«

»Genug gebettelt. Ich hätte mehr von Euch erwartet, als …«

Bevor er den Satz beendet hatte, stürzte sich Vesna auf den jüngsten in der Gruppe, dessen Augen zwischen den Sprechenden hin- und hergezuckt waren. Der Junge schrie erschrocken auf, als Vesna seine Axt passierte und ihm den Dolch in den Bauch rammte. Er spürte den Atem des Burschen auf seiner Wange und hielt ihn fest, während sein Blick zum nächsten Mann im Kreis wanderte. Er wehrte einen Schwertstreich ab, zog seine eigene Klinge hoch und zur Seite, schneller als sein Gegner, weil sein magisches Schwert leichter war als Luft, und schnitt tief in den Arm des Mannes.

Der Mann jaulte auf und ließ das Schwert fallen, während Vesna den aufgespießten Jungen herumriss, um die anderen abzuwehren. Dann trieb er den Verwundeten mit einem Tritt gegen seine Kameraden.

Töten und weiter, rief die Stimme in seinem Kopf – und Vesna gehorchte.

Er stieß sich mit einem Fuß ab und entkam damit zwei Hieben, dann lief er in zwei hastige Streiche, die er mit Dolch und Schwert abwehrte. Er wich nach links aus, passierte einen und schlug ihm die Waffe in die Rippen. Er achtete nicht auf die Schreie, sondern drehte sich weiter, töten und weiter. Er brachte sein Schwert gerade noch hoch, um eine Axt abzuwehren und nutzte die Gelegenheit, um dem Nächsten den Griff ins Gesicht zu schlagen.

Blut lief über seine Wange, aber Vesna beachtete es nicht, nutzte den Schwung und glitt an dem Novizen mit der gebrochenen Nase vorbei, um beim Nächsten nach den Beinen zu schlagen. Der Mann sprang zurück und stieß gegen einen anderen Söldner. Vesna folgte rasch, wobei eine Schwertspitze über seinen Brustpanzer kratzte, weil der Mann den Aufprall abfing und vorstürzte.

Das Schwert schnitt über seinen Arm, aber seine Ausbildung rettete ihn, denn er zog den Dolch zur Brust hoch und drehte ihn nach innen, um das Schwert aufzufangen. Er stieß sich mit dem linken Fuß ab, schnitt von unten in die Achsel des Mannes und riss ihm den Oberkörper auf. Töten und weiter.

Der Novize fiel und ließ das Schwert dabei los, das Vesna mit dem Parierschutz seines Dolches nach dem nächsten Novizen schleuderte. Während dieser die fliegende Waffe aus der Luft schlug, wirbelte Vesna herum, denn er wusste, dass weitere Gegner hinter ihm standen. Erneut retteten ihn die Instinkte des Schwertkämpfers, als ein Schwert vorzuckte und ein feuriger Streich durch sein Ohr und über seinen Schädel glitt. Er trat vor, am Griff des Gegners vorbei, und rammte ihm den Dolch in die Seite.

Jetzt bewegte er sich wie ein Tänzer, schwang sein Schwert unter seinem linken Arm durch, drehte sich und schlug nach dem nächsten Novizen, der ihn erreichte. Stahl klirrte auf Stahl, als der Mann parierte, aber Vesna wartete nicht darauf, Hiebe auszutauschen, sondern zog den aufgespießten Gegner als Schild vor sich. Der Söldner hatte es so eilig, den Helden zu verletzen, dass er nachsetzte und von der Keule eines Kameraden getroffen wurde. Als er aufschrie, zögerte sein Kumpan. Vesna aber nicht. Töten und weiter.

Der Novize sackte gemeinsam mit dem Verletzten zusammen, da erklang hinter Vesna ein Brüllen, und als er sich umwandte, traf ihn ein Schwert gegen den Brustpanzer. Wieder ging er vorwärts, um mit dem Dolch nach der Hand des Mannes zu schlagen. Stattdessen traf er die Schwertklinge mit dem Parierschutz des Dolches, schlug dem Gegner die Waffe aus der Hand und stach dem Unbewaffneten in den Bauch.

Von beiden Seiten kamen nun Angreifer näher, und er wich einige Schritte zurück, um alle Gegner im Blick zu behalten. Ein Mann, den er zurückgetrieben hatte, versuchte ihn zu überraschen, indem er einen hohen Schlag führte, während er Vesna mit einem Tritt aus dem Gleichgewicht bringen wollte. Vesna drehte sich zur Seite, fing den Schlag ab und rammte den Dolch in der gleichen Bewegung in das Knie des Mannes. Mit einer kurzen Drehung riss er die schmale Klinge wieder heraus und wich einen weiteren Schritt zurück. Er atmete tief ein, denn jetzt erinnerte er sich daran, wieder atmen zu müssen. Der verkrüppelte Mann fiel vor Schmerz jaulend vornüber.

Zwei weitere rückten vor, der Anführer und ein großer Mann mit einer Axt. Hinter ihnen wischte sich der Mann mit der gebrochenen Nase das Blut aus dem Gesicht, hielt sein Schwert aber immer noch in der Hand. Ein weiterer arbeitete sich gerade unter der Leiche seines Kameraden hervor.

Wird Zeit, etwas anzugeben, dachte Vesna und holte so tief Luft wie möglich. Er warf den Dolch in die Luft und wechselte das Breitschwert in die Linke, während der Dolch durch die Nacht segelte. Instinktiv sahen die Männer der Waffe hinterher. Das war die Finte eines Duellisten, die genauso viel Können wie Fingerfertigkeit verlangte. Vesna teilte die Luft zwischen ihnen mit einem niedrigen Streich, die beiden zögerten unwillkürlich und senkten die Waffen, um abzuwehren.

Vesna grinste, als der Dolch in seiner rechten Hand landete – und nun schleuderte er ihn auf die ungeschützte Brust des Größeren. Ohne Arme oder die Axt im Weg war es ein einfacher Wurf, der genau ins Herz traf. Man musste dem Anführer zugutehalten, dass er sich nicht umwandte, als sein Nebenmann aufkeuchte und ins Taumeln geriet. Aber das machte wenig aus, da er nun allein war. Vesna führte die Hände zusammen, sie tauschten zwei Schläge aus, dann schnitt Vesna dem Mann in den Arm. Der Treffer brachte den Anführer nur aus dem Gleichgewicht, aber der nächste Schlag schnitt ihm dann sauber die Kehle auf.

Vesna riss seine Waffe mit einem angestrengten Schnauben wieder heraus und betrachtete die übrigen Gegner. Töten und weiter. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, denn der Mann mit der gebrochenen Nase stürmte wütend brüllend vor. Vesna schlug die Waffe beiseite und rammte ihn mit der Schulter, was den Mann beinahe von den Füßen riss. Der Novize stolperte einen Schritt zurück und riss erschrocken die Augen auf, als Vesnas Schwert ihm erst den Bauch aufschlitzte und dann in seinen Nacken fuhr.

Blieben noch fünf, allesamt verletzt. Der Mann, den er mit dem Speer getroffen hatte, lag noch immer reglos an der gleichen Stelle, darum schrieb Vesna ihn ab. Ein weiterer lag auf den Knien, umklammerte seinen Bauch und stieß klagende Laute aus. Auch auf diesen brauchte er nicht zu achten. Wer ein Schwert in den Bauch bekommen hatte, kämpfte nicht mehr weiter. Von den verbleibenden dreien hatte einer ein verletztes Knie und zwei standen noch, die Waffen erhoben. Aber beide mussten einen Arm schonen. Der Jüngere schien sich gar nicht damit wohlzufühlen, die Linke benutzen zu müssen, darum machte Vesna es ihm einfach. Er stürmte vor und streckte die anderen beiden nieder, um dann erneut zurückzuweichen.

»Du«, rief er und wies auf den letzten, noch stehenden Novizen. »Waffe fallen lassen, dann lasse ich dich leben.«

Der Mann sah zu seinem knienden Gefährten hinab und erkannte, dass er so gut wie allein war. Er ließ die Waffe fallen und ergab sich mit erhobenen Händen. Binnen eines Wimpernschlags bewegte sich der Schatten hinter dem Mann und eine Gestalt trat aus der Dunkelheit. Eine Waffe blitzte auf, und die beiden verbliebenen Novizen fielen geköpft zu Boden.

Vesna schrie überrascht auf und wich zurück, die Waffe bereits erhoben. Aber der Neuankömmling lachte nur, während seine dunkle Robe wie ein lebender Schatten um ihn wogte.

»Ich bitte um Entschuldigung, aber es darf keine Zeugen geben.«

»Was geht hier vor sich?«, wollte der Graf wissen. »Wer seid Ihr?«

Die Gestalt blieb stehen und steckte die Waffe mit geschwärzter Klinge in einer schwungvollen Bewegung weg. Vesna sammelte sich und fand sich mit einem Mal von Angesicht zu Angesicht mit einem haarlosen jungen Mann, der etwas größer war als er selbst. Er hatte ein Hautbild, das blutige Tränen darstellte, die aus seinem rechten Auge liefen.

O ihr Götter, das ist kein Hautbild …

Vesna fiel auf ein Knie. Seine Gliedmaßen zitterten noch von der Anstrengung des Kampfes, gehorchten ihm aber weiterhin. »Lord Karkarn.«

Der Gott des Krieges musterte das Gemetzel um Vesna mit fachkundiger Genugtuung. »Du hast gut gekämpft. Ich bin beeindruckt.«

»Danke, mein Lord«, keuchte Vesna und sah den Tränen mit ängstlicher Faszination dabei zu, wie sie die Wange hinabliefen. Er wusste, dass es fünfzehn sein würden, eine für jeden der Erschlagenen. Pisse und Dämonen, hoffentlich sind es nur fünfzehn.

»Oh, woher wusstet Ihr, mein Lord, dass sie mir auflauern würden?«

»Nun, weil ich das Ganze natürlich arrangiert habe«, gab Karkarn scharf zurück, und auf seinem Gesicht zeigte sich ganz kurz eine Art Verärgerung, so als läge unter seinen Zügen noch ein gänzlich anderes Gesicht, das vorübergehend zum Vorschein gekommen war – der Berserkeraspekt des Kriegsgottes. Vesna erinnerte sich an die sechs Tempel im Herzen Screes, deren Götter von dem Chaos dort am schlimmsten in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Karkarn war einer von ihnen.

Gnädige Götter, bitte lass den Berserker nicht heraus, betete er schweigend. Das überlebe ich nicht.

»Habe ich Euch beleidigt, mein Lord?« Vesna senkte den Kopf, denn er wagte es nicht, die Reaktion auf seine Worte mit anzusehen.

»Ganz und gar nicht – ich bin sehr zufrieden mit dir. Aber ich musste deine Fähigkeiten prüfen. Und ich hatte Recht damit, dass eine einzelne Gruppe nicht ausreichen würde«, sagte Karkarn ohne jedes Mitleid. »Es war gut, dass ich diese beiden zusammenbrachte.«

»Äh, mein Lord, Ihr prüft mich?«

»Steh auf, Graf Vesna«, befahl Karkarn mit donnernder Stimme, in der das Gewicht von Jahrhunderten mitschwang.

Mit zitternden Knien kam der Graf dem Befehl nach.

»Die Ketzerei in Scree hat mich getroffen. Sie hat keine große Wunde geschlagen, aber doch eine, der ich Beachtung schenken muss, und eine, die im Fleisch meiner Priester eitert. Es fiel mir in der Letzten Schlacht zu, die Götter zu verteidigen, den Ansturm zu führen, der den Feind zu Fall brachte, und ich habe bitter dafür bezahlt. Ich habe nicht vor, so etwas noch einmal zuzulassen.« Er grollte vor mühsam beherrschter Wut.

Vesna nickte eilig, um zu zeigen, dass er verstanden hatte.

»Gut. Es ist offensichtlich, dass hier Kräfte am Werk sind, die sich dem Blick der Götter entziehen. Ich brauche einen menschlichen Gefolgsmann, um die Interessen der Götter zu schützen.«

Karkarn trat vor und sah Vesna mit kaltem Blick in die Augen. Seine Augen besaßen keine Iris und hatten die Farbe von Stahl. Als er einatmete, bemerkte Vesna den fauligen Gestank des Schlachtfeldes.

»Ich … ich verstehe nicht, was Ihr von mir verlangt. Ich bin kein Erwählter, Lord, kein Weißauge.«

»Mein Vertrauen zu den Erwählten ist verblasst«, sagte Karkarn und bleckte vor Wut die Zähne. »Mein Gefolgsmann soll mehr sein als nur ein Krieger. Ich bräuchte einen Anführer für die Menschen – einen General, der unseren Feinden den Kampf bringt.«

»Das soll ich sein?«, fragte Vesna, der zu überwältigt war, um klar zu denken.

Karkarn nickte. »Ich will, dass du zu meinem sterblichen Aspekt wirst. Du wirst der General und Held sein, den alle Krieger brauchen.«

»Sterblicher Aspekt? Ich soll ein Teil von Euch werden?« Vesnas Geist war leer, während er in das blutüberströmte Gesicht des Gottes blickte, zu dem er nur in höchster Not gebetet hatte. »Dabei aber sterblich bleiben?«

»Du sollst meine Macht teilen, dabei aber dein Leben weiterleben.« Der Gott holte unter seiner Robe einen funkelnden Edelstein hervor und hielt ihn in das schwache Mondlicht. Er sah aus wie ein Rubin in der Gestalt einer Träne, halb so lang wie sein Daumen.

»Die Träne eines Gottes. Nimm sie und trage sie immer bei dir. Wenn du mein Angebot annehmen willst, so schneide dich mit ihrer Spitze in die Wange.«

»Und dann?«

Karkarn schenkte ihm ein kaltes, schreckliches Lächeln. »Dann wirst du ein Teil von mir sein, göttlich und sterblich zugleich. Meine Geschenke haben ihren Preis – aber die Belohnung wird ewig währen.«

Ohne auf eine Antwort zu warten trat Karkarn zurück und wurde von den brodelnden Schatten verschlungen. Vesna blinzelte und starrte vor sich hin. Die Straße war leer und in eine bedeutungsvolle Stille gehüllt.

»Die Träne eines Gottes?«, fragte er sich laut, dann bückte er sich, um sein Schwert an einer Leiche sauberzuwischen. Er zischte vor Schmerz auf, weil die Wunde an seinem Kopf dabei wieder aufklaffte. Er beendete die Reinigung und steckte das Schwert weg, um seinen Dolch dann auch wieder aufzuheben. Er tat es ohne darüber nachzudenken, denn viele Jahre der Übung hatten ihm dies eingebläut. Nachdem auch der Dolch gesäubert war, klopfte Vesna liebevoll auf die verbeulte Waffe und steckte sie wieder in den Gürtel.

»Die Träne eines Gottes«, wiederholte er und stöhnte erneut auf. Er besah sich das Gemetzel um sich herum. »Im Augenblick wäre mir ein Pferd lieber.«

 

Mihn band sein Pferd an dem Tor aus geschmiedetem Eisen an, das den Eingang zu dem kleinen Park darstellte und ging hinein. Tods Gärten befanden sich an der Rückseite eines uralten Schreins des Todes, der noch vor dem Haupttempel der Stadt errichtet worden war. Er war von einer hüfthohen Mauer und hohen Lorbeerhecken umgeben. In seinem Innern konnte man darum schnell vergessen, dass man sich mitten in der Stadt befand. Im Dunkeln waren nicht mal die Türme der Stadt sichtbar. Mihn musste sich anstrengen, um den Kiespfad zu erkennen, denn das gelbe Licht Alterrs wurde von einer Wolke abgehalten.

Das leise Prasseln eines Feuers durchbrach die Stille, und so ließ er sich von seinen Ohren die Richtung weisen. Die Hexe hatte ein doppellagiges Zelt am hinteren Ende des Parks errichtet. Es war an drei Eiben befestigt, die zu einer ungleichmäßigen Kuppel zusammengewachsen waren. Er ging den Weg entlang, aber kaum war er einige Schritte weit gekommen, da sprach ihn eine dunkle Stimme aus den Schatten an.

»Es ist spät für einen Besuch.«

Mihn erkannte Fernals grollende Stimme. »Störe ich?«

»Nein, sie wird dich empfangen.« Fernal kam unter den Ästen der Eibe hervor und gesellte sich zu Mihn. Der riesige Halbgott witterte, als suche er nach weiteren Besuchern. »Sie ist es gewohnt, wach zu sein.« Er bedeutete Mihn mit einer Kralle, ihm zu folgen, was dieser auch wortlos tat. Fernal, ein Bastard des Gottes Nartis, wirkte auf eine Weise gelassen, die Mihn nur bewundern konnte. Mit seinem wolfsartigen, wilden Gesicht und seiner unglaublichen Größe wirkte er in einer Menschenstadt fehl am Platze, aber auch wenn er vermutlich nur zu gern in seine Heimat, die Wildnis Llehdens, zurückkehren würde, so merkte man ihm dies nicht an.

Die Hexe stand neben dem Feuer, als sie das kleine Lager erreichten. »Braucht man mich im Palast?«, fragte sie, als Mihn nah genug herangekommen war, dass sie ihn erkennen konnte.

»Nein, ich bin nicht im Auftrag eines anderen hier.«

Sie legte den Kopf schief. Er konnte ihr Gesicht zwar sehen, es blieb aber zu ausdruckslos, wie das von Fernal. »Was kann ich dann für dich tun, Mihn ab Netren ab Felith?«

»Ich kam, um zu fragen, was du über den Tod weißt.«

»Unseren Gott oder seine Taten?«

»Eher der Vorgang an sich.«

Sie musterte ihn einige Augenblicke lang, dann wies sie zur Feuerstelle. »Bitte, setz dich zu mir. Trotz dieses Wollmantels musst du doch frieren.«

Mihn kam ihrem Angebot dankbar nach, hockte sich hin, um seine Hände am Feuer zu wärmen. Fernal hob eine kleine Schale an und wies zu dem Topf, der über dem Feuer hing. »Etwas Warmes?«

»Was ist es?«, fragte Mihn, als er die Schale dankend entgegennahm.

»Brennnesseltee«, antwortete die Hexe von Llehden und setzte sich neben Mihn auf einen Baumstamm. Sie glättete ihr Kleid, so dass es ihre Fesseln ordentlich bedeckte. Er wusste, dass sie im gleichen Alter waren, aber in ihrer Nähe fühlte sich Mihn wie ein Kind – und die Erinnerung an ihre erste Begegnung, umringt vom edlen Volk, den Waldgeistern Llehdens, verstärkte dieses Gefühl noch.

»Aber wen schert das bei diesem Wetter schon? Hauptsache etwas Warmes. Also – was kann ich einem Mann, der das Wissen der Harlekine besitzt, über den Tod erzählen?«

»Ich … ich weiß auch nicht recht«, gab Mihn nach einer kurzen Pause zu. »Ich habe über das Schicksal und Prophezeiungen nachgedacht, über die Bande, die unsere Existenz bestimmen. Ich weiß nicht genau, wonach ich suche, aber ich denke, ich muss mehr über den Tod erfahren, wenn ich die Ängste meines Lords verstehen will.«

»Dann kann ich dir nicht helfen, befürchte ich«, sagte die Hexe freundlich. »Dein Wissen über die Mythen und Legenden übertrifft das meine – du kennst doch die Beschreibungen der grauen Halle Tods, des letzten Gerichts, das er abhält, und des Dunklen Ortes, besser als ich. Ich bin mit den Augenblicken des Todes und der Geburt vertraut, aber nicht mit den Hallen der Unsterblichen. Um Dinge zu erfahren, von denen du noch nichts weißt, bräuchte es einen Priester des Todes oder einen Nekromanten.«

»Ich glaube, dass mir heutzutage ein Priester noch weniger helfen wollen würde als ein Nekromant«, sagte Mihn mit ernster Miene. »Aber vielleicht …« Er blickte nachdenklich. »Vielleicht sind die Antworten bereits für diejenigen niedergeschrieben, die sie erfassen können.«

Die Hexe musterte sein Gesicht. »Sprichst du über heilige Schriften oder ketzerische Texte? Wie viel willst du wagen?«

»Das bringt mich zu meiner zweiten Frage. Lord Isak leidet unter der Last der Verantwortung. Er fürchtet, dass seine Stellung anderen Leid bringen könnte. Xeliath, Carel, sein Vater – sie alle haben wegen ihrer Verbindung zu Isak einen bleibenden Schaden erlitten, und diese Schuld trifft ihn tief. Er sieht mich ohne Waffe und Rüstung und traut sich darum nicht, meine Dienste in Anspruch zu nehmen.«

»Und damit hat er Recht.«

Mihn versuchte ihre Miene zu lesen, aber sie war ausdruckslos. »Was hat das damit zu tun?«, fragte er scharf.

»Es ist nur eine Überlegung«, antwortete Ehla ruhig. »Es tut Lord Isak gut, trotz all seiner Macht und Gaben dann und wann auch einmal wie ein normaler Mensch zu denken. Die Sorge um seine Freunde könnte eine gute Erinnerung daran sein, dass er ein Mensch und kein Gott ist. Du weißt, dass dich im Augenblick keine Pflicht hier hält? Du könntest heute Nacht noch aufbrechen und dich von dem Tod entfernen, der im Schatten dieses jungen Mannes lauert.«

»Und das kommt von der Frau, die fern der Heimat im eisigen Winter lagert.« Mihn wies auf den Park, in dem alles von einer Eisschicht überzogen war.

Sie nickte, gestand ihm zu, dass er Recht habe. »Ich möchte dich nur daran erinnern, dass es deine Entscheidung ist, hierzubleiben oder nicht, und dass du diese Entscheidung tatsächlich bewusst fällen solltest, statt in seinem Windschatten von der anbrandenden Geschichte mitgerissen zu werden. Er ist ein Weißauge und der Erwählte des Nartis. Lord Isaks Ausstrahlung nimmt die Wesen in seiner Nähe gefangen, darum fällt es so leicht zu vergessen, dass man dennoch eine Wahl hat.«

Er schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht vergessen, und ich habe meine Wahl auch getroffen: zu tun, was ich kann. Ich habe den Blick in den Augen derer gesehen, die aus Scree zurückkehrten. Ich kann nicht gehen.«

»Gut. Welche Hilfe verlangst du dann von mir?«

Mihn atmete tief durch. »Isak erwähnte letzte Woche etwas, das Aryn Bwr in Scree zu ihm gesagt hatte, und dies blieb mir im Gedächtnis: ›Nicht jeder Stahl ist dazu bestimmt, ein Schwert zu werden.‹ Ich werde niemals so mächtig sein, dass ich ihm Konkurrenz mache, denn die Götter haben mich nicht dergestalt geformt, aber sie haben mich dennoch gesegnet. Akrobatik ist mir stets leichtgefallen und meine Fähigkeiten beim Spurenlesen und Schleichen übertreffen die jedes Farlan-Waldläufers, den ich bisher traf. Das sind heimliche Fähigkeiten, und ich hoffe, dass Eure Zauberkraft sie verstärken kann.«

»Willst du zum Dieb oder Meuchler für deinen Lord werden?« , fragte Ehla ernst.

»Ich tue, was mein Lord von mir verlangt«, antwortete er. »Aber mein Schwur hat Bestand. Graf Vesna hat mich deswegen bereits befragt – und ich werde meine Meinung nicht ändern.«

»Gut. Ich werde meinerseits nicht zulassen, dass meine Magie durch mörderische Taten beschmutzt wird.« Ehla musterte Mihn eine Weile. Er erwiderte ihren Blick, bis er bemerkte, dass auch Fernal ihn eindringlich beobachtete. Die Neugier des Halbgottes war schwerer zu ertragen, denn sein Blick brannte auf der Haut.

»Ich habe dich in Begleitung deines Herrn beobachtet. Du bleibst nah bei ihm, so nah wie ein Schatten …«

Fernal unterbrach sie, indem er die Hand hob. »Sei vorsichtig, wie du ihn nennst«, warnte er knurrend. »Denn ein Name gibt einer Sache erst Gestalt, ebenso, wie er von der Gestalt bestimmt wird.«

»Wenn man einen Mann als Vetter Azaers bezeichnet, öffnet man ihn damit seinem Einfluss? Eine vernünftige Vorsichtsmaßnahme«, stimmte sie zu. »Wir wissen nichts über die Kräfte des Schattens, aber wenn ich deine natürliche Begabung verstärken soll, dann sollten wir dich besser nicht als einen Schatten betrachten.«

»Aber du weißt, was zu tun ist?« Mihn wehrte sich gegen die Aufregung, die in seinem Herzen aufstieg.

Ehla nickte. »Ich muss gut darüber nachdenken und mich vorbereiten, aber ich habe eine Idee. Die Magie einer Hexe fußt nicht auf Macht, sondern auf Verständnis, auf der Arbeit mit dem, was bereits vorhanden ist. Du bist deinem Verhalten nach ein ruhiger, bedachter Mann, den man leicht übersieht, und begabt genug, um unbemerkt vorbeizuhuschen. Ich kann es vielleicht schaffen, einen heimlichen Mann zu einem geisterhaften zu machen, dich über die Grenzen zu erheben, die du bereits mit der Ausbildung in der Kindheit erreicht hast.«

»Wie wollt Ihr dies tun? Etwas verzaubern? Oder einen Zauberspruch sprechen?«

»Bei einer Verzauberung müsstest du ein Zeichen dafür tragen, es müsste beispielsweise in deine Kleidung gestickt werden, während du sie trägst, damit sie ein Teil von dir wird.« Nun endlich zeigte die Hexe einen Anflug von Gefühl. »Die Anrufung eines Gottes vielleicht? Cerdin, Gott der Diebe? Nartis? Der Nachtjäger wäre bei einem solchen Vorhaben ein mächtiger Verbündeter.«

»Keine Götter«, sagte Mihn nachdrücklich. »Wenn die Magie ein Teil meiner selbst werden soll, soll sie aber bitte nicht mit etwas verbunden sein, das mächtiger ist als ich.«

»Keine Anrufung also«, sagte sie nickend und starrte gedankenverloren in die Flammen des Feuers. »Nichts, das so einfach wäre. Ein Zauber, der mit deiner Seele verwoben werden muss, damit er stark genug für die Dinge ist, die Lord Isak von dir verlangen wird.«

»Das ist auch gefährlich«, führte Fernal an. »Die Auswirkungen wären ebenfalls an dich gebunden – und das wäre ein Bund, den du nicht leicht lösen könntest.«

»Aber es ist möglich«, hakte Mihn nach.

Ehla trank einen tiefen Schluck Tee und starrte weiterhin nachdenklich ins Feuer. »Das ist es. Ein Tarnzauber. Ich habe so etwas Ähnliches schon oft benutzt, aber für einen Geist muss es auf deine Haut gemalt werden … nein, sogar eingestochen werden, um die Energie in deinem Inneren zu halten, sonst wirkt es nicht lang. Ein Hautbild ist ein Teil von dir, und so wird auch der Zauber ein Teil von dir und kann nur entfernt werden, wenn die Haut selbst abgezogen wird.«

»Wie lange braucht Ihr für die Vorbereitung?«

Ehla zog die Nase kraus. »Einen Tag, um die Zutaten und Werkzeuge zu finden und die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Ich nehme an, dass mir der Haushofmeister alles Benötigte zur Verfügung stellen kann. Soll ich ihm verraten, wofür ich es brauche?«

»Sagt ihm vorerst noch nichts.«

»Gut. Morgen Nacht, das wäre ein bisschen zu voreilig, also in der Nacht darauf.«

Mihn erhob sich, leerte seinen Tee und reichte Fernal die Schale mit einem dankbaren Lächeln. Der Tee hatte die Kälte nicht aus seinen Knochen vertrieben, ihm aber ermöglicht, sie hinzunehmen. Er seufzte, als ihm ein großer Stein vom Herzen fiel. Zum ersten Mal seit seiner Rückkehr nach Tirah hatte er eine Aufgabe. »Danke. Ich komme übermorgen in der Abenddämmerung wieder.«