11
Isak öffnete die Tür und verharrte noch im Schritt. Er konnte die Feindseligkeit in der Luft spüren, noch bevor er die Kammer betrat. »Zankt ihr schon wieder?«, fragte er.
Xeliath und Horman funkelten Isak an, während er hereinkam. Sie saßen auf Diwanen, die zu beiden Seiten des Feuers standen und hatten sich mit dicken Decken zugedeckt, auf denen Isaks Smaragddrachen-Wappen prangte. Xeliath wusste am besten, wie sie es sich bequem machen konnte, vor allem, seit ihre Stärke zurückgekehrt war. Horman hingegen konnte sich nicht daran gewöhnen, behindert zu sein – seine verbliebene Hand, die Isak im Tempel des Todes in Scree gebrochen hatte, war nicht sonderlich gut verheilt – und noch weniger zu gebrauchen als die von Xeliath.
Nach kurzer Verärgerung glätteten sich Xeliaths Züge wieder, und Isak wurde mit einem warmen, strahlenden Lächeln bedacht. »Du siehst so gut aus«, sagte sie auf Farlan, und Isak musste dagegen ankämpfen, wie ein kleiner Junge zu erröten. Er war beeindruckt, wie gut sie die Sprache bereits beherrschte – und dann wurde sie mit jedem Tag auch noch besser.
Er hatte sich gedacht, dass er vor dem Tagwerk, das aus seiner Krönungszeremonie bestand, noch einmal nach ihnen beiden sehen wollte, aber vielleicht war das nicht der einzige Grund für sein Hiersein. Heute würde ihn die Synode offiziell als Lord der Farlan bestätigen, darum war er mit einem weißen Wams und einer weißen Hose, die mit Gold und Perlen bestickt waren, angetan. Zudem trug er den gekrönten Drachen auf seiner Brust, einem Motiv, das sich auch auf seinem Mantel wiederfand. Sein Haar war geschnitten und die Wangen sauber rasiert worden. Tila hatte gesagt, er habe noch nie majestätischer gewirkt. Es gefiel Isak, darauf angesprochen zu werden.
Ihr Götter, dachte Isak spöttisch, wenn ich nicht nach der Annerkennung meines Vaters lechze, versuche ich Frauen zu beeindrucken. Ich kann nicht einmal sagen, was närrischer ist!
»Sei mal nicht zu selbstzufrieden«, grollte Hormann, als könne er seine Gedanken lesen. Er drehte sich ein wenig und stöhnte dabei auf, aber Isak war erfreut zu sehen, dass seine Wangen wieder rosiger schienen, auch wenn er noch immer erschöpft wirkte und viel zu dünn war. »Diese kleine Schlampe hat das zu jedem Mann gesagt, der sich in der letzten Woche hier hat blicken lassen. Das Mädchen hat deinem edlen Grafen förmlich hinterhergesabbert.«
Xeliath warf Hormann einen gemeinen Blick zu, aber er lachte sie nur aus.
»Ha, gefällt dir nicht, wenn ein Mann nicht nach deiner Pfeife tanzt, nur weil du mit den Wimpern klimperst, was? Mädchen, ich habe mich die meiste Zeit seines Lebens mit der Dummheit von dem da herumgeschlagen – euer Weißaugen-Zauber perlt an mir ab.«
»Stinkender Bauer«, zischte Xeliath und wechselte dann in ihre eigene Sprache, um einen Strom Unflätigkeiten über ihn zu ergießen. Isak brauchte keinen Übersetzer, um zu erkennen, dass die meisten Begriffe eher dem Wortschatz der Soldaten ihres Vaters entstammten als dem der edlen Damen. Die hohen, gestrichenen Fensterläden klapperten im auffrischenden Wind und erinnerten Isak daran, wie die Umgebung Xeliaths Launen widerspiegelte, wenn sie seine Träume heimgesucht hatte. Er war heute früher schon einmal draußen gewesen – der Regen strömte mit ungewöhnlicher Wut herab.
»Kaum zu glauben, dass Tila mir geraten hat, euch beide zu trennen«, blaffte Isak. »Ihr würdet euch zu Tode langweilen, wenn ihr euch nicht gegenseitig triezen könntet. Vielleicht sollte ich einmal darüber nachdenken, euch beide aneinanderketten zu lassen.«
Horman hob den Arm. Der Stumpf war noch immer verbunden. »Deinetwegen könnte ich einfach aus den Ketten herausschlüpfen«, grummelte er.
»Wie lang muss ich in diesem Zimmer bleiben?«, wollte Xeliath wissen. Ihr Kopf war ungewöhnlicherweise nicht verhüllt. Sonst verdeckte sie ihre zerstörte linke Seite mit einen Schal. »Ich kann dir von größerem Nutzen sein, als wenn ich hier bloß einem Idioten Gesellschaft leiste.«
Nicht einmal Lesarl konnte sich ausmalen, wie die erregten Kardinäle und Priester darauf reagieren würden, dass Isak das Mitglied eines verfeindeten Stammes beherbergte, aber sie wollten es beide nicht herausfinden. Es war sehr wahrscheinlich, dass Xeliath auf jede Provokation reagieren würde, immerhin war sie ein Weißauge und brauchte keinen sonderlich guten Grund, um einen Kampf zu beginnen.
»Ich weiß, dass du dich langweilst«, sagte Isak beschwichtigend und ließ sich auf dem Fußende des Diwans seines Vaters nieder, um sie beide sehen zu können. »Aber es sollte jetzt nicht mehr lange dauern. Ich will die Krönung aus dem Weg haben – die Synode macht zurzeit schon genug Scherereien, ohne von dir zu wissen. Die meisten Lordprotektoren werden in wenigen Tagen aufbrechen, und das wird die Anspannung sinken lassen. Ich möchte dich so lange wie möglich aus den Streitereien heraushalten.«
»Sollen sie sich doch beschweren«, krächzte Xeliath. »Dann werden ihre Träume zu Alpträumen.«
Isak, der das Kratzen in ihrer Stimmte hörte, schenkte ihr eine Tasse dünnen Tees ein, die sie dankbar entgegennahm. Als er seinem Vater eine Tasse anbieten wollte, warf ihm Hormann einen wütenden Blick zu, und er ließ es bleiben.
»Gib der Sache etwas Zeit«, fuhr Isak fort. »Bis zum Frühling haben sich alle wieder beruhigt. Lesarl und ich kümmern uns um die Priester – dann musst du sie nicht in Angst und Schrecken versetzen.«
»Eine Säuberung?«, fragte Horman scharf. »Ich habe dich nicht zum Priestermörder erzogen.«
»Warum im Namen des Dunklen Ortes sollte dich das scheren?« , knurrte Isak, verfluchte sich dann aber im Stillen dafür. Horman war um ein Jahrzehnt gealtert, seit Isak erwählt worden war. Er war ein gebrochener Mann, das Gesicht verkniffen, der Körper zerbrechlich, und wenn Isak seinen Vater ansah, kämpften ungewohntes Mitleid und Schuldgefühle in ihm miteinander. Doch selbst jetzt bedurfte es nur eines Blickes seines Vaters, eines schnippischen Ausspruchs, um ihn zur Weißglut zu treiben. Horman konnte Isaks Gemüt so schnell anfachen wie eh und je.
Bring sie beide um, sagte Aryn Bwr in Isaks Geist mit gemeiner Stimme. Schlitz ihnen die Kehlen auf, damit das Gejammer endlich verstummt. Brich ihr die Finger und reiß sie vom Schädel los. Sie sind nichts als unnütze Klötze an unserem Bein.
Unserem Bein?, antwortete Isak in Gedanken wütend. Ich glaube, du vergisst dich. Sie leben wenigstens, und auch wenn sie versehrt sind, sind sie mehr wert als du. Als er die Worte nun laut aussprach, war er nur beinahe genauso aufgebracht: »Leg mir keine Worte in den Mund, Vater. Dafür kennst du mich nicht gut genug, nicht mehr.«
»Du hast dich noch nie um die Kulte geschert, und das wird sich auch jetzt nicht ändern.«
Isak seufzte. »Vielleicht, aber heute kann ich sie nicht mehr ignorieren. Der Weg, den sie beschreiten, führt zu einem Bürgerkrieg, das wissen sie genauso gut wie ich … und ich darf das nicht zulassen.« Er richtete sich auf. »Ich kam nur her, um zu sehen, wie es euch geht. Ihr seid offensichtlich so fröhlich wie immer, also werde ich euch wieder eurem Gezänk überlassen.«
Er zog sich zurück, wobei er die grimmigen Blicke zweier Augenpaare in seinem Rücken spürte, sogar noch nachdem er schon die Tür geschlossen hatte. Er ging weiter, bis er um die Ecke gebogen war und die Wachen an der Tür ihn nicht mehr sehen konnten, dann blieb er stehen und presste die Stirn einige Augenblicke gegen die kühle Steinwand. Er atmete tief durch und versuchte die aufkommenden Kopfschmerzen wegzumassieren.
»Es war leichter, als mich die Leute einfach nur umbringen wollten«, murmelte er. Nach einer Weile richtete er sich widerstrebend auf und ging zur Haupttreppe, wo Tila und sein Haushofmeister auf ihn warteten.
»Alles in Ordnung mit den beiden, mein Lord?«, fragte Tila, als er sie erreichte. Ihr Gesicht zeigte eine sorgfältig einstudierte Ruhe. Lesarls hingegen war das genaue Gegenteil: Er wirkte, als tobten tausend Gedanken durch seinen Geist.
Isak antwortete mit einem Grunzen und warf einen misstrauischen Blick auf die Tür zur Großen Halle. Sie war geschlossen, und zwei Männer seiner Leibwache standen zu beiden Seiten. Aber er fühlte sich trotzdem etwas unwohl. Es hatte Monate gedauert, dies vorzubereiten, aber jetzt befand sich jeder Lordprotektor des Reichs auf der anderen Seite dieser Tür, mit Ausnahme der beiden Ältesten, die eine Reise nach Tirah vermutlich nicht überlebt hätten. Sie wurden von ihren Erben vertreten.
Isaks Krönung würde vom Obersten Kardinal Echer durchgeführt werden und die anderen drei Farlan-Herzöge würden dem Volk vorangehen, wenn es geboten war, dem neuen Lord die Treue zu schwören. Damals hatte es wie eine gute Idee geklungen, aber mittlerweile war sich Isak nicht mehr so sicher. War der Saal groß genug, um so vielen mächtigen Männern auf einmal Platz zu bieten?
Isaks Leid war, selbstverständlich, Lesarls Freud. Die mächtigsten Männer des Stammes waren in einer Stadt versammelt. Das bedeutete Handel, Allianzen, sogar Freundschaften. Der Großteil des Reichtums von Farlan befand sich in der Hand der Adligen, und die meisten von ihnen würden das Beste aus dieser seltenen Gelegenheit machen. Schon seit Wochen waren Männer und Frauen aus verschiedenen Gefolgen herumgerannt, während Lesarl wie eine gut gelaunte Spinne in der Mitte seines unglaublich verworrenen Netzes saß und der unangefochtene Meister dieses heimlichen Spiels war. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, vor Isak zu verbergen, wie sehr er das Ganze genoss.
»Mein Lord?« Tilas Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
»Es geht ihnen gut genug, um schlecht gelaunt sein zu können«, sagte Isak. »Aber im Augenblick reicht mir das. Mein Vater ist endlich auf dem Weg der Besserung, das bedeutet allerdings auch, dass er wieder zu einem Mistkerl wird. Lesarl, könnt Ihr ihn anderweitig unterbringen, wenn er wieder läuft? Wenn er jeden Tag die Annehmlichkeiten des Palastes erlebt, muss er auch anerkennen, dass ich Lord der Farlan bin. Mit seinen Schmerzen kommt er zurecht, aber das ist zu viel für ihn.«
»Ich habe da schon einen Ort im Kopf, mein Lord. Einer von Lordprotektor Tebrans Pferdezuchtställen braucht einen Vorsteher. Dort wird Euer Vater sicher, aber auch aus dem Weg gebracht sein, selbst wenn er keine Leibwache akzeptieren wird.«
»Dann wollen wir hoffen, dass er nicht nur deswegen ablehnt, weil ich es ihm anbiete.«
»Erlaubt mir, dass ich mich darum kümmere, mein Lord«, sagte Lesarl lächelnd. »Ich bin sicher, dass ich ihm dabei behilflich sein kann, die richtige Entscheidung zu treffen. Ihr müsst Euch um Wichtigeres kümmern.«
»Seid Ihr bereit hierfür, Isak?«, unterbrach Tila. Jetzt war sie eher seine Freundin als eine politische Beraterin. »Wenn Ihr einige Minuten allein sein wollt, müssen die Lordprotektoren eben warten.«
Isak lächelte zuversichtlicher, als er wirklich war. »Ich bin bereit. Bringen wir es hinter uns. Ich habe den Zauber, mit dem man Geräusche unterdrückt, die ganze Woche geübt, und Lesarl wird an meiner Seite sein. Also musst du dich um nichts sorgen.«
Der herzogliche Thron war von seinem üblichen Standort in der Audienzkammer in die Große Halle gebracht worden, dem einzigen Raum, der groß genug war, um Platz für alle Lordprotektoren, Herzöge, Synodenmitglieder und Stadträte der Farlan sowie die Köpfe der Akademie der Magie zu bieten. Ohne Gefolge, Leibwachen oder Berater waren es beinahe einhundert, und man konnte zwanzig Fraktionen erkennen. Isak musste mit vielen unter vier Augen sprechen, darum hatte Dermeness Chirialt, einer der wenigen Magier, denen Isak vertraute, ihm einen einfachen Zauber beigebracht, mit dem er dies erreichen konnte.
»Und Ihr seid sicher, dass Ihr Kardinal Certinses Gefühle spüren könnt?«, hakte Lesarl nach. Der Kardinal war der Einzige des inneren Familienkreises, der noch auf freiem Fuß war – er war ein mächtiger Mann, und es gab keine direkten Hinweise auf Verrat. Aber Isak hatte eine Alternative dazu gefunden, den Mann umbringen zu lassen, auch wenn sie beide diese Alternative sehr geschmacklos fanden.
»Wenn nicht, werde ich es ihm vorspielen. Die Leute wissen von den Kristallschädeln, und er wird nicht so dumm sein, meine Aussagen anzuzweifeln.«
»Und der Oberste Kardinal? Der zerbrechliche alte Mann stellt mich gewaltig in den Schatten, wenn es darum geht, seine Mitbürger in Angst und Schrecken zu versetzen«, sagte Lesarl gut gelaunt. »Er hat es besonders auf das Lordprotektorat Saroc abgesehen, und ich habe auch Berichte über Todesfälle in einigen anderen Lordprotektoraten erhalten.«
»Unser Angebot wird ihm eine Warnung sein. Wenn es ihm nicht gut genug ist, dann stimmen Eure Berichte offensichtlich, und er hat den Verstand verloren.«
Lesarls Netzwerk aus Spionen war fleißig gewesen und nachdem er die Hinweise gesichtet hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass die Priester, die plötzlich fanatisch und gewalttätig wurden, aus sechs Kulten stammten. Es waren die Kulte der sechs Götter, die in Scree am beliebtesten gewesen waren, namentlich Tod, Nartis, Belarannar, Karkarn, Vellern und Vasle. Dies waren die Götter, die von den Taten der Jünger Azaers am heftigsten betroffen waren. Ihre Wut hallte durch das Land und rief bei denen, die sich an ihren Geist gebunden hatten – den Priestern, die diesen Bund mit der Weihe eingingen – ein Echo hervor.
Wie vorherzusehen war, hatte Lesarl Azaers Genialität Rechnung getragen, statt entsetzt über die Geschehnisse zu sein. Die Angelegenheit hatte die Götter zu einer Reaktion genötigt, ob versehentlich oder absichtlich, das sei einmal dahingestellt, und diese würde nun das einfache Volk gegen sie aufbringen. Ohne die Verehrung der Leute würden die Götter aber nur noch weiter geschwächt werden. »Genial!«, hatte Lesarl vor sich hingemurmelt und Isak hatte dabei das Gesicht verzogen.
»Dass Jopel Bern dem Obersten Kardinal ins Ohr flüstert, macht es nicht einfacher«, unterbrach Tila, bevor er seinen Haushofmeister tadeln konnte.
Isak nickte knapp. Bern, der Hohepriester Tods, war ebenso stark betroffen wie der zerbrechliche alte Mann in den Roben des Obersten Kardinals. Leider, zumindest was Isak anging, machte der alte Kleriker keine Anstalten zu sterben, zumindest nicht auf natürlichem Wege. Echer brannte sich offensichtlich mit seiner Magieanwendung aus. Er würde vermutlich in einigen Wochen tot sein, aber Bern war vorsichtiger.
»Fürs Erste werden wir ihn wohl ertragen müssen.« Isak atmete tief durch und gab den Wachen am Ende des Ganges ein Zeichen. »Es wird Zeit. Ich will sie nicht länger warten lassen.«
Die Soldaten öffneten die Tür, als sie herankamen. Isak betrat die Große Halle, dicht gefolgt von Lesarl, und wurde von einem Hauch warmer, verrauchter Luft und dem Summen von Stimmen begrüßt, das abflaute, als er hereinkam. Der Saal war völlig verändert. An den Wänden hingen nun Banner in allen Farben, die Wappen jedes Farlan-Lordprotektors, die alle von einer einzigen Flagge in der Mitte in den Schatten gestellt wurden, die noch dreimal größer war: Isaks gekrönter Drache. Sie hing hinter dem großen Herzogsthron, der in der Mitte des Raumes stand, dem riesigen Feuer auf der anderen Seite zugewandt.
Der Thron war ein gewaltiger Stuhl, der aus einem einzigen riesigen Baumstamm herausgeschnitzt worden war. Das dunkle Holz war aufs Äußerste poliert und die Seiten waren dick genug, um eine Axt aufzuhalten. Die hohe Lehne überragte noch einen stehenden Mann. Es waren zwar Symbole der Götter und der Farlan in Silber, Gold und Feuerstein in den Thron eingelegt, aber der vermittelte Gesamteindruck schien trotzdem eher einer von Stärke als von Pracht zu sein.
Isak musterte die Menge einen Augenblick lang, während sich die Versammelten zu ihm umwandten. In einer Welle, die bis zum Ende des Raumes reichte, sanken die Adligen auf ein Knie und hoben ihre Schwertknäufe vor die Gesichter. Die versammelten Priester verbeugten sich. Es war ein rechter Farbensturm, denn die Farlan liebten das Zeremoniell und die Rituale, und darum nutzten die Adligen jeden Alters die Gelegenheit, um ihre beste und feinste Kleidung zur Schau zu tragen. Zu seiner Linken hatten sich die Kleriker Farlans versammelt, wobei die Synode dem leeren Herzogsthron am nächsten saß. Ihnen gegenüber hatten die Herzöge von Merlat und Perlir die besten Plätze.
Neben dem Herzog von Perlir befand sich ein verdächtig leerer Sitz, und einige Leute sahen sich immer wieder um, als erwarteten sie, dass der verstorbene Herzog Certinse plötzlich einen dramatischen Auftritt hinlege. Graf Vesna, dem Anlass entsprechend in formellem Aufzug, stand neben dem Thron. Er hatte sich um keinen Fingerbreit bewegt. Der silberne Ringkragen mit Isaks herzoglichem Wappen, den er über seiner Rüstung trug, wies ihn als eine von Isaks Leibwachen aus, zumindest für zeremonielle Zwecke, und das enthob ihn von der Pflicht, sich zu verneigen.
»Herzog Tirah«, rief der Oberste Kardinal Echer mit dünner, erschöpfter Stimme. Er schlurfte von der Mitte des Raumes auf Isak zu und verneigte sich erneut. Isak erinnerte sich an ihr erstes Treffen, als er sich der Synode untertänigst vorgestellt hatte. Damals war Echer ein schwächlicher alter Mann gewesen, der sich einem anderen Kardinal unterordnete. Jetzt konnte Isak die Magie spüren, die durch den Körper des Mannes floss, die Zipperlein des Alters milderte und seinem faltigen Gesicht eine gespenstische Ausdruckskraft verlieh. Niemand wusste, wie lange er das durchhalten konnte, aber bis Lesarl etwas einfiel, mit dem man der Natur nachhelfen konnte, würde der dahinsiechende alte Mann weiterhin ein geifernder, gnadenloser Fanatiker bleiben.
»Die Führer der Farlan grüßen und ehren Euch«, fuhr Echer fort. »Erwählter des Nartis, über alle Sterblichen erhoben durch göttlichen Segen.«
Isak bemerkte eine blutige Beule auf seiner Wange. Sie hob sich stark von der restlichen Haut ab, die so bleich war, dass sie beinahe durchsichtig wirkte. Der Preis, den er für die Magie zahlte, machte sich bereits bemerkbar und Isak verspürte bei diesem Anblick Abscheu. Es erinnerte ihn an Nekromantie … Er verdrängte diese Gedanken und konzentrierte sich auf den Augenblick und deutete eine Verbeugung an.
Echer trat vor und ergriff mit einer knochigen Hand die Vorderseite von Isaks Wams. »Dient Ihr keinem Herren außer Eurem Schutzherren und Tod selbst?«, fragte er, während seine zitternde Stimme nicht zu dem lodernden Feuer in seinen Augen passte.
»Ich diene Nartis und Tod allein«, antwortete Isak.
Kaum hatte er das gesagt, da zog ihn Echer einen Schritt weiter auf den Thron zu. Lesarl hatte ihm diesen Brauch erklärt: Der neue Lord nahm nur widerwillig auf dem Thron Platz, und jeder Schritt erinnerte ihn an die schweren Pflichten seiner Aufgabe. Isak konnte sich nicht vorstellen, dass sein Vorgänger die gleiche Prozedur durchlaufen hatte. Bahl war Lord der Farlan geworden, nachdem er Lord Atro in einem Gefecht getötet hatte, das vor seinem knappen Ausgang ganze Straßen von Tirah in Trümmer gelegt hatte. Und danach hatte der siegreiche Bahl die Liebe seines Lebens, das Weißauge Ineh, begraben müssen. Isak war sicher, dass jeder Priester, der versucht hätte, Hand an ihn zu legen, und sei es auch nur im Rahmen einer Zeremonie, binnen eines Wimpernschlages gestorben wäre.
Echers nächste Frage brachte Isak wieder in das Hier und Jetzt zurück. »Erklärt Ihr Euren Hass auf alle Dämonnen Ghennas?«
»Das tue ich.«
Ein weiterer Schritt. Isak spürte das Summen der Magie in Echer, und in seinen Fingerspitzen kribbelte das Verlangen, auf seine eigene Macht zuzugreifen. In einem entfernten Bereich seines Verstandes, wohin er den Geist Aryn Bwrs verbannt hatte, hörte er den toten Elfenkönig Zeter und Mordio schreien, dass er doch endlich mit dem Töten beginnen sollte.
»Schwört Ihr, die Krieger Eures Stammes zu führen, Euer Volk mit Stärke und Blut zu schützen?«
Isak lief es kalt über den Rücken, als er sich an die Worte erinnerte, die Bahl an ihn gerichtet hatte, während er ihm die blaue Kapuze Nartis’ gab: »Dein Blut, dein Schmerz, erlitten für Volk und Götter, die beide nichts davon wissen und sich nicht darum scheren.«
»Ich schwöre.«
»Schwört Ihr, allen Göttern zu huldigen und ihren Lehren zu folgen, um Eurem Volk ein Vorbild zu sein?«
Entscheide dich endlich mal: entweder lossagen oder verehren? »Ich schwöre.« Ich wette, dass du mich an diesen Schwur erinnern wirst, noch bevor die Woche um ist. Ich frage mich, wie viele lächerliche Gesetze er mir vorlegen wird, damit ich sie in Kraft setzen möge?
»Schwört Ihr, den Gläubigen Gnade zu erweisen?«
»Ich schwöre.« Mit Ausnahme von dir, du verkorkster alter Mistkerl.
»Schwört Ihr, Ketzer und Feinde des Stammes mit der Wut des Sturmes zu strafen?«
»Ich schwöre.«
Mit dieser letzten Frage hatte Isak endlich den Herzogsthron erreicht. Graf Vesna salutierte steif und hielt ihm ein Samtkissen hin, auf dem eine Krone aus Silber und Gold lag.
Der Oberste Kardinal Echer sah einen Augenblick zu Isak auf und zeigte eine verschlagene Freude im Gesicht. Isak setzte sich, Echer nahm die Krone von dem Kissen und hielt sie hoch, damit sie alle sehen konnten.
»Isak Sturmrufer«, verkündete er. »Erwählter des Nartis, Herzog von Tirah. Die Synode der Farlan erkennt Euren Anspruch auf den Titel des Lords der Farlan als rechtmäßig an. Die Linie der Könige Farlans ist beendet, und wir unterwerfen uns nur der Majestät der Götter, doch diese Krone sagt aus, dass Ihr Lord aller Farlan seid. Ich fordere darum alle Farlan auf, Adlige und Gemeine, das Knie vor Euch zu beugen und Eure Herrschaft über sie anzuerkennen.«
Alle in dem Saal sanken auf ein Knie und wiederholten: »Lord aller Farlan«, sogar Graf Vesna, der dabei aber den Blick nicht senkte und die Hand am Schwert hielt.
Einen Augenblick später traten – wie abgesprochen – die Herzöge von Merlat und Perlir aus der Menge und stellten sich zu beiden Seiten des Obersten Kardinals auf. Sie verneigten sich, dann trat der Herzog von Merlat, der ältere der beiden, vor und kniete sich vor Isak hin, hielt seinem Lord den Schwertgriff entgegen. Isak legte einen Finger auf den Knauf, und der Herzog wich beiseite, damit der Herzog von Perlir den förmlichen Gruß wiederholen konnte.
Schließlich lehnte sich Isak auf dem Thron zurück und blickte sich im Raum um. Er hoffte, dies auf angemessen würdige Weise zu tun. Dann bedeutete er den Anwesenden, sich erheben zu dürfen. Er nickte den Herzögen zu, und sie setzten sich, was die Übrigen ihnen kurz darauf nachtaten.
»Herzog Lokan, Herzog Sempes, ich danke Euch für die Ehre, die Ihr mir erweist«, sagte Isak sanft. »Ich erbitte einen Gefallen von Euch.«
Diese unerwarteten Worte verärgerten den Obersten Kardinal so sehr, dass seine Nase zuckte. Aber er war doch schlau genug, um zu erkennen, dass er jetzt nicht unterbrechen durfte.
»Mein Lord«, antwortete Lokan sofort, »so bittet nun, und wenn es in unserer Macht liegt, werden wir die Bitte erfüllen.«
Isak nickte einmal mehr. »Mein Dank gilt Euch beiden. Wie Ihr wisst, gibt es hier einen leeren Platz, denn Lomin hat keinen Herzog, und es entstand ein Streit darüber, wer diese Stellung einnehmen soll. Ich habe vor, den Sohn des letzten Herzogs von Lomin als Nachfolger zu ernennen, um der Verwirrung ein Ende zu machen. Ich fordere die Anwesenden also auf, dies zu bezeugen – zum Besten des Stammes ernenne ich Oberst Belir Ankremer zum Herzog. Meine Lords, seid Ihr damit einverstanden?«
»Das bin ich«, sagte Lokan und lächelte kaum merklich, als unterdrückte Laute des Erstaunens den Raum erfüllten.
»Mein Lord«, fügte Sempes hinzu und verneigte sich tief. »Ich bin ebenfalls einverstanden.« Sein Ausdruck war ernster, doch er sprach ohne zu zögern, und das war das Wichtige. Keiner hätte eine so öffentlich vorgebrachte Bitte abschlagen können, aber die Menge hätte jeden Augenblick des Zauderns bemerkt.
»Ich danke Euch. Lesarl, ruft Belir herein, den Herzog von Lomin.«
Alle Versuche, respektvolle Stille zu halten, waren vergebens, als sich die Tür erneut öffnete und der kräftige neue Herzog stolz hereingeschritten kam. Die schwarzen Locken waren geschnitten und die Uniform durch ein rotes Wams mit der zweigetürmten Feste Lomins auf der Brust ersetzt. Als der Herzog näher kam, zeigte sein Gesicht äußerste Anspannung – und Isak erkannte, dass die Schließe seines Mantels zwar das ganze Familienwappen zeigte, bei den größeren Symbolen auf seiner Brust aber nur noch einer der Türme vorhanden war und darüber ein halb verdeckter Mond hing.
Isak sprach eilig die Worte des Zaubers, den er geübt hatte, und ließ ein silbernes Band der Magie aus seinen Fingern sickern. Er spürte, wie die arkanen Worte der Energie eine Form und Bestimmung gaben.
Bis sich der neue Herzog von Lomin vor ihn gekniet hatte, erklang das Gewirr der flüsternden Stimmen nur noch gedämpft und die wenigen Fetzen der Gespräche, die hindurchschlüpften, waren bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Einige Priester und Magier hoben ruckartig den Kopf, um ihn anzusehen, aber er beachtete sie nicht weiter. Lesarl hingegen achtete sehr genau darauf, wer reagiert hatte.
Der Herzog von Lomin spürte die Veränderung der Laute ebenfalls und sah sich um, während er Isak den Schwertgriff hinhielt.
»Ein Zauber«, erklärte Isak. »Ich vermute, dass viele Eurer Standesgenossen Dinge zu sagen haben, für die sie ungestört sein müssen.«
»Dann hört uns also im Augenblick niemand, mein Lord?«, fragte er.
»Sie können verzerrte Geräusche hören, aber keine Worte aufschnappen.«
»Darf ich dann eine Frage stellen?«
Isak lächelte. »Ihr wollt wissen, warum ich Euch gewählt habe?«
»Eigentlich wollte ich wissen, was Ihr von mir erwartet, mein Lord, nachdem Ihr mir diese Ehre erwiesen habt.« Belir sprach durch gespitzte Lippen. Er mochte es offensichtlich nicht, jemandem als Bauer in seinem Spiel zu dienen.
»Ich erwarte, dass Ihr Eure Pflichten erfüllt. Ich brauche einen Herzog in Lomin, keinen Schoßhund.« Isak lehnte sich vor und sah Belir in die Augen. »Ihr wurdet ausgewählt, weil Lesarl mir sagte, dass Ihr ein guter Soldat, ein bedachter Führer und ein starker Mann seid. Die kommenden Jahre werden hart und grausam sein, und ich erwarte das von Euch, was ich von jedem anderen adligen Farlan auch erwarte – vielleicht mehr, weil ich hier einen Krieger ausgewählt habe und Krieger kann man die anderen Herzöge, Sempes und Lokan, ja nicht nennen.«
»Ich …« Belir senkte den Blick. »Vergebt mir meine Offenheit, mein Lord, aber es fällt mir schwer, eine Ehre anzunehmen, die so leichthin verliehen wird.«
Isak grinste. »Gut. Wenn Ihr kein misstrauischer Mistkerl wäret, nütztet Ihr mir auch nichts. Jetzt erhebt Euch also und setzt Euch auf Euren Platz. Ihr solltet diese wenigen Momente der Ruhe genießen, denn es gibt in Lomin viel zu tun. Erinnert Euch stets an das Folgende, da es äußerst wichtig ist: Nur zusammen werden wir das, was uns droht, überleben können.«
Der Herzog erhob sich und trat einen Schritt zurück, dann legte sich ein seltsamer Ausdruck auf seine Züge. »Ich gebe nicht vor, Eure Entscheidung zu verstehen, aber ich bin ein Soldat, und solange Ihr von mir verlangt, dem Stamm zu dienen, werde ich folgen«, sagte er und verbeugte sich erneut.
»Das freut mich zu hören«, sagte Isak lächelnd. »Und jetzt tretet beiseite, denn ich vermute, dass der Oberste Kardinal Echer einige Forderungen hat.«
Kaum hatten Lokan und Sempes den neuen Herzog unter Beachtung aller Rituale begrüßt, trat Haushofmeister Lesarl vor und setzte sich rechts neben Isak auf einen Hocker, den man dort bereitgestellt hatte. Isak kannte die meisten Männer in dem Raum nicht, und indem Lesarl nah genug war, um ihm ihre Namen zuzuflüstern, war er auch nah genug, um bei den Gesprächen mitzumischen.
Der Oberste Kardinal vergaß seine Rolle im Zeremoniell nicht. Während die Herzöge Isak ihre Schwertgriffe hingehalten hatten, damit er sie ergreifen konnte, sofern er dies wünschte, kniete Echer sich hin und bot ihm den übergroßen Ring an, der Nartis’ Schlange darstellte, die sich um ein Szepter ringelte. Isak fiel auf, dass die Lapislazuli-Platte Nartis’ Münze an Morghiens Omenkette auf verdächtige Weise ähnelte.
Ich würde es Morghien durchaus zutrauen, dass er die Münzen für seine Kette gestohlen hat. Isak schmunzelte innerlich, doch das verging ihm, als er dachte: Wie viele Priester werde ich töten müssen, um den Bürgerkrieg abzuwenden? Genug, um mir eine eigene Kette zu fertigen?
»Oberster Kardinal, ich danke Euch für Euren respektvollen Gruß«, sagte Isak, »aber ich hörte, dass in Euren Diensten Männer stehen, die den Göttern, denen sie vorgeblich dienen, Schande bereiten.«
Echer blieb auf den Knien, zog aber die Hand zurück und sah zu Isak auf. »Viele Eurer Untertanen bereiten den Göttern Schande. Ich kann meinen Pönitenten nicht gerade vorwerfen, dass sie mit Eifer daran gehen, dem Volk seine Fehler aufzuzeigen.«
»Eifer ist ja schön und gut, Oberster Kardinal, aber wenn die Palastgarde Kämpfe auf den Straßen Tirahs verhindern muss, dann geht er wohl zu weit. Mit wurde berichtet, dass in vielen Städten bereits wahrhaftig Blut vergossen wurde.«
»Überall gibt es Sünder«, spie Echer aus. »Und es ist besser, dass ihr Blut vergossen wird, als dass sie die Götter noch weiter schmähen.«
Isak atmete tief durch. In Echers Augen lag ein irres Funkeln, das Isak nur zu gerne ausgelöscht hätte. Er wusste, dass er eine weitere Entwicklung des gegenwärtigen Zustandes nicht zulassen durfte – sobald sich eindeutige Lager gebildet hatten, liefe es aus dem Ruder. Das sogenannte Religionsgesetz des Landes war eine Mischung aus Edikten, geschichtlichen Ereignissen und Mythen, die erst noch ausgedeutet werden mussten. Und doch hatte der Oberste Kardinal keine klaren Vorgaben gemacht, von den offensichtlichen einmal abgesehen – Achtung des Gebetstages, Verdammung der Tavernen und der Hurenhäuser. Dennoch war Lesarl davon überzeugt, dass die seltenen Verkündigungen Echers einem Plan dienten.
»Die Kulte haben keine rechtliche Autorität«, sagte Isak bestimmt. »Und doch haben Eure Soldaten im Namen der Götter angegriffen und getötet. Sie haben kurzen Prozess gemacht und die Strafe selbst ausgeführt. In Chrien soll eine Schenke angezündet worden sein, und nur die Ankunft der Wachmänner sorgte dafür, dass die Brandstifter die Leute nicht am Verlassen der Taverne hinderten.«
»Bedauerliche Vorfälle«, sagte Echer, doch sein Gesichtsausdruck erzählte eine andere Geschichte. »Aber sie zeigen den Willen des Volkes. Die Menschen lassen nicht mehr zu, dass die Gebote der Götter gebrochen werden. Sie wollen auch nicht mehr, dass Profitgier den Hochaltar besudelt. Ich kann solche Taten nicht gutheißen, aber Ihr missachtet den Willen des Volkes auf eigene Gefahr. Dieser moralische Verfall muss aufgehalten werden, sonst sind die Götter selbst gezwungen, ihrem Zorn Gestalt zu verleihen.«
»Und wie soll das geschehen?«
»Ich habe hier ein Dokument vorbereitet, mein Lord, das Ihr genehmigen mögt.« Echer funkelte zu Isak hoch, als wolle er das Weißauge herausfordern, ihm das Verlangte zu verweigern. »Dieses Dokument wurde von den Lordprotektoren eingesehen, die heute hier sind, und Abschriften sollen in jedem Tempel in Tirah ausgehängt werden.«
»Ihr steht auf dünnem Eis, Oberster Kardinal«, sagte Lesarl leise. Sein Gesicht war jetzt hart, eisig und konzentriert. »Im selben Atemzug Forderungen zu stellen, in dem Ihr auch Eure militärische Stärke vorführt, könnte man gefährlich leicht für eine beginnende Auflehnung halten.«
»Meine Pönitenten bilden nur im Glauben eine Armee«, sagte Echer mit einem sanften Lächeln, bei dem es Isak übel wurde. »Wir sind keine Krieger, nur Männer und Frauen, die es danach drängt, die Glorie der Götter zu erhalten.«
Lesarls Geringschätzung war offensichtlich, als er sagte: »Leute auf offener Straße totzuschlagen, das hat doch nicht das Geringste mit göttlicher Glorie zu tun. Adligen und Magistraten am Gebetstag bewaffnete ›Eskorten‹ an die Seite zu stellen, um sie in die Tempel zu bringen, sie dort stundenlang gefangen zu halten, während unrechtmäßig Gerichte gehalten werden …«
»Nur ein Ungläubiger würde unsere Frömmigkeit herabwürdigen, indem er sie so beschreibt«, unterbrach Echer zornig.
Isak beschloss, dass Lesarl das Feuer nun lang genug geschürt hatte, und hob eine Hand, um den Austausch von nun an zu unterbinden. »Ich dulde hier einen solchen Streit nicht. Euer Schriftstück wird uns viel geben, worüber wir nachdenken können, Euer Eminenz. Ich verstehe, dass Ihr Sorgen habt, und es wird sich auch einiges ändern, aber die Gesetzsprechung obliegt mir – und zwar mir allein. Jeder Priester oder Kardinal, der wie auch immer zu Gericht sitzt – jeder, der nicht ein anerkannter Magistrat ist –, wird verhaftet. Habt Ihr verstanden?«
Echer zögerte, von der Bereitschaft des Weißauges, einen Kompromiss zu schließen, sichtlich aus der Bahn geworfen. »Natürlich, mein Lord, das Gesetz des Landes soll nicht getrübt werden«, sagte er schließlich. »Wenn es neue Gesetze gibt, durch die das Volk wieder auf den rechten Weg des Glaubens geführt wird, wie sollte ich mich dann darüber beschweren, wer sie durchsetzt? Aber handelt rasch. Ihr werdet mir erlauben, innerhalb der Kulte der Farlan meine Autorität zu nutzen, wie es mein Recht als Leiter der Synode ist. Und, davon gehe ich aus, Ihr seid sicher ebenfalls der Meinung, dass sich diese Befehlsgewalt auch auf alle angeschlossenen Organisationen erstreckt?«
»Ihr sprecht von den Dunklen Mönchen – der Bruderschaft der heiligen Lehre?«
»Unter anderem. Wir werden uns nicht mit geheimen Verbindungen abfinden, die vorgeben, fromm zu sein, sich aber keiner Autorität beugen.«
»Oberster Kardinal«, sagte Isak in ruhigem Tonfall, »unter den Männern des Nartis sind solche Warnungen überflüssig. Bitte bedenkt, dass Ihr über diejenigen wacht, die die Weihe erhalten haben. Ich hingegen bin der Hirte der frommen Masse, und ich werde meine Pflicht mit großer Sorgfalt erfüllen.«
Das Ganze widerte Isak an, vor allem die selbstgerechte Art, mit der hier die Macht missbraucht wurde. Lesarl und er hatten dieses Gespräch vorher geprobt, und beim ersten Mal war Isak in Wut geraten, weil der Haushofmeister die Rolle des Obersten Kardinals etwas zu überzeugend gespielt hatte, indem er Komplimente so verdreht hatte, dass sie zu Beleidigungen wurden. Brutale Taten waren als »väterliche Tadel« bezeichnet worden.
Jetzt fuhr er fort: »Ich werde mein Gebet am Morgen öffentlich verrichten, um damit ein Beispiel für den ganzen Stamm zu geben. Es wäre mir eine Ehre, wenn Ihr mir für das Gebet zur Dämmerung im Tempel des Nartis Gesellschaft leisten würdet. Was Gruppierungen wie die Bruderschaft der heiligen Lehre angeht, so habe ich bereits entsprechende Befehle erteilt – ich dulde auch nicht, dass man meine Autorität anzweifelt, genauso wenig wie ich ein fehlgeleitetes Volk dulden werde, das den Willen der Götter in die eigene Hand nimmt.«
Der Oberste Kardinal senkte den Kopf, aber nicht schnell genug, um die Genugtuung zu verbergen, die seine Züge erfüllte. Der Anblick von Isak, der im Tempel von Nartis unter seiner Obhut betete, war für Echer unbezahlbar. Isak konnte nur hoffen, dass dies den Mann lang genug ruhigstellen würde, damit Lesarl seine Ziele erreichte.
»Mein Lord ist seinem Alter an Weisheit weit voraus und ein ergebener Diener seines Gottes«, murmelte er. »Ich danke Nartis für seine Weisheit, Euch als Lord Bahls Nachfolger zu erwählen.«
Ihr Götter, glaubst du wirklich, dass ich geschlagen und eingeschüchtert bin? Bist du tatsächlich so verrückt?
Diese Frage brauchte sich Isak gar nicht erst selbst zu beantworten. Der Mann war völlig irrsinnig. Er hatte viele der geschehenen Gewaltakte angestachelt, und Lesarl fürchtete, dass sein Wahn einen Bürgerkrieg entfachen könnte. Die Kulte verprassten ihr Vermögen, um immer mehr Pönitente und Novizen um sich zu scharen.
Kardinal Veck folgte auf den Obersten Kardinal, hatte aber nichts mehr hinzuzufügen und machte darum bald Platz für Kardinal Certinse, den letzten Kardinal der Synode. Certinse wirkte ausgemergelt und bleich. Er hatte seit ihrer letzten Begegnung auch an Gewicht verloren, und seine Nervosität war beinahe greifbar. Blutunterlaufene Augen wiesen auf viele schlaflose Nächte hin – was nicht verwunderte, da seine Schwester seinem Bruder und Neffen ins frische Grab gefolgt war. Sie hatte sich vergiftet, bevor sie den Dämon auf dem Irienn-Platz beschworen hatte.
Isak bereitete es jedoch keine Mühe, ein ernstes Gesicht zu machen, denn er erinnerte sich an die Verbrechen des Kardinals, die unlängst erst aufgedeckt worden waren. Als er den goldenen Ring des Kardinals berührte, streifte er dabei auch den Finger des Mannes und erweiterte seine Sinne, erspürte, was er nur vermochte. Die Berührung Nartis’ war schwach, wenig mehr als ein Nachhall … und das bestätigte, was Lesarl herausgefunden hatte.
»Seht mich an, Mann! Stellt Euch gerade hin und beweist etwas Rückgrat«, blaffte Isak. »Ich werde Euch jetzt das Leben retten.«
Der Kardinal zuckte zusammen, als wäre er geschlagen worden, schaffte es aber, den Kopf und den angsterfüllten Blick zu heben.
»Niemand kann uns hören, Euer Leben aber hängt davon ab, wie gut Ihr schauspielert, verstanden?«
»Ich … ja, mein Lord, ich verstehe.« In Certinses Augen zeigte sich zwar Verwunderung, doch er war nunmal ein geborener Politiker. Seine Nasenflügel bebten, als wittere er etwas.
»Gut. Jetzt müsst Ihr Euch gegen mich behaupten. Spart Euch das Fuchteln mit den Händen für später. Aber sie müssen sehen, dass wir uns streiten. Schüttelt den Kopf, wenn Ihr verstanden habt.«
Certinse zögerte nur unmerklich wegen dieser seltsamen Anweisung, um dann vehement den Kopf zu schütteln. Mit dem Hoffnungsschimmer kehrte auch wieder etwas Farbe auf seine Wangen zurück.
»Hervorragend. Ich fasse mich kurz. Die Wut der Götter erfüllt Euch nicht, und ich weiß auch, warum. Macht Euch nicht die Mühe, es abzustreiten, lasst es einfach so stehen. Ich bin sicher, dass es daran liegt, dass Nartis durch einen Dämonen-Verbündeten von Cordein Malich ersetzt wurde. Es gibt Hinweise, dass Ihr von Anfang an Teil der Malich-Verschwörung wart.«
Certinse öffnete den Mund, um zu widersprechen, überlegte es sich dann aber anders. Er warf Isak einen verzweifelten Blick zu. »Was wollt Ihr von mir?«, fragte er mit leiser Stimme.
»Für den Anfang solltest du verdammt noch mal wütend wirken, nicht ängstlich, du dummer, feiger Ketzer.«
Isaks Worte hatten die ersehnte Wirkung. Certinse plusterte sich auf, sein Gesicht wurde rot vor Zorn. »Welche Beweise dieser verrückte Disten Euch auch geliefert haben mag, sie sind gefälscht«, grollte er.
Seine Aufregung zauberte ein wölfisches Grinsen auf Isaks Gesicht. Er verbarg es jedoch rasch. »Verzeiht, aber nein … sie sind echt. Ihr selbst habt kaum eine Spur hinterlassen, aber Eure Helfer waren nicht so vorsichtig – sie brauchten Geld für ihre Vorlieben. Sie plünderten die Leichen, die sie vergraben sollten – und es gibt mehr als eine Erklärung, die nur dann Bestand hat, wenn der Verstorbene mit allen Habseligkeiten auf See verschwindet.«
Das saß wie ein gut gezielter Fausthieb. Certinse schaffte es, nicht in sich zusammenzusinken, aber Isak sah in seinen Augen, dass er geschlagen war. Er wusste, dass man ihn erwischt hatte.
»Warum bin ich dann hier? Warum habt Ihr mich nicht verhaften lassen?«
»Weil diese Beweise bedeuten, dass ich Euch im Sack habe, und sosehr ich Euch auch hasse, Eure früheren Verbrechen bedeuten doch, dass Ihr die Lösung für mein augenblickliches Problem sein könntet.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Certinse und klang nun armselig.
»Es ist ganz einfach«, grollte Isak und lehnte sich vor. Beim Anblick der sich nähernden, breiten Gestalt tauchte in Certinses Augen wieder Angst auf, aber jede Regung war im Hinblick auf die Zuschauer besser als eine erschöpfte Gleichgültigkeit, dachte Isak. »Ihr habt Dämonen angebetet und es überlebt, also seid Ihr nicht mehr an Euren Gott gebunden. Deshalb werdet Ihr von der vorherrschenden Raserei auch nicht erfasst. Es widert mich zwar an, aber ich muss mit dem arbeiten, was ich habe. Im Augenblick seid Ihr der einzige Kleriker in den Kulten Tods oder Nartis’, von dem ich sicher weiß, dass er bei Verstand ist. Darum werdet Ihr Euch selbst als Unterhändler für die Gespräche mit Haushofmeister Lesarl vorschlagen, wenn es um die neuen Glaubensregeln geht. Und ich muss diese Beleidigung hinnehmen, wenn ich nicht das Gesicht verlieren will.«
»Ihr nehmt diesen Irrsinn einfach hin?«, fragte Certinse entgeistert. »Habt Ihr dieses Dokument denn gelesen?«
»Im Augenblick muss ich die Kulte beruhigen, oder es kommt zu einem Aufstand, den ich mir jetzt nicht leisten kann – Ihr werdet leichter zu befriedigen sein als Echer, denn die Beweise, die ich besitze, bedeuten Euren Tod auf dem Scheiterhaufen, wenn jemals ein Gericht sie zu sehen bekommt.«
»Ihr könnt doch den Obersten Kardinal nicht umbringen!«
»Wer sagt denn hier etwas von Mord? Er ist ein alter Mann, der sich ausschließlich mithilfe von Magie bei Kräften hält. Ich bin sehr zuversichtlich, dass er das nicht lange aushält.«
»Und dann?«
»Und dann werdet Ihr dank Eurer wichtigen Rolle bei diesen Verhandlungen der am besten geeignete Nachfolger für die Stellung des Obersten Kardinals sein. Ihr werdet jeden Verdacht, es könne sich dabei um ein falsches Spiel handeln, zerstreuen, Ihr werdet angemessen laut über den Verfall der Moral klagen und dann gemäßigtere Regeln annehmen, die nur das Nötigste enthalten, um die Leute von Straßenkämpfen abzuhalten.«
»Ihr macht mich zum Obersten Kardinal?«, fragte Certinse ungläubig.
»Im Gegenzug dafür, dass Ihr die Kulte unter Kontrolle haltet«, mischte sich Lesarl ein. »Ihr müsst vielleicht dafür Sorge tragen, dass Jopel Bern seinen Posten verliert, aber das bekommt Ihr gewiss hin. Stellt sicher, dass in Eurem Haus Ruhe herrscht, und Ihr erhaltet alles, was Ihr Euch wünscht: die Stellung, die Ihr seit Jahrzehnten anstrebt, und ein langes Leben, um sie auch zu genießen. Entfernt Euch jetzt und erzählt ihnen, wir hätten über Distens Untersuchung gestritten.«
Isak lehnte sich zurück und musterte Certinses Gesicht, in dem sich unterschiedlichste Gefühle zeigten. Es dauerte nicht lang, dann hatte Certinse begriffen, wo er stand, schüttelte heftig den Kopf und stimmte damit zu.
Nachdem er sicher war, dass der ganze Saal seine Verärgerung bemerkt hatte, kehrte Certinse zu den andern Kardinälen zurück, um ihnen von dem Streitgespräch zu berichten, während der Rest der Synode aufmarschierte. Aus dem Augenwinkel beobachtete Isak das aufgeregte Gespräch, schaffte es jedoch, das Gesicht ausdruckslos zu halten und so die vorbeiziehenden Leute zu begrüßen.
Den meisten schenkte er wenig Aufmerksamkeit, anders jedoch verhielt es sich bei dem Corlyn, der dem pastoralen Zweig des Kultes vorstand und somit die Verwaltung der Dorfschreine und -tempel unter sich hatte. Der Mann mit den traurigen Augen zeigte keinerlei Anzeichen dafür, von der Raserei der Götter betroffen zu sein. Stattdessen wirkte der sanftmütige Mann enttäuscht. Er hatte am Verhalten des Obersten Kardinals ablesen können, dass ein Handel geschlossen worden war, und er war betroffen, weil sich Isak scheinbar so rasch Echers Forderungen gebeugt hatte.
Einige der Lordprotektoren begrüßte er so herzlich wie möglich, aber mit seinen Gedanken war er woanders. Die Verzweiflung Corlyns hatte sein Herz erstarren lassen und sorgte dafür, dass er den Handel bereute, den er würde hinnehmen müssen. Die Maßnahmen waren zweifellos so drastisch, dass sogar ein Kompromiss noch schrecklich aussehen würde. Eine Stimme in seinem Hinterkopf berichtete ihm, dass er seine Beileidswünsche für Lordprotektor Torl vermasselt hatte. Der alternde Krieger hatte seine Familie und seine Leibwachen bei gewaltsamen Ausschreitungen der Pönitenten verloren, nur weil er als Dunkler Mönch offenbart worden war, als ein Mitglied der tiefgläubigen Bruderschaft der heiligen Lehre. Isaks einziger Trost war, dass Torl zu abgelenkt gewesen war, um sich beleidigt zu fühlen. Er hatte die Farben der Trauer bald ausgetauscht. Die Kapuze, die er erst abgenommen hatte, als er seinen Lord begrüßte, war rot, was für einen Tod im Kampf stand.
Die schlechten Neuigkeiten, die ihm Lordprotektor Saroc, Torls Freund und ebenfalls Mitglied der Bruderschaft, überbrachte, verfinsterten Isaks Gemüt noch weiter. Saroc sah ganz und gar nicht aus, wie man sich einen Dunklen Mönch vorstellte, denn er trug weiße, gelbe und goldene Seide, aber in seinem runden Gesicht zeigte sich keine Spur des üblichen Grinsens, als er vor Isak niederkniete.
»Mein Lord, ich hörte aus Tor Milist, dass Herzog Vrerr nun fromm werde«, sagte er eilig, die Stimme vor Wut gepresst. »Normalerweise würde ich das gutheißen, aber der Mann ist eine stinkende Kakerlake, die alles tun würde, um die eigene Haut zu retten. Ich habe gehört, er habe Kontakt zu jemandem aus dem Kult Tods aufgenommen. Das ist der Grund, warum so viele Novizen und Pönitente wie erfahrene Söldner aussehen. Er hat maßlose Angst davor, Ihr könntet nach Süden marschieren, die Grenzen ausweiten, um Euch Helrect und die Überreste von Scree einzuverleiben, und ihn dabei miterobern. Er weiß, dass er einem ernst gemeinten Angriff auf Tor Milist nicht standhalten kann, darum setzt er seine Söldner lieber dafür ein, uns auseinanderzutreiben und hier einen Bürgerkrieg zu entfachen.«
»Wie steht es denn innerhalb Eurer Grenzen?«, fragte Isak.
Da blickte Saroc noch missmutiger drein. »Es ist schwer. Für meinen Geschmack gibt es zu viele bewaffnete Männer im Lordprotektorat. Sie versuchen sogar in den Klöstern und Abteien den Ton anzugeben. Sie zwingen diejenigen, die nicht so rasend sind wie ihre Herren, zumindest ihre Unterstützung zu erklären. Hätten wir keine stehenden Garnisonen in unseren Städten, so wäre es sicher schon zu erheblichem Blutvergießen gekommen.«
Isak lehnte sich zurück und seufzte. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das geschieht, egal, was wir unternehmen.«
Der Haushofmeister sah besorgt aus.
Trotz des Wetters versammelten sich alle im Freien, nachdem die Zeremonie beendet war. Ein Heer von Dienern wartete mit reichlichen Mengen heißen Gewürzweins, um die Kälte abzuwehren. Im Innern wurden die Tische wieder an ihren Platz gerückt, man tischte ein Festmahl zu Ehren der Gäste auf. Es geschah nicht oft, dass sich der Großteil der mächtigen Männer in einem Raum versammelte. Lesarl hatte vor, sie so lange wie möglich dort zu halten.
Als der Abend hereinbrach, stand Graf Vesna am oberen Ende der breiten Steintreppe und beobachtete die Adligen und Kleriker, die vorsichtig zusammenkamen. In den Boden gesteckte Fackeln beleuchteten ihre Gesichter. Seine Aufgabe als Lord Isaks Leibwächter war mit dem Ende des Rituals erfüllt, aber er hatte trotzdem beschlossen, sich von den Festlichkeiten fernzuhalten. Da unten gab es eine Menge junger Männer, die ohne Zweifel daran interessiert waren, die Vorzüge ihrer Ehefrauen mit ihm zu besprechen. Männern, denen die Ehre mehr galt als Vesnas so oft gepriesene Duelltalente. Bisher hatte noch keiner Gelegenheit gehabt, einen Streit vom Zaune zu brechen, damit er ihn herausfordern konnte, aber bei einer solchen Gesellschaft stellte das immer eine Gefahr dar. Wenn es geschah, brauchte er einen klaren Kopf.
Es hatte dem Haushofmeister gefallen, Vesnas Charme als Waffe zu nutzen. Er hatte die Schulden des Grafen aufgekauft, um sich dessen Treue zu sichern. Vesna schüttelte mit einem reuevollen Lächeln den Kopf. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich mich mal zu alt für diese Dinge fühlen könnte, aber es ist trotzdem geschehen.
Lord Isak stand nicht weit vom Fuß der Treppe und wirkte gegenüber der Gesellschaft etwas eingeschüchtert. Man vergaß schnell, dass er nicht in diesen Kreisen aufgewachsen war. Er kniete beinahe, um hören zu können, was Lordprotektor Ranah sagte. Ranah war gut über achtzig Jahre alt, saß kerzengerade auf seinem Stuhl und erzählte, dem Ausdruck auf den Gesichtern der Umstehenden nach zu urteilen, eine schmutzige Geschichte.
Ihr Götter, und Tila denkt, ich wäre schlimm, dachte Vesna und erinnerte sich an einen Abend, den er auf dem Anwesen des Lordprotektors verbracht hatte. Dieser geile alte Bock behauptet doch, seine drei Frauen wären gestorben, weil er sie verschlissen habe.
Von Zeit zu Zeit blickte Isak auf, um Vesna einen leidenden Blick zuzuwerfen. Lesarl hatte deutlich gemacht, dass Vesna sich fernhalten solle, solange keine unmittelbare Gefahr für Isaks Leben drohe – und es war sehr unwahrscheinlich, dass es dazu kam. Isak wirkte seit der Gestaltwerdung der Schnitter auf dem Irienn-Platz so angespannt, dass er wohl schon jede Gefahr in Stücke gehackt haben würde, bevor Vesna überhaupt sein Schwert herausbekäme.
»Das erinnert mich an einen der Hunde meines Vaters«, sagte Vesna leise zu Mihn, der zu ihm getreten war. Er zeigte auf die Männer um Isak herum.
Mihn blinzelte und musterte die Szenerie. Er trug wie immer Schwarz, ein maßgeschneidertes Wams aus Baumwolle, das sich nirgendwo verfangen oder flattern würde, wenn er kämpfte. Seit seiner Rückkehr zum Palast hatte er jedoch wenig mehr getan, als durch die kalten Gänge zu geistern und die Angebote der Wachleute nicht zu beachten, die mit ihm ringen wollten.
»Der Hund hatte Welpen geworfen«, fuhr Vesna fort, »von denen einer viel kleiner war als die anderen vier. Der Rest bedrängte ihn fortwährend, aber mein Vater erlaubte mir nicht, sie zu trennen. Er sollte seinen eigenen Weg finden. Sie würden ihn nicht töten, also musste er lernen, sich durchzusetzen.«
»Nun, ich bin recht zuversichtlich, dass Lord Isak mit dem auf dem Stuhl fertig würde.«
Vesna lachte, bis ihn tadelnde Blicke zum Schweigen brachten. »Gnädiger Nartis, ich glaube, das war das erste Mal, dass du einen Scherz gemacht hast. Morghien hat wohl stärker auf dich abgefärbt, als ich geahnt habe.«
Mihn zuckte bloß mit den Schultern. Vesna blickte ihn einen Augenblick lang an, gab dann aber auf. »Immer noch maulfaul, hm?«
Sie sahen Haushofmeister Lesarl bei seinem Rundgang durch die verschiedenen Gruppen zu. Gelegentlich ging er bei Isak vorbei und flüsterte ihm etwas zu, dann war er wieder unterwegs, blieb nie lang beim gleichen Gast und gab denen, die er überfiel, auch nie die Zeit zu einer richtigen Antwort.
»Zuschlagen und zurückziehen, zuschlagen und zurückziehen – so machen es die Farlan«, sagte Mihn.
Vesna runzelte die Stirn. »Ich schätze schon. Sollten wir es etwa anders machen?«
Mihn wechselte den Stab mit der Stahlspitze in die andere Hand und behielt Isak weiterhin im Blick. »Es ist eine gute Taktik, solange man weiß, wo der Feind steht. In Scree seid ihr jedoch ausmanövriert worden. Dort hat der Feind zugeschlagen und sich dann zurückgezogen – so erscheint es zumindest. Der Haushofmeister hatte bisher wenig Erfolg, ihn aufzuspüren.«
»Also müssen wir eine neue Taktik erlernen?«
»Möglicherweise«, sagte Mihn. »Aber ich bin kein General und gebe gar nicht erst vor, mich damit auszukennen.« Er zögerte, und Vesna spürte seine Unsicherheit. »Ich … in letzter Zeit habe ich nur noch Fragen, keine Antworten.«
»Was für Fragen denn?« Er konnte es Mihn nachfühlen, doch brauchte er das nicht auszusprechen, denn er wusste ja, dass der Mann dies bereits erkannt hatte. Tila hatte dem berühmten Schwerenöter ein neues Leben aufgezeigt: echtes Glück statt flüchtiger Freuden. Er war nun fast vierzig Sommer alt, und die blauen Flecken heilten heutzutage nicht mehr so schnell. Aber da er mehr als sein halbes Leben auf einem Pfad gegangen war, fiel es ihm schwer, nun einen anderen in Erwägung zu ziehen.
Wieder zögerte Mihn, bevor er sagte: »Die wichtigste Frage ist die, wie ich meinem Lord von Nutzen sein kann. Ich werde meinen Schwur nie wieder brechen. Ich werde keine Klingenwaffe benutzen, selbst wenn das meinen Tod bedeutete, aber ich weiß, dass dies meine Nützlichkeit einschränkt.«
»Ich denke, du hilfst ihm durch deine Anwesenheit. Es beruhigt ihn, dich in der Nähe zu wissen. Du hast gesehen, wie schwer ihm dies alles hier fällt.« Vesna deutete auf die Lordprotektoren, von denen die meisten beim neuen Lord der Farlan um Gunst buhlen wollten. »Und wer kann es ihm verdenken? Auf diesem Jungen lastet mehr Druck, als jeder König ertragen könnte.«
»Ich weiß. Ich befürchte allerdings, es fordert bereits Tribut.«
»Seine Träume?«
Mihn nickte erneut. »Er spricht mit mir nicht darüber, aber ich sehe es in seinen Augen …« Er schwieg kurz. »Es sind nicht die Träume selbst, sondern dass sie wahr werden könnten. Er spürt die Nähe der Schnitter in seinem Schatten, die Inkarnation des gewaltsamen Todes, und er träumt von seinem eigenen Tod.«
»Hat er sie irgendwie an sich gebunden?«, fragte Vesna flüsternd. »Isak hat sie in Scree zum Leben erweckt – an einem Ort, von dem die Götter vertrieben worden waren … Kann er dabei ihre Verbindung zu Lord Tod unterbrochen haben?«
»In welchem Fall man ihm zum Vorwurf machen müsste, die Raserei der Götter noch verstärkt zu haben?«, beendete Mihn seine Frage. »Ich weiß es nicht. Ich glaube, er weiß es ebenfalls nicht, aber er befürchtet es, vor allem nach den Ereignissen auf dem Irienn-Platz.«
»Und was machen wir nun?«
»Erinnert Ihr Euch an das, was Morghien für ihn tat, als wir ihn zum ersten Mal trafen?«
Vesna dachte an ihre Reise nach Narkang zurück, an den Fremden, der auf Xeliaths Geheiß auf sie gewartet hatte. »Ja, allerdings erinnere ich mich. Der Geist in Morghien griff Isaks Geist an, um ihn auf das vorzubereiten, was Aryn Bwr tun würde.«
»Genau, Morghien bereitete ihn vor. Wenn man weiß, was kommt, hat man nur zwei Möglichkeiten: zu versuchen, es zu vermeiden, oder es hinzunehmen und sich vorzubereiten.«
»Ich stimme dafür, den Tod zu vermeiden. Das wäre hier die bessere Wahl, oder?« Vesnas Lachen klang etwas gezwungen.
»Natürlich. Aber er hat nichts darüber verraten, wie er zu Tode kommt. Wir haben nur seine Gewissheit, dass er von Kastan Styrax’ Hand sterben wird. Den Tod zu vermeiden bedeutet, Kastan Styrax vorher zu töten, und nach allem, was ich hörte, ist das keine leichte Aufgabe.«
»Die Götter machen ihren Erlöser zum größten aller Männer«, sagte Vesna und gab damit wieder, was Isak ihm von seinem Gespräch mit Aryn Bwr erzählt hatte. »Sie haben ihn zu makellos werden lassen, zu stark und zu begabt.«
»Und damit vermutlich zu einem Mann, den man nur schwer töten kann.« Mihn hob den Kopf ein wenig, und Vesna folgte seinem Blick bis zu den Fackeln, die in den festgetretenen Boden gerammt worden waren.
»Was willst du damit sagen?«
»Nur, dass man das Duell schon halb gewonnen hat, wenn man den Feind aus dem Gleichgewicht bringen kann, indem man etwas tut, womit er nicht rechnet.« Er sah zu einer von den Palastwachen flankierten Gestalt, die sich näherte. Lesarl trat der Person in den Weg – es war eine Frau oder vielleicht ein kleiner Mann, vermutete Vesna. Sie trug einen dicken Wintermantel, dessen Kapuze das Gesicht in Schatten hüllte.
»Er soll seinen eigenen Tod annehmen?«, fragte Vesna. »Wie kann man sich denn darauf vorbereiten? Oder sollte Isak in der Lage sein, den Tod selbst zu betrügen?« Neben ihm versteifte sich Mihn und für einen Moment glaubte Vesna, er fühle sich von seinen Worten beleidigt, doch dann sah er die mit Diamantenmuster versehene Kleidung des Neuankömmlings. Ein Harlekin, der ohne Zweifel die versammelten Würdenträger unterhalten wollte.
»Das wollte ich damit nicht sagen«, sagte Mihn mit bemüht ruhiger Stimmte. »Nur, dass ihn so etwas von den verworrenen Fäden seines Schicksals befreien könnte. Man sagt über den Thronsaal Tods, dass einem kein Vertrag und keine Pflicht durch diese Türen folgen kann. Was, wenn ihn ein solches Angebot verlockt? Wenn es der einzige Weg ist, ihn von diesen Fesseln zu befreien?«
»Das ist nicht besonders viel Freiheit, oder? Man kann aus dem Grab nicht zurückkehren, also wollen wir ihn in die andere Richtung lenken, in Ordnung?«
Mihn ging über Vesnas Versuch, das Gespräch aufzumuntern, hinweg. »Werden wir denn die Wahl haben? Wir wissen beide, dass er einen Marsch nach Süden ankündigen wird, um einen Pufferstaat zu erschaffen, der Tor Milist, Helrect und Scree umfassen wird. Er hat keine andere Wahl, denn alles andere hieße doch, seine eigene Grenze für Chaos und Blutvergießen zu öffnen. Die Menin haben Thotel eingenommen und die Chetse unterworfen.«
Er wandte Vesna das Gesicht zu, als der Harlekin Lesarl passierte und die Stufen hinaufkam. »Wenn Ihr Lord Styrax und auf Eroberung aus wäret, würdet Ihr Euch nach Westen, den eher unwichtigen Staaten dort zuwenden, oder nach Norden, Tor Salan und der Runden Stadt zu?«
»Ihr Götter«, sagte Vesna atemlos, als er die Lage begriff. Er rief sich die Karte des Landes in Erinnerung, die auf die Wand von Lesarls Arbeitszimmer gemalt war. »Sie werden zusammengeführt?«
Der Harlekin erklomm die Treppe mit leichten, fließenden Schritten, die Vesna an Mihns Bewegungen erinnerten. Bei diesem Gedanken lief es ihm kalt den Rücken herunter. Er wusste, dass Mihn zum Harlekin ausgebildet worden war, dass man Großes von ihm erwartet hatte, aber die Aura des Geheimnisvollen dieser maskierten Künstler erreichte ihn aus seiner eigenen Kindheit, um ihn erneut in ihren Bann zu schlagen.
Der Harlekin blieb schlagartig stehen, als er sie bemerkte und starrte Mihn einige Augenblicke lang an. »Ich werde nicht auftreten, solange das hier die Luft verpestet«, sagte er ausdruckslos.
Das Geschlecht der Harlekine bildete ein streng gehütetes Geheimnis. Vesna erinnerte sich an eine Geschichte, derzufolge ein Säufer einmal entschlossen gewesen war herauszufinden, ob der Harlekin, der seinen Lord unterhielt, weiblich gewesen sei. Es war vermutlich nur eine Geschichte, die so herumerzählt wurde, um die Leute abzuschrecken, aber in ihr war ausführlich und blutig beschrieben worden, wie der Betrunkene den Kopf und seine Gliedmaßen verlor.
»Ich werde gehen«, antwortete Mihn nach langem Schweigen. »Ich werde meinen Lord nicht beschämen, indem ich die Unterhaltung störe.«
Diese Worte ließen den Harlekin hinter seiner Maske kurz nach Luft schnappen, aber bevor er antworten konnte, trat Vesna zwischen sie.
»Komm schon. Wir sollten etwas unternehmen, um unsere Laune zu heben.«
Mihn warf ihm einen misstrauischen Blick zu, wobei seine Nasenflügel bebten, und Vesna bemerkte, dass der Mann sich nur schwer zusammenreißen konnte. Er wollte nicht abwarten, wie lange es dauerte, bis die beiden zu den Waffen griffen.
»Einige meiner Freunde feiern heute Abend in einer Schenke. Komm, wir wollen uns zu ihnen gesellen.«
Vesna führte Mihn die Treppen hinunter, von dem Harlekin weg, der sie im Auge behielt, und achtete darauf, diesen nicht zu berühren. Er hatte Mihn kämpfen sehen. Er bewegte sich beinahe übernatürlich schnell und dabei geradezu zerstörerisch.
Erst am Fuße der Treppe holte Mihn wieder Luft. Er wandte dem Harlekin, der noch immer hinter ihnen hersah, den Rücken zu. »Ihr sagtet etwas von einer … Schenke …«, setzte er an.
Vesna kicherte und wagte es, ihm auf die Schulter zu klopfen. »Ja, damit meinte ich Bordell, aber sie schenken dort auch einen verdammt guten Wein aus, und das andere würde dir sicher ebenso guttun.«
Er zog Mihn in Richtung Vorburg und weg von dem reglos dastehenden Harlekin.
»Komm, mein Freund«, sagte Vesna fröhlich. »Es heißt, dass eine der Frauen dort ebenso beweglich sei wie du. Das sollte eine bemerkenswerte Begegnung sein.«