17
Mihn bemerkte, dass er sich vor dem Arbeitszimmer des Haushofmeisters herumdrückte. Er hielt sich im Schatten und beachtete die vorbeieilenden Männer und Frauen nicht weiter. Er wartete zwar nicht gerade auf etwas, zögerte aber auch nicht …
Er war froh, dass seine Handflächen nicht mehr stachen. Seine Füße waren vielleicht eine andere Angelegenheit, aber er hatte seine Stiefel bereits mit Wolle ausgestopft, und viel mehr konnte er nicht tun, außer gelegentlich von einem Fuß auf den anderen zu treten, um die Qual ein wenig zu mildern.
Zum zwanzigsten Mal an diesem Tag betrachtete er seine Hände, wobei er die Augen im schwachen Licht zusammenkniff. Es war nun bereits später Abend geworden und ein Großteil der Bediensteten war bereits über die vereisten Straßen nach Hause gegangen. Mihn hatte fast den gesamten Tag in Lord Isaks Kammer verbracht, um der zunehmend frustrierter werdenden Xeliath Gesellschaft zu leisten oder mit Isak zusammenzusitzen.
Das Weißauge war schon in guten Zeiten kein schwatzhafter Mann, aber während der letzten Woche schien er noch verschlossener geworden zu sein. Jetzt verbrachte er Stunden damit, auf einem Vorsprung über seinen herzoglichen Räumen zu sitzen, die Beine über die Kante baumeln zu lassen und das Land unter sich zu betrachten, während der eisige Wind an ihm zerrte. Wegen des rutschigen Steins und der gefährlichen Böen war er dort allein gewesen, bis Mihn zu ihm hinaufgeklettert war.
Daraus war eine seltsame Gewohnheit geworden, über die sogar die Dame Tila und Carel verständnislos den Kopf schüttelten. Mihn pflegte nun kurz vor der Abenddämmerung dort hinaufzuklettern. Sein Lord saß dann bereits wie ein merkwürdiger Wasserspeier da am Rand des Vorsprungs und rauchte eine Pfeife. Wortlos setzte sich Mihn neben ihn und blieb so lange dort wie sein Lord. Isak schwieg weiterhin, während Mihn jedes Lied sang, das ihm in den Sinn kam, von der Totenklage bis zum Schlaflied.
Nur das kurze Gebet, das den Sonnenuntergang begleitete, rief bei Isak eine Reaktion hervor. Jeden Tag verzog Isak bei diesen Worten das Gesicht, doch Mihn sprach sie trotzdem – er würde doch nicht von seinen eigenen Gewohnheiten abweichen, nur weil unter den Kulten Aufruhr herrschte.
Plötzlich flog die Tür zum Arbeitszimmer auf. Mihn sah ertappt auf und versteckte seine Hände rasch hinter dem Rücken. Tila kam durch die Tür und stieß einen Laut der Überraschung aus, als sie ihn bemerkte.
»Gnädige Götter, was lauerst du denn hier draußen?«
Mihn ließ ihren herrischen Blick an sich abgleiten, dann sagte er: »Ich warte natürlich auf den Haushofmeister.«
»Wenn er nach so einer aufgehübschten Dame geschickt hat, dann könntest du eine herbe Enttäuschung sein«, sagte sie im Versuch, ein Lächeln hervorzulocken. Am größten Dock des Flusshafens standen zwei Statuen nebeneinander, die von den Stadtbewohnern als der Fischer und die aufgehübschte Dame bezeichnet wurden. Jemand hatte am vorherigen Tag auf dem Übungsplatz einen entsprechenden Spruch gemacht, nachdem er Mihns Hände gesehen hatte. Und bis zum nächsten Morgen hatte es sich im ganzen Palast verbreitet.
»Oder etwas Schlimmeres, wenn ich deinen Gesichtsausdruck richtig deute«, fügte sie noch hinzu und gab dann auf.
»Etwas Schlimmeres«, stimmte Mihn zu. Er wusste, dass er für Tila ein Ärgernis war. Sie konnte sehr liebenswert sein, wenn sie es darauf anlegte, und zusammen mit ihrem guten Aussehen sorgte dies dafür, dass die meisten Männer des Palastes taten, was sie wollte. Neben Isak war Mihn der einzige Mann, den sie nicht so bezaubern konnte, und das machte sie offensichtlich wütend.
»Du weißt schon, dass du mir eines Tages wirst vertrauen müssen«, sagte sie spitz. »Ich vertrete Lord Isak den ganzen Tag über, während Lesarl das Reich führt. Mir sind Staatsgeheimnisse bekannt und doch verrätst du mir nicht einmal, was du zum Frühstück hattest.«
Mihn lächelte ihr aufmunternd zu. »Also gut. Als Geste der Versöhnung werde ich Euch dies nun an jedem Tag neu melden. Heute Morgen war es Griesbrei. Auch gestern war es …«
»Ach, halt die Klappe«, sagte sie, schien aber eher belustigt als verärgert. »Verrate mir doch lieber etwas Wichtigeres.«
Mihn verzog sein Gesicht zu einem Bild des angestrengten Grübelns. »Wichtiger als Greisbrei?«
»Neuigkeiten! Versuch nicht, mich mit deinen Pantomimenspielchen abzulenken.« Sie wies auf seine Hände. »Was ist damit? Erzähl mir etwas über diese Kreise.«
Sein Gesicht wurde wieder ausdrucklos. »Dazu gibt es nichts zu sagen.«
»Ha. Es ist ein Glück, dass ich zu sehr Dame bin, um so darauf zu antworten, wie es Vesna oder Carel täten.«
Mihn nickte zustimmend. »Und dafür bin ich sehr dankbar.«
»Darf ich sie mir wenigstens einmal ansehen?«
Ihre Stimme klang nun sanfter, und Mihn zögerte, rief sich die Worte noch einmal genau in Erinnerung. Harlekine wurden ausgebildet, jeden Dialekt zu sprechen, jedes Gefühl nachzuahmen. Nur wenige besaßen ihr Geschick, wenn es darum ging, Betonungen zu deuten, und so nickte er. Sie versuchte nicht, ihn um den Finger wickeln, ihre Worte waren aufrichtig gemeint gewesen.
Er streckte die linke Hand aus, die sie ergriff und mit der Handfläche nach oben drehte. Es fühlte sich seltsam an, denn er war sein ganzes Leben lang keusch gewesen. Harlekine hielten ihr Geschlecht geheim, und seit Mihn verstoßen worden war, hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, sich deswegen Gedanken zu machen oder in dieser Hinsicht tätig zu werden.
Die Berührung ihrer sanften Finger sandte ein Kribbeln durch seinen Arm. Tila bemerkte davon aber nichts und beugte sich über seine Hand. Sie war zwar größer als er, aber schlank, sogar im Vergleich zu seiner drahtigen Gestalt. Fasziniert strich sie mit einem Finger über das Hautbild, das den Großteil seiner Handfläche bedeckte. Nur seine Ausbildung verhinderte, dass er bei der Berührung zusammenzuckte, aber Tila blickte dennoch auf, als habe er sich bewegt.
»Ehla hat dies gemacht?«, fragte sie.
»Es wäre mir schwergefallen, es selbst zu tun«, antwortete er und bemerkte, dass sie – wie viele Farlan – die Hexe von Llehden nicht gerne mit ihrem Titel bezeichnete, obwohl ihr Stamm dafür bekannt war, Titel sehr wichtig zu nehmen. Statt sie »die Hexe« zu nennen, nutzten sie alle den Namen, den sie ihnen angeboten hatte. Er erinnerte sich an Fernals Worte: »Ein Name gibt Gestalt, so wie er auch aus der Gestalt hervorgeht.«
Wie wahr, und mehr Leute nennen sie Ehla – Licht – und benutzen ihren wahren Namen nicht. Sie hat sich angreifbar gemacht, indem sie sich einen Namen hat geben lassen, oder hat sie die Absicht, die Veränderungen, die dieser Name in ihr hervorruft, irgendwie zu nutzen?
»Warum ein Eulenkopf?«, fragte Tila und riss ihn damit aus seinen Gedanken.
Die Hautbilder auf seinen Fußsohlen und Handflächen bestanden aus drei ineinanderliegenden Kreisen, und in der Mitte lag ein vereinfachter Eulenkopf. In den beiden äußeren Ringen befand sich Schrift. Im Inneren kantige elfische Runen und im Äußeren eine angedeutete Form des westlichen Dialekts der Hexe. Es waren Mantras, die sie gesprochen hatte, während sie die Bilder in seine Haut gestochen und seinen Körper so mit Worten der Stille und Heimlichkeit erfüllt hatte.
»Es schien angemessen«, antwortete Mihn. Er entzog sich ihrem Griff und sprach mit fester Stimme: »Ich muss jetzt mit dem Haushofmeister sprechen.«
»Worüber?«
»Eine persönliche Angelegenheit.«
»Persönlich? Seit wann habt ihr beide Persönliches zu besprechen?« , fragte sie scharf. »Hat sich in der letzten Woche etwas verändert? Normalerweise wuselst du durch die Gänge, um ihm zu entgehen, damit er dich nicht zu seinem besten Spion macht.«
»Ich wusele?«, fragte Mihn und hob eine Augenbraue. Wie erhofft lachte Tila darüber.
»Vielleicht war das nicht ganz das richtige Wort.« Sie bedeutete ihm, in den Raum zu gehen. »Komm, ich setze mich dazu – ich bin sicher, dass Lord Isak gern davon erfahren möchte, was auch immer Lesarl von dir will.«
Mihn ergab sich mit einem knappen Nicken und folgte ihr in den Raum. Das Arbeitszimmer des Haushofmeisters war lang und schmal, mit einigen Fenstern an der Rückseite. Der Schreibtisch, ein riesiges, mit Elfenbein-Einlegearbeiten verziertes Untier von einem Möbelstück, stand in der Mitte. Es war der einzige Schmuck, den sich der Herrscher über den Alltag der Farlan erlaubte. Die langen Wände auf beiden Seiten wurden von deckenhohen Regalen eingenommen, die mit gebundenen Ledermappen vollgestopft waren. Zwischen den Fenstern standen zwei Bücherregale Rücken an Rücken. Eines der Regale hatte man noch nicht vollgestellt, aber das war, so vermutete Mihn, nur eine Frage der Zeit.
»Dies ist die genaueste Geschichtsschreibung über die vergangenen zweihundert Jahre«, sagte Lesarl, der Mihns Blicke auf die Mappen deutete. »Wenn man weiß, wie man sie zu lesen hat. Könnt Ihr erraten, welches Eure Akte ist?«
»Ich vermute, eine der neueren auf dem Regal hinter Euch«, sagte Mihn, während er auf den Schreibtisch zuging. Zwei Lehnstühle mit gerader Rückenlehne standen daneben.
»Das hättest du gerne, nicht wahr?«, sagte Tila leichthin, ging um den Tisch herum und setzte sich auf ihren Stuhl. »Aber der Verfolgungswahn unseres Haushofmeisters kennt keine Grenzen. Die Nummerierung erlaubt es, neue Akten an zufälligen Stellen einzuordnen – und bisher habe ich es noch nicht geschafft, die Akten zu erkennen, die als Platzhalter eingefügt wurden oder die falschen Dokumente, die in den meisten Akten stecken, falls doch einmal jemand hineinsieht, der nicht dazu befugt ist. Aber wenigstens durchschaue ich langsam seine kryptischen Anmerkungen, so dass mir die fehlenden Namen nicht mehr solche Schwierigkeiten bereiten.«
Lesarl lächelte Mihn wie eine Schlange an, die kurz davor war, eine Maus zu verspeisen. »Es wäre dumm, sich auf die Sicherheitsmaßnahmen des Palastes zu verlassen, nicht wahr?«
Mihn zuckte die Achseln.
»Ihr habt keine Lust auf einen Plausch?«, fragte der Haushofmeister. Er war ein dünner Mann mit spinnendürren Gliedern und einem schmalen, spitzen Gesicht. Sein Lächeln war der bösartigste Ausdruck, den Mihn jemals gesehen hatte, und es war Lesarls Liebling, aus einer ganzen Reihe von Ausdrücken ausgewählt, die vielleicht nicht so anwechslungsreich waren wie das Repertoire eines Harlekins, aber ganz sicher ebenso kunstvoll.
Er erhob sich und sagte: »Wie die Dame Tila sehr richtig ausführte, beansprucht mein Verfolgungswahn einen Großteil meiner Zeit. Wenn Ihr also nur dort sitzen und vor Euch hinstarren wollt, dann werdet Ihr mir sicher verzeihen, dass ich unterdessen ein wenig arbeite.«
»Ich benötige Informationen«, sagte Mihn.
Das Lächeln kehrte auf Lesarls Gesicht zurück. »Davon habe ich mehr als genug, aber Ihr müsstet etwas genauer werden.«
»Ein Tagebuch – ein sehr ungewöhnliches Tagebuch, das Lord Bahl vor seinem Tod las.«
Es kam fast unmmerklich, aber Mihn glaubte trotzdem ein kurzes Zögern beim Haushofmeister zu entdecken, bevor er antwortete: »Unser Lord war ein gebildeter Mann, darum wäre es nötig, etwas mehr zu erfahren.«
Interessant – du weißt, wovon ich spreche, und es ist ein Thema, über das du nicht reden möchtest. Entweder bist du nicht so sadistisch, wie man sich erzählt, oder hier gibt es etwas, das du geheim halten willst.
»Ich glaube, Ihr kennt das Tagebuch schon«, sagte Mihn.
»Vielleicht habe ich eine Vermutung«, antwortete Lesarl kühl. »Aber was wäre damit?«
»Ich möchte es lesen – habt Ihr es noch?« Mihn überging Tilas fragende Blicke.
»Ihr arroganter, kleiner …«, fauchte Lesarl plötzlich. »Versucht Ihr herauszufinden, ob ich es verkauft habe?« Er beugte sich über den Schreibtisch. »Das habe ich nicht getan, und das würde ich auch nicht tun. Wie könnt Ihr es wagen, so etwas auch nur anzudeuten?« Der Haushofmeister bebte vor Zorn. »Ich nehme meine Aufgabe hier wichtiger als Ihr … ihr Kinder es jemals verstehen könntet. Mein Aufgabenbereich ist klar umrissen. Und ihn zu übertreten würde eine sofortige Hinrichtung ohne Gerichtsverfahren bedeuten …«
»Ich hielt es für angemessen, danach zu fragen«, unterbrach ihn Mihn mit ruhiger Stimme. »Es ist immerhin ein heikles Thema.«
Lesarl sah ihn nachdenklich an. Sein Gesicht verlor den roten Ton, und seine Stimme war ruhiger, als er antwortete: »Das ist es. Das Tagebuch ist nicht für die Augen der Öffentlichkeit gedacht. Bevor wir weitersprechen, wüsste ich gerne, warum Ihr es lesen wollt. Und wie Ihr überhaupt davon erfahren habt.«
»Lord Isak erwähnte es in meinem Beisein«, sagte Mihn. »Und ich weiß nicht genau, was ich damit will. Ich suche Antworten – und vielleicht auch weitere Fragen. Bisher weiß ich das noch nicht genau. Aber ich antworte Euch aufrichtig.« Und das ist das Problem. Ich weiß selbst nicht so ganz, warum ich es lesen will. Vielleicht hat Isaks Wagemut auf mich abgefärbt.
»Ihr wisst es nicht? Obwohl es um eine Angelegenheit der Staatssicherheit geht?«
Aus dem Augenwinkel sah Isak, dass Tilas Ausdruck nun angespannter wirkte, aber sie mischte sich nicht ein. Ohne Zweifel wusste sie genau, dass Lesarl nichts mehr liebte, als wenn ihn jemand um Informationen anflehte.
»Sollte Lord Isak nachfragen, warum Ihr es nicht zerstört habt?«
»Denkt nicht einmal daran, mich damit zu erpressen. Ihr könnt mir nichts vorspielen, wenn ich alle Karten sehen kann. Aber wenn Ihr wisst, was es ist, dann wisst Ihr auch, dass man solche Dinge nicht so einfach beseitigen kann.«
Mihn lächelte grimmig. »Ich bin sicher, dass Euch ein Gefallen vorschwebt, der für das Tagebuch oder Hinweise auf seinen Aufenthaltsort angemessen ist.« Er erschauderte, als sich daraufhin eine plötzliche und offensichtliche Freude auf Lesarls Gesicht zeigte.
»Ein Gefallen, hm? Also das ist ein interessantes Angebot.«
»Ein Gefallen«, warnte ihn Mihn. »Keine Abmachungen auf Dauer.«
»Habt Ihr etwa Angst davor, Euch zu binden?« Lesarl grinste. »Meine Mutter hat mich vor Männern wie Euch immer gewarnt.«
»Schlagt Ihr ein?«
Lesarl schürzte die Lippen und nickte dann nachdenklich. »Das tue ich, aber Ihr müsst den Gefallen vorab leisten.«
»Was ist es?«
»Ich brauche einen oder zwei Tage, um einige Vorbereitungen zu treffen.«
»Und sobald der Gefallen abgegolten ist, werdet Ihr mir alles über das Tagebuch berichten.«
Lesarl schenkte ihm ein verzücktes Lächeln: »Wir sprechen darüber, sobald Ihr zurückkehrt.«
Zwei Tage später hockte Mihn hinter einer Statue und versuchte sich vor dem Wind zu schützen, der vom Fluss heraufwehte. Wolkenbrüche machten die offenen Straßen Tirahs noch ungemütlicher. Der Irist, der größte Wasserweg, führte in diesem Winter Hochwasser und strömte wild dahin, die Umgebung aber war dunkel und rutschig.
Hundert Schritt flussaufwärts lag der Tempel Tods, wohin Mihn unterwegs war. Wie bei den meisten Tempeln grenzten auch hier die Unterkünfte und Arbeitszimmer der Kleriker aneinander. Der Tempel hatte die Form eines gewaltigen Kreuzes, wie es auf einer Schatzkarte den Fundort markieren würde. Es nahm ein großes Stück des Ufers ein, und man hatte die Gebäude auf beiden Seiten des eigentlichen Tempels für weniger heilige Handlungen freigegeben oder an Händler vermietet.
Dadurch hatte man genug Geld, um die ungewöhnlich große Herde von Pönitenten willkommen heißen zu können. Die Angehörigen des Tempels – die Geweihten, Priester und Novizen – waren weiter nach Süden versetzt worden. Nur der Hauptwohnsitz des Hohepriesters war dort verblieben, ein mittelgroßer Palast, der an der Stelle stand, an der sich zwei der Arme des Tempels trafen. Von ihm aus hatte der Hohepriester einen großartigen Ausblick auf den Fluss, was anderen, die schwächer im Glauben waren, nun verwehrt blieb. Das bedeutete, dass weniger Leute in der Nähe waren, die Mihn dabei erwischen konnten, wie er aus dem Schatten der Statue trat und in den Tempel einbrach.
Er hatte seinen Stab gegen zwei Kampfstöcke eingetauscht, weil er sie besser auf dem Rücken verstauen konnte und sie sich eher für den Einsatz in einem Gebäude eigneten. Außerdem hatte er sich ein Seil mit einem Wurfanker daran um den Bauch gebunden und trug eine kleine Porzellanvase bei sich, deren Deckel fest zugeschraubt und zusätzlich mit Draht umwunden war, einen Flakon mit Selbstgebranntem, den die Palastwachen Mistkerl getauft hatten, und dazu einen Stoffumhang, von dem ein Zopf aus Pferdehaar hing.
In einem atemberaubenden Mangel an Treue hatte Lesarl diesen Umhang vorgeschlagen, damit man Mihn, wenn er gesehen würde, seiner Gestalt und des Zopfes wegen für eine Anhängerin der Dame halten und die Schuld auf ihren Tempel schieben möge. Der Haushofmeister war nicht erfreut darüber, dass seine Spione dort seine Befehle vor kurzem erst missachtet hatten. Darum war es ihm nur recht, wenn mögliche Probleme beim Tempel und nicht bei ihm aufliefen.
Mihn hatte die Umgebung zuvor ausgekundschaftet und wusste recht gut, wo sich die Wachen befanden. Bei seinen Bemühungen, nicht bemerkt zu werden – er sah immerhin verdächtig nach einem Ausländer aus, wie Isak nur zu gern betonte –, achtete er besonders auf patrouillierende Pönitente. Das Wichtigste bei diesem Auftrag war, nicht entdeckt zu werden. Lesarls andere Spione waren geschickter darin zu morden als zu schleichen. Darum war Mihn hier.
Aber wie so oft bedeutete Heimlichkeit auch, dass man Umwege nehmen musste. Lesarl hatte nur vage angedeutet, was passieren würde, wenn Mihn den Draht abwickelte und den Deckel der Vase öffnete, aber er hatte zumindest vorgeschlagen, dass sich Mihn rasch zurückziehen und in dem ausbrechenden Aufruhr einen Abgang machen sollte.
Mihn legte den Mantel aus Öltuch ab, den er als Schutz vor dem Regen trug, schlüpfte aus den Stiefeln und machte sich auf den Weg durch die Dunkelheit. Sofort ging eine Verwandlung mit ihm vor, veränderte sich seine Wahrnehmung des Landes. Er konnte seine eigenen Schritte über das Prasseln des Regens hinweg nicht hören, und doch fiel nur dann und wann ein verirrter Tropfen auf seine Schultern. Während er von einem Schatten zum nächsten huschte, wurde der Schmerz seiner Hautbilder durch ein warmes Prickeln ersetzt. Zuerst beunruhigte es ihn, aber bald genoss Mihn die Empfindung. Sie war nicht beruhigend, nicht einmal angenehm, aber sie rief doch etwas in ihm hervor, das er nicht mehr gespürt hatte, seit sein Vater ihm das Spurensuchen und Jagen beigebracht hatte: die Erregung eines Raubtiers auf der Hatz.
Mihn hatte diese Kunst dank seines Geschicks und seiner Flinkheit so bemerkenswert schnell gemeistert, dass sein Vater die Eignung seines Sohnes für die Ausbildung zum Harlekin schon Jahre vor der Auswahl erkannt hatte. Nun steigerte die Magie der Hexe seine Fähigkeiten noch weiter, über das Menschenmögliche hinaus.
Die Kälte biss in seine Zehen, doch er blendete sie aus und konzentrierte sich stattdessen auf seinen Weg. Die erste Patrouille trat aus der Dunkelheit und Mihn glitt näher an das Lagerhaus. Ihre Blicke wanderten über ihn hinweg, ohne ihn zu bemerken. In der Dunkelheit verrät sich ein Opfer weniger durch seine Gestalt als durch seine Bewegungen. Der Zauber, den sie in seine Haut gewoben hatte, verschleierte nicht, was er war – eine Magie von solcher Macht überstieg die Fähigkeiten der Hexe. Doch sie verbarg seine Handlungen. In Schwarz gekleidet wie er war, hätte sich Mihn auch nur halb so weit entfernt im Schatten stehend vor den durchnässten Pönitenten verstecken können.
Als sie in die andere Richtung blickten, löste er sich aus dem Schatten und setzte seinen Weg mit fließenden, stillen Schritten fort. Als der Palast des Hohepriesters in Sicht kam, lächelte er. Die Hautbilder erreichten alles, was sich Mihn von der Hexe erbeten hatte. Jetzt war es an der Zeit herauszufinden, wie viel Ärger ein Geist mit einem Auftrag anrichten konnte.
Der Palast war nicht darauf ausgelegt, Eindringlinge abzuhalten, und die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen fußten auf Überheblichkeit. Mihn erreichte das Ende des Lagerhauses und nahm sich einen Augenblick Zeit, die Lage noch einmal zu prüfen. Natürlich standen vor dem Eingang zum Tempel Tods Wachen, weil das Haus des Todes stets geöffnet bleiben musste. Aber vor dem Palast des Hohepriesters zog nur ein einzelner Pönitent seine langsamen Kreise. Mihn wartete, bis sich der Mann an eine Stelle bewegte, an der ihn die anderen Wachen nicht sehen konnten, dann eilte er lautlos hinter ihn und schlug ihm mit einem Kampfstock kräftig auf den Hinterkopf.
Danach zog er die bewusstlose Wache in den Schatten und holte den Selbstgebrannten hervor, um dem Mann einen Großteil davon in den Mund zu schütten und dann seine Kehle zu massieren, bis er schluckte. Wenn er wieder aufwachte, würde er ordentliche Kopfschmerzen haben. Dann verschüttete Mihn das Zeug großzügig auf der Robe des Pönitenten und schmierte etwas Blut des Mannes auf eine nahe Wand.
Mistkerl war bei schweren Trinkern bekannt und beliebt, weil es schnell zur Ohnmacht und einem beinahe komatösen Schlaf führte. Lesarls Spitzel hatten ihm mitgeteilt, dass die Priester den Nachschub für die Wachen einschränkt hatten, darum wäre die naheliegendste Frage hier, warum er nicht mit seinen Kameraden geteilt hatte. Wenn er aufwachte und eine andere Geschichte erzählte, würde man das eher als Versuch betrachten, sich aus einer Anklage herauszureden, nicht aber als die Wahrheit.
Mihn sah sich erneut um, ob auch keine Patrouillen in Sichtweite waren, dann lief er auf die Wand zu und ließ sich von seinem Schwung bis zu den Fensterbänken des hochliegenden Erdgeschosses tragen. Die Berührung des eiskalten Steins entlockte Mihn ein leises Zischen, während er sich zur Kante hochzog. Aber in einer so klaren, stillen Nacht wollte er seinen Kletterhaken nur einsetzen, wenn es unabdingbar wurde. Die Decken der Räume im Erdgeschoss waren fast sechs Meter hoch – und damit prächtig genug, um wichtige Gäste zu empfangen. Außerdem reichten die Fenster fast bis zur Decke.
Er richtete sich auf, wobei er sich an der Laibung der Fenster festhielt, und sah die ins dünne Glas gekratzten Siegel, die das Geräusch brechenden Glases noch verstärken würden, und es war anzunehmen, dass sich auch auf dem dicken Eichenrahmen solche Zeichen befanden, die Ähnliches verursachten, wenn man das Fenster als Ganzes herausbrach oder entfernte.
Er drehte sich vorsichtig mit dem Rücken zum Fenster und blickte auf das uralte Tirah. Es bot mit seinen türmchenbewehrten Dächern und den gewaltigen Türmen einen bezaubernden Anblick, wenn sie von Alterrs Licht erhellt wurden. In einem Wintersturm mit Regenschauern sah es anders aus, dann war es eine schreckliche Stadt mit hasserfüllten Straßen und einer so überheblichen wie gefühllosen Ausstrahlung.
Eine Stadt der Hochnäsigen, die mit Abscheu auf alle anderen herabblickten – vor allem auf alle, die in einer solchen Nacht etwas zu erledigen haben, dachte Mihn ungewohnt gereizt, während er eine Patrouille beobachtete, die in der Ferne vorbeilief und nicht einmal zum Palast herübersah. Die Kälte ließ seine Finger und Zehen schmerzen, und als er sie bewegte, um den Blutfluss anzuregen, lehnten sie sich empfindlich auf.
Auf der anderen Seite habe ich schon mehr Nächte im Freien verbracht, als ich zählen kann, und es sieht überall ziemlich schrecklich aus, wenn es regnet.
Das Leben eines Wanderers hatte Mihn vor allem eines gelehrt: Verbitterung war tödlich, wenn man sich ihr hingab. Unwillkürlich widersprach er sich im Geiste selbst, denn er war sich bewusst, dass er sich mit solchem Gejammer die Laune vermiesen würde, was wiederum zu Fehlern führen mochte, die er sich nicht leisten konnte.
Ihr Götter, ich habe fast vergessen, wie es zu Hause gewesen ist. Eisiger Regen, der von der Nordküste herabzog und sich anfühlte, als schneide er einem das Fleisch vom Leib. Langsam kroch ein Lächeln auf seine Lippen. Und Pirail in der Elfenbrache – wie dumm ich war, diesen Ort nicht vor dem Winter zu verlassen … der verdammte Wind war mir im Sommer nicht so schlimm vorgekommen.
Er schüttelte die Finger aus. Los geht es. Er legte die Handflächen zu beiden Seiten des Fensters auf die Wand, stemmte sich dagegen und zog sich hoch, bis er das Gleiche mit den Füßen tun konnte.
Und Tio He, fuhr er im Geiste fort, um sich von dem Schmerz abzulenken, den der raue, eiskalte Stein auf seiner Haut verursachte, während er seine Hände weiter nach oben schob und die Bewegung wiederholte. So stickige, dicke Luft, dass man sie fast kauen konnte.
Er schob eine Hand unter den Sturz und die andere in einen Riss darüber, um dann seine Füße weiter hinaufzuziehen. Dabei verdrängte er die Pein seiner Finger, als sie einen Großteil seines Körpergewichts halten mussten. Eilig schob er sich über das Fenster hinaus weiter nach oben und ergriff dort den Fenstersims des ersten Stockes mit der linken Hand.
Tonlos stieß Mihn die Luft aus, während er seinen Unterarm auf den Sims schob und sich hochzog, bis er sich drehen und darauf setzen konnte. Ter Nol, dachte er, während er tief durchatmete und seine Hände erneut bewegte, wobei er diesmal auch auf Schnitte achtete.
Vielleicht könnte ich nach Ter Nol zurückgehen und dort einige Jahre die Aussicht genießen. Im Sommer und im Herbst, das waren einige der schönsten Anblicke meines Lebens, damals auf dem Narwal-Dock. Ich wette, nach ein bis zwei Jahren bemerke ich den Gestank auch gar nicht mehr.
Er stand auf dem Fenstersims und lehnte sich zurück, um nach dem nächsten Fenster zu sehen. Der zweite Stock befand sich ein gutes Stück über ihm, darum zog er zwei Dinge aus einer Tasche am Bein, die wie abgebrochene Dolche aussahen. Sie hatten fingerdicke, gebogene Metallklingen und waren eher fürs Klettern als fürs Kämpfen gedacht. Er rammte einen über dem Sturz in eine Steinfuge und zog vorsichtig daran, bis er sein Gewicht hielt. Die Klinge war zwar stark genug, aber sein Handgelenk wackelte etwas – sie bot ihm einfach nicht genug Grifffläche. Mit einem Seufzen zog er den Dolch wieder aus dem Mörtel und steckte ihn in die Tasche zurück.
»Also doch der Wurfanker«, flüsterte er, und seine Lippen strichen über die Wand, während er sich zur Seite lehnte, um die Entfernung abzuschätzen.
»Wollen wir hoffen, dass sie nicht jedes verdammte Fenster in diesem Haus gesichert haben.«
Der mehrzackige Haken war fest auf seinen Rücken gebunden, aber trotz tauber Finger schaffte es Mihn schnell, ihn zu lösen. Er hatte den Anker nicht benutzen wollen, aber die Entfernung zum nächsten Fenstersims war so gering, dass niemand ihn bemerken würde, wenn er ihn nicht ohnehin schon beobachtete. Und wenn dies der Fall war, steckte er bereits in Schwierigkeiten.
Kurz darauf kauerte er im Schatten eines Fensters im zweiten Stock und lächelte in die jungfräuliche Oberfläche der Glasscheiben.
Er verstaute den Wurfhaken wieder sicher, dann kratzte er das Blei um eine der Scheiben mit seinem Messer weg, damit er das Glas herausnehmen und eine Hand hineinschieben konnte, um den Bolzen zu lösen. Kurz darauf stand er in einem spärlich eingerichteten Arbeitszimmer und bedankte sich im Geiste bei Lesarl für die Genauigkeit seiner Informationen. Er setzte die Glasscheibe wieder ein und zog den dicken Vorhang zu, der die Winterkälte abhalten sollte. Dabei kam er auf die Idee, sich mit der Innenseite der Vorhänge so gut wie möglich abzutrocknen. Der Vorhang wäre schon wieder trocken, bis jemand nachsah, und so war es auf jeden Fall sicherer, als nasse Fußstapfen im Flur zu hinterlassen.
Er ging aus dem Zimmer auf den Flur, überlegte kurz, wo auf dem auswendig gelernten Grundriss er sich befand, und eilte dann zur Gesindetreppe. Er erklomm zwei Absätze und fand bald das Schlafzimmer des Hohepriesters. Es nahm, zusammen mit dem riesigen Arbeitszimmer des Mannes, das halbe Stockwerk ein.
Der fein verzierte Vorhang, der die drei Türen des Raumes verdeckte, war beim mittleren Eingang, der dem Brauch gemäß keine Tür enthielt, um den Tempel nachzuahmen, beiseitegezogen. Hier gab Hohepriester Bern üblicherweise seine Audienzen. Mihn trat leise ein und sah sich um. Eine einzige Öllampe spendete wenig Licht im Flur, gerade genug, um Umrisse zu erkennen, aber es reichte aus, damit Mihn die Regale an den Wänden und den Schreibtisch und einige Stühle sehen konnte, die in einem sonst leeren Raum standen.
Zur Rechten ging eine weitere Tür ab, die zum Schlafzimmer des Hohepriesters führte. Mihn vermutete, dass sie trotz der bisher geringen Sicherheit verschlossen war, probierte es aber gar nicht aus – er brauchte das nicht zu tun. Er zog einige Blätter unter seinem Hemd hervor und verteilte sie auf dem Schreibtisch, dann band er die Vase los und stellte sie auf den Boden.
Über ihm verlief ein langer Balken durch das ganze Zimmer, beinahe so breit wie sein Körper und auf jeden Fall breit genug, um sich daraufzuhocken und zuzusehen, was geschah – er war sicher, dass jeder, der in Kürze in den Raum kommen sollte, nicht nach oben sehen würde, und falls doch, dann würde ihn der Zauber der Hexe schützen. Er löste vorsichtig den Draht, der den Deckel des Gefäßes hielt. Es war etwas größer als eine Handfläche, aber doppelt so dick und mit einem dunkelgrünen, verschlungenen Muster bemalt, das Mihn nichts sagte. Er nahm den Deckel ab und sprang dann sofort auf Jopel Berns Schreibtisch und von dort weiter, packte den Balken und zog sich leise hoch. Er legte sich flach auf das Holz und wartete schweigend, das Gefäß im Blick.
Gar nichts geschah. Aus einem Herzschlag wurden fünf, dann zehn. Mihn bemerkte, dass er die Luft anhielt und atmete leise aus – genau in diesem Augenblick erschien an der Öffnung des Gefäßes ein grünes Leuchten. Plötzlich schoss es in die Luft und wurde zu einer mannsgroßen Wolke, um sich dann zu einer Gestalt zu verdichten.
Gnädige Götter, hoffentlich wirkt die Magie der Hexe auch hier, betete er und umfasste den Balken fester.
Der Dämon war in etwa so groß wie ein großer Mann und dazu nackt, mit unregelmäßigen Stachelbüscheln wie bei einem räudigen Stachelschwein. Seine linke Hand schien einigermaßen gewöhnlich – wenn man die überlangen Finger und Krallen nicht beachtete. Aber die rechte war wesentlich größer, mit zwei kurzen, fingerähnlichen Auswüchsen, aus denen einige lange, dicke Stacheln ragten.
Während Mihn ihn beobachtete, drehte der Dämon seinen Körper nach links und rechts. Er besaß keinen Hals, mit dem er den flachen Kopf hätte bewegen können, aber dafür deckten zahlreiche Augen beinahe jede Blickrichtung ab. Kurz fragte sich Mihn, warum sich der Dämon überhaupt drehte, doch dann bemerkte er sein Schnüffeln und sah, dass sich die schlaffe Haut in seinem Gesicht erst in die eine, dann in die andere Richtung bewegte.
Mihn machte sich bereit, vom Balken herunterzuspringen, sollte sich der stachelbewehrte Arm heben. Der Dämon schnüffelte zunehmend aufgeregter herum und machte einen Schritt auf die aufgeräumten Regale an der gegenüberliegenden Wand zu. Immer wieder sprang er weiter vor, folgte einem Geruch, den Mihn nicht wahrnahm, bis er die Ecke erreicht hatte.
Der Dämon schnüffelte angestrengt, packte dann das letzte Regal und schleuderte die Akten und Bücher auf den Boden, knurrte und schlug noch etwas beiseite – eine Holzplatte, vermutete Mihn, so wie es klang, als es auf den Boden fiel – und starrte die Wand an.
Mihn sah nicht, was er betrachtete, aber es schien den Dämon nicht zu beunruhigen – ebenso wenig wie eine gedämpfte Stimme, die aus dem Schlafzimmer des Hohepriesters klang. Mit einem rollenden, schweren Geräusch, das ein Kichern sein mochte, wischte sich der Dämon die Klaue an der Wand ab, dann fasste er in eine Nische und zog ein dickes Buch hervor. Im mattgrünen, magischen Licht, das den Dämon umspielte, leuchteten die Ecken des Buches auf.
Vermutlich Silber. Das ist ein Grimoire – aber was fängt ein Priester mit einem Grimoire an? Nur Magier sammeln doch Sprüche in einem Buch.
Der Dämon drehte sich um und wog das große Buch mit einem anerkennenden Grunzen in einer Hand. Mihn erkannte, dass er zufrieden war, auch wenn er seinen Mund nicht sehen konnte, ja nicht einmal wusste, ob er unter dieser seltsamen, zu großen Nase überhaupt einen Mund besaß. Er hatte gefunden, wonach er gesucht hatte.
Aus dem Schlafzimmer klangen nun weitere Geräusche und der Dämon hob seinen tödlichen rechten Arm. Er sah auf und entdeckte Mihn, der noch immer auf dem Balken kauerte. Die Nasenlappen richteten sich auf.
»Er, der beschützt werden muss«, sagte der Dämon mit einer Stimme, als bestünde seine Kehle aus Sandpapier. »Er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Ich rieche Macht an dir. Du gehörst jemandem, der größer ist als ich.« Er hob das Buch. »Die Schriften des Cordein Malich. Das Verzeichnis seiner Schulden und der Geruch seiner Seele. Sag dem anderen, dass ich zufrieden bin.«
Im nächsten Augenblick flog die Schlafzimmertür auf und Hohepriester Bern kam wie ein Geist in einem flatternden Nachthemd hindurch, den Spazierstab drohend erhoben. Der Dämon hob beinahe nachlässig die Hand und stach mit den Stacheln an seiner Hand zu, um den Hohepriester aufzuspießen. Bern keuchte schmerzerfüllt auf, als die Stacheln seine Brust durchdrangen und am Rücken wieder austraten, wobei sie Blut auf die Wand spritzten. Der Dämon lachte erneut und wendete sich Mihn zu. Zwei seiner Augen leuchteten im dunklen Raum auf.
»Der andere verlangte nach Chaos, um deine Flucht zu decken.« Er steckte einen Finger in das Blut, das aus den Wunden des Hohepriesters floss und leckte ihn dann ab. »Es wird mir eine Freude sein, Chaos anzurichten.«