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Der Gang, der zu ihrem Arbeitszimmer führte, war zugig und dunkel, nur die Lampe, die sie bei sich trug, spendete etwas Licht. Königin Oterness kam sich wie eine Diebin vor, wie sie so im Schutze der Nacht durch ihren eigenen Palast schlich, während jeder vernünftige Mensch schlief. Es war mitten in der Nacht, eine Zeit, von der sie sonst nichts bemerkte, aber seit sie schwanger war, hatte sie nicht mehr richtig schlafen können.

Und jetzt erschrecke ich mich schon vor Schatten, dachte sie müde , und habe Angst, die Augen zu schließen, auch wenn noch so viele Wachen um mich herum sind. Ich leide unter Verfolgungswahn, wie mein Mann.

Sie zog das Schultertuch enger um sich und blieb an der Ecke des Ganges stehen, um in beide Richtungen zu blicken. Nur der Regen war zu hören, wie er gegen die Läden prasselte und die Wand bis zu einem Balkon über ihr hinablief. Im Weißen Palast von Narkang herrschte jetzt Kälte. Der Herbst war schließlich doch in den Winter übergegangen, und sie war froh um das dicke Schultertuch, das ihr König Emin vor einigen Jahren geschenkt hatte. Es schützte sie vor der kalten Nachtluft, die vom Meer herüberwehte.

Oterness rang sich ein Lächeln ab. Das Tuch war ein Geschenk ganz nach Art ihres Mannes. Es war lang genug, um sich darin einzuwickeln und sie warm zu halten und wies auch ein wunderschönes Muster auf … sie hatte diesen Stil vorher noch nie gesehen, aber Emin sagte, er sei in Aroth gebräuchlich, der Gegend, aus der ihre Familie vor zwei oder drei Jahrhunderten gekommen war. Doch Emins eigentliches Geschenk waren nicht die Mondsteine und Topaze gewesen, mit denen die Lilien und Kolibris verziert waren, sondern das ebenso geschmückte, darin verborgene Messer, das gegen ihren dicken Bauch drückte, wann immer sie das Tuch richtete.

Trotzdem war es ein beruhigendes Gefühl, denn die Waffe würde sie schützen, falls sich jemand in einem besonders verletzlichen Moment auf sie stürzen wollte. Dieser Gedanke ließ Oterness erschaudern, schützend legte sie die Hand auf den Bauch, auf die Narben in der Haut. Für den Fall, dass dies erneut geschehen würde.

Ursprünglich hatte sie Emin nur dadurch genutzt, dass sie die hohe Gesellschaft des Reichs beeinflussen konnte – und das hatte sie jahrzehntelang auch sehr geschickt getan. Ein grimmiges Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Die plappernden Matronen aus Narkangs hochwohlgeborenen Familien würden staunen, was geschähe, sollte jetzt ein Mann ihre aristokratische Königin angreifen. Seit Ilumenes Verrat hatte ihr der in ihren Bauch geschnittene Name eine schreckliche Entschlossenheit beschert, und sie hatte schnell und von den besten Mitgliedern der Bruderschaft gelernt.

Ihr Magen zog sich erneut zusammen, vertrieb alle Gedanken an einen Kampf und erinnerte sie daran, warum sie hier mitten in der Nacht eigentlich herumschlich. Kaum dass sie sich schlafen legte, suchten sie jeden Abend Magenschmerzen heim, und sobald diese sich legten, machte sich ihre Blase bemerkbar. Sie versuchte sich nicht davon ablenken zu lassen, denn auch die Morgenübelkeit, von der sie gedacht hatte, sie währe ewig, war jetzt nicht mehr als eine ferne Erinnerung. Mit Magenschmerzen wurde sie fertig, dafür hatte sie Kräuter, die den Magen beruhigten, und mittlerweile genoss sie ihre einsamen nächtlichen Spaziergänge sogar. Als sich Oterness aus dem Bett gekämpft hatte, hatte Jorinn, ihre Zofe, die Augen geöffnet, auf die Aufforderung gewartet, ihr zu helfen, und sich, als diese nicht erfolgte, wieder ins Bett gekuschelt.

Ihr Götter, ich hätte nicht erwartet, dass ich einmal so watscheln würde, dachte Oterness mit einem spöttischen Lächeln. Ich komme mir wie ein Nilpferd vor. Und wenn ich nicht wie ein betrunkener Matrose umherwanke, schwitze ich wie ein Pferd, so wie Emins Onkel. Und, bei Kitars knirschenden Zähnen, wo kommen nur all diese Darmwinde her? Ich könnte jeden Soldaten der Königsgarde im Furzwettbewerb besiegen, nur leider finde ich das nicht annähernd so lustig wie sie. Aber natürlich furzt eine Königin niemals 

Sie war nur noch wenige Schritte von der Tür zu ihrem Arbeitszimmer entfernt, als sie ein entferntes Geräusch durch den unablässigen Regen hindurch hörte: das Krachen des Haupttores und das Donnern von Hufen. Ein dumpfes Läuten zerriss die Nacht und kündigte heimkommende Majestäten an.

»Nun, ich bin schon hier, dann muss es also wohl endlich mein lieber Gatte sein«, murmelte sie, drehte sich umständlich und machte sich auf den Weg zurück zum Schlafzimmer. Emin würde nach ihr sehen, sobald er abgesessen war. Dann wird wohl heute nichts mehr daraus zu schlafen.

Als sie sich dem Bett näherte, blickte Jorinn wie eine Katze von ihrem Lager auf. Oterness hatte deutlich gemacht, dass sie nicht verhätschelt werden wollte, und Jorinn hatte ihre Herrin nicht in weniger als einer halben Stunde zurückerwartet.

»Komm, Mädchen, auf die Beine und tummel dich«, sagte die Königin streng. »Unser Herr und Meister kehrt zurück. Fache das Feuer an, entzünde eine Lampe und gib dem Küchenpersonal Bescheid – es klingt, als sei die gesammelte Bruderschaft ebenfalls wieder da.«

Jorinn sprang auf, zog ihr Kleid über das Nachthemd und band sich auf dem Weg zum Kamin das Haar mit einem grünen Band zurück. Mit geübten Stößen aus einem messingbeschlagenen Blasebalg erweckte sie die Kohle wieder zum Leben und entzündete mit einem Span vom Zunderhaufen die Lampe am Fuß der Wendeltreppe, die zum kleinen privaten Arbeitszimmer des Königs hinaufführte. Sie eilte zur Tür, besann sich jedoch gerade noch rechtzeitig, kam schlitternd zum Stehen und knickste rasch vor Königin Oterness. Die Königin entließ sie mit einem Lächeln und einer Geste und ließ sich in den Lehnstuhl vor dem Feuer sinken, wo sie eine Decke über ihre Beine legte.

Jorinn riss die Tür auf und quiekte erschrocken auf, als der König hereingestürmt kam. Die Zofe konnte gerade noch verhindern, dass sie überrannt wurde. Sie blickte in sein Gesicht und beschloss, nicht darauf zu warten, dass man ihr erlaubte, sich zu entfernen. Sie floh vielmehr hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

Oterness versuchte den Gesichtsausdruck ihres Gatten zu erkennen, doch sein Hut war zum Schutz vor dem Regen noch immer tief ins Gesicht gezogen. Triefend blieb er mit einem Mal mitten im Raum stehen. Er schwieg noch immer.

»Bei den Göttern der Dämmerung!«, rief Oterness. »Emin, was ist geschehen?«

Der König schien Oterness kaum zu bemerken. Seine Augen blieben auf den Boden vor ihren Füßen gerichtet, als könne er ihr nicht in die Augen schauen. Sie schlug die Decke beiseite, denn sein Verhalten machte ihr Angst, und richtete sich schwerfällig auf. Emin zuckte zusammen und wich zurück, als Oterness seine Hand ergreifen wollte. Als sie ihre Finger dann um die seinen schloss, fühlte er sich eiskalt an und zitterte.

»Ich habe … ich hab…« Die Worte kamen ungelenk und abgehackt heraus, gänzlich anders als sonst, und allein die Anstrengung, diese vier Worte hervorzubringen, schien ihn ausgelaugt zu haben.

»Emin, komm, setz dich ans Feuer«, sagte Oterness und zog ihn zum Lehnstuhl. »Du bist ja durchgefroren bis auf die Knochen.«

Emin setzte sich zwar nicht, umklammerte aber ihre Finger und starrte einige Augenblicke lang in die Flammen, bis ein plötzlicher Schauder ihn erfasste.

»Du machst mir Angst, was ist denn nur geschehen? Man hörte in der Stadt schreckliche Gerüchte …«

»Sie sind wahr«, unterbrach er sie schroff. »Sie sind alle wahr.« Mit einem Seufzen sank Emin vor dem Feuer auf die Knie und ließ die Hand seiner Frau los.

»Alle?«, keuchte Oterness. »Scree … gibt es nicht mehr? Die Götter haben die ganze Stadt zur Strafe vernichtet? Opess Antern berichtete mir, jeder Priester in Narkang habe sich seltsam verhalten und sogar die Gemäßigten predigten, die Zeit der Bestrafung sei gekommen.«

»Die Götter waren an Screes Fall nicht beteiligt«, flüsterte Emin mit leiser, zaghafter Stimme, als könne er kaum glauben, was er da sagte. »Sie kamen zu spät, um irgendjemandem zu helfen; zu spät auch, um zu strafen. Aber das hat ihre Rachsucht nicht gemindert.«

Er atmetete tief durch, als müsse er seine Kraft zusammennehmen, um über die schrecklichen Ereignisse sprechen zu können. »Nachdem Scree in einer Feuersbrunst zugrunde ging, nahmen wir uns einen Tag Zeit, um uns von den Kämpfen zu erholen und die Verwundeten zu versorgen. Die Leute waren ja verrückt geworden. Beinahe die gesamte Bevölkerung war zu blutrünstigen Bestien geworden. Es geschah genau wie in Disteltal – du weißt schon, das Tal, in dem die Überlebenden jede Spur des Dorfes tilgten? Aber das nun in einer ganzen Stadt.«

Er beachtete ihr entsetztes Keuchen nicht und sprach weiter: »Am nächsten Tag führte Lord Isak seine Truppen zu einem neuen Lager im Norden der Stadt und ließ die Geweihten, seine Verbündeten aus der vorangegangenen Nacht, zurück. Sie hatten das Tempelviertel gegen die Meute verteidigt, eine närrische Tat, die sie nur überlebten, weil er die Götter zu Hilfe rief. Der Junge hat die Schnitter irgendwie beschworen, und sie mordeten mit tödlichen Krallen jeden, der ihnen in den Weg kam.

»Danach lehnte es Isak sogar ab, Boten der Geweihten zu empfangen. Sie hatten all ihre hochrangigen Offiziere verloren. Der Befehlshabende, Ortof-Greyl hieß er, glaube ich, war ein Oberst und der einzige überlebende Befehlshaber. Er schien der Aufgabe nicht gewachsen, kam mir vor wie ein Junge, der in Vaters Boot aufs Meer hinausgetrieben wurde. Vermutlich erwartete er, dass die Farlan ihm Befehle übermittelten, aber das geschah nicht. Wir warteten einen ganzen Tag dort, im nicht enden wollenden Regen, bis weit in die Nacht, und taten nichts und sprachen auch nicht. Niemand dachte daran, Wachen aufzustellen, zu beten oder auch nur zu kochen.«

Emin hob die Hand und drückte die langen Finger auf die Stirn, als wolle er etwas aus seinen Erinnerungen herauspressen. Oterness kniete sich vorsichtig neben ihn und zog seine Hände beiseite, umfasste sie.

»Sprich weiter«, sagte sie sanft, da sie wusste, dass er seine Geschichte beenden musste.

»In der Dämmerung wurde ich von schrecklich pochenden Kopfschmerzen geweckt, als habe mir Coran eins mit der Keule übergezogen. Auch der Oberst spürte sie und selbst die niederen Offiziersränge waren davon betroffen. Die Heiler waren mit all den Schwerverletzten beschäftigt, und meine Magier waren noch von den Mühen besinnungslos, die es sie gekostet hatte, uns aus der Stadt zu bekommen. Die Schmerzen waren schlimmer als jede Wunde, die ich je erlitten habe … aber erst als im Hirn eines der Kaplane der Geweihten etwas aufplatzte, erkannten wir …«

»Was war es?«, fragte Oterness atemlos.

»Hirnschlag«, sagte Emin und umklammerte wieder seinen Kopf. »Eine Wut, wie ich sie nie zuvor gespürt habe, ein Hass erfüllte mich und verzehrte mich.« Er hob den Kopf und sah sie mit einem flehenden Blick an, wie sie ihn in den zwei Jahrzehnten ihrer Ehe niemals bei ihm gesehen hatte. »Es steigerte sich den ganzen Tag über und … o ihr Götter!« Er schwieg kurz, und als er dann weitersprach, lag Verbitterung in seiner Stimme. »Meine Männer hielten mich nicht davon ab. Sie konnten mich nicht davon abhalten.«

»Wovon abhalten?«

»Die Flüchtlinge«, flüsterte er. »Es gab Tausende, die nicht dem Wahn verfallen waren, in einem Lager auf der anderen Seite der Stadt. Sie wurden nur von einer Handvoll Stadtmilizen beschützt. Die Offiziere der Geweihten sind allesamt geweihte Priester, so schreibt es ihr Orden vor, und ich – ich Narr – bin es ebenfalls. Wir spürten die Wut der Götter durch unsere Adern fließen und konnten sie nicht bremsen. Wir zögerten nicht einmal.«

»O Emin, was hast du getan?« Oterness konnte das Entsetzen in ihrer Stimme nicht verhehlen, dennoch zog sie ihren Ehemann an sich, und er sank schluchzend in ihre Arme.

»Wir töteten sie! Wir brachten sie alle um. Und die Götter, die Schnitter und andere, sie begleiteten uns, unbeschreiblich wütend. Die Flüchtlinge waren unschuldig, die Miliz bestand nur aus ängstlichen Narren, aufrechten Männern, die im Angesicht des grausamen Schicksals die Schutzlosen nicht im Stich lassen wollten. Wir ließen keinen am Leben. Ich höre ihre Schreie noch immer – jede Nacht höre ich sie, und ich rieche ihr Blut an mir.«

»Wir ließen die Toten für die Aasfresser liegen und gingen einfach davon. An … an die nächsten Tage erinnere ich mich kaum. Das Land um Scree herum war so tot wie die Stadt selbst. Wir sahen den Rauch der letzten Feuer aufsteigen, während wir zum Tempel Tods gingen, wo Lord Isak seinen verzweifelten Verteidigungsposten bezogen hatte. Aber der Gestank vertrieb uns von dort. Der ganze Tempelplatz war voller Leichen, die meisten unbewaffnet und so armselig wie jene, die ich tags zuvor erschlagen hatte. Und, mögen die Götter mir helfen, ich betete mit den Offizieren der Geweihten inmitten der Toten und fühlte mich selig … sogar im Recht. Ich erkannte den Schrecken meiner Taten nicht, spürte nur die Genugtuung, dass der erste Schritt getan war.«

»Der erste Schritt?«, fragte sie und versuchte ihre Angst zu verbergen.

»Der erste Schritt zu einem reinen Land.« Es lag nun Schmerz in seinen Worten, und er drückte seine königliche Braut fester an sich, wie ein verängstigtes Kind. »All die Jahre bekämpfte ich die Eiferer, und jetzt bin ich sogar der Schlimmste von ihnen.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Oterness. »Du bist nicht wie sie. Du bist kein Feigling, der heilige Worte zu seinem eigenen Vorteil ausdeutet, der den Sinn der Schriften verdreht, um sie als Werkzeuge nutzen zu können. Der König dieses Reiches ist kein solcher Mann. Der Vater meines Kindes ist kein solcher Mann.«

»Mein Kind«, keuchte Emin, und ein Lebensfunke glomm plötzlich in seinen Augen auf, als er sich wieder auf die Knie kämpfte. »Wie geht es unserem Kind? Ist euch beiden wohl?«

Oterness drückte ihn erneut. »Es geht uns gut, Emin, wir sind stark und gesund.«

Ehrfürchtig streichelte er ihren Bauch und riss die Augen auf, als er verwundert sah, wie groß dieser mittlerweile geworden war. »Oh, mein Kind, wie wird dieses neue Land sein, in das du geboren wirst?«, fragte er mit zitternder Stimme.

»Ein Land, das es noch zu formen gilt«, antwortete Oterness sanft. »Ein Land, für dessen Entstehung du zwanzig Jahre lang gekämpft hast, Emin, und eines, das du jetzt nicht im Stich lassen kannst. Ich kenne dich, noch besser als die Leute, die in deinem Schatten arbeiten, sogar besser als Morghien. Du hast jahrelang dafür gearbeitet, diese Eiferer in ihre Schranken zu weisen und diese Berichte über Priester, die größere Taten für nötig halten, beschreiben nur das uralte Problem, das nun einen größeren Rahmen angenommen hat. Unsere Spione arbeiten noch immer, unsere Netzwerke bleiben bestehen. Erst gestern brachte Graf Antern den Brief eines deiner Spione, mit grünem Wachs gesiegelt.«

»Grünes Wachs?« Er richtete sich auf. Für gewöhnliche Staatsangelegenheiten verwendeten sie rotes Wachs, weißes für Fragen der nationalen Sicherheit, und er ermunterte seine Frau in beiden Fällen, die Briefe zu lesen, auch wenn er nicht da war … Auch andere Frauen hatten eine vergleichbare Herkunft aufzuweisen gehabt wie die Dame Oterness, vormalige Bekashay, aber ihr Verstand übertraf bei weitem den jeder anderen möglichen Gattin, und ihre Hilfe bei den Regierungsgeschäften war unbezahlbar. Grünes Wachs war allerdings eine andere Sache. Es wies auf Nachrichten im Zusammenhang mit seinem Krieg gegen Azaer, dem Schatten, hin, und das wollte er ihr ersparen.

»Er liegt auf deinem Schreibtisch«, sagte Oterness mit einem Nicken zur Wendeltreppe hinter ihm. Das kanzelartige Hochgeschoss lag im Dunkeln, weil Jorinn wusste, dass sie keinen Fuß auf die Treppe setzen, geschweige denn hinaufsteigen durfte, um die Lampe auf dem Tisch des Königs zu entzünden.

Emin half seiner Frau auf den Stuhl und holte dann den Brief, der so klein zusammengefaltet war, dass er in der Hand versteckt werden konnte. Er öffnete ihn, las die Nachricht und blickte auf Oterness. Ohne Worte trat er zum Glockenzug neben dem Kamin und zog daran, um Coran, seinen Weißaugen-Leibwächter, herbeizurufen.

»Kann das nicht warten? Du musst erst etwas essen und dich ausruhen. Gönn dir wenigstens eine Stunde«, sagte Oterness besorgt, obwohl sie genau wusste, dass er seine Bedürfnisse und sein Leid nicht beachten und sich stattdessen der Dinge annehmen würde, die seine Stellung mit sich brachte.

Aber wirst du es jemals herauslassen? Du hast deine Wut über Ilumenes Verrat tief vergraben, aber sie ist noch da – und was jetzt? Du verlangst dir zu viel ab, mein Emin, viel mehr, als es irgendwer tun sollte.

»Ich werde mich bald ausruhen«, antwortete der König schließlich, umfasste die Lehne ihres Stuhls und legte die Hände dann auf ihre Schultern. Coran kam wie üblich ohne anzuklopfen hereingestürmt, das Gesicht ausdruckslos.

»Händige diesen Brief Anversis Chals aus. Sag ihm, er solle einen Plan für den Hochsommer erstellen.«

»Anversis? Dein Onkel?«, fragte Oterness mit verwirrtem Gesichtsausdruck dazwischen. »Ich dachte, er hätte keinen Anteil an deinem Kampf … verbringt er seine Tage nicht damit, Völkerwanderungen zu untersuchen?«

Emin lächelte. »Genau.«

»Du hast doch nicht etwa einen Weg gefunden, seine Leidenschaft zu nutzen? Der Mann ist so ein Plappermaul – du darfst ihm keines deiner Geheimnisse anvertrauen.«

»Stimmt ebenfalls«, seufzte der König. »Aber er hat seine Theorien auf die Wanderungen der Harlekine angewendet, und dieser Brief ist das erste Anzeichen für etwas, das wir seit Disteltal befürchten.«

»Wir?«

»Morghien und ich. Erinnerst du dich daran, wie ich ihn zum ersten Mal traf?«

Oterness nickte matt. »Es ging um den Geist in der Bibliothek, die dein Vater gespendet hatte, und dass Morghien dich vor ihm gerettet hatte.«

Emin verzog das Gesicht. »Das war kein Geist, sondern Azaer. Der Schatten konnte der Versuchung der Bibliothek, die für die gesamte Bevölkerung geöffnet war, nicht widerstehen und begann damit, einige der Bücher umzuschreiben, unsere Geschichte zu ändern. Am Ende dieser einen Woche hatte ich einem körperlosen Unsterblichen den Krieg erklärt und musste eine Schwester zu Grabe tragen. Es gibt eine Gruppe von Leuten, die am besten dazu in der Lage ist, die Geschichte umzuschreiben, und Rojak hat uns in Disteltal gezeigt, über welche Macht ein Barde verfügt.« Er hielt den Brief hoch und reichte ihn dann Coran. »Das ist ein Bericht aus Helrect. Einem Harlekin, der im letzten Sommer dort durchgekommen ist, unterlief bei einer Erzählung ein Fehler!«

»Ein Fehler?«, fragte Oterness überrascht. »Aber Harlekine verfügen über ein großartiges Gedächtnis? Darum geht es doch.« Sie übersah Coran, der zwei Verbeugungen andeutete und davoneilte.

»Genau. Und jetzt müssen wir darauf achten, ob dies noch einmal geschieht.«

Die Königin versteifte sich. »Du sagtest, er solle einen Plan für den Hochsommer erstellen. Was für einen Plan meinst du?«

Emin ging neben ihr in die Hocke und legte eine Hand schützend auf ihren dicken Bauch. »Wenn sie, möglicherweise sogar unwissentlich, zu Dienern Azaers geworden sind, könnten sie unvorstellbaren Schaden anrichten. In Scree haben Azaers Anhänger eine ganze Stadt gegen die Götter aufgebracht. Und wenn das Gleiche im ganzen Land geschieht? Wir hatten so wenige Gelegenheiten, die Ränke des Schattens zu durchkreuzen, dass ich jetzt nicht zaudern darf.«

»Du würdest sie alle töten?«

»Wie es scheint«, sagte Emin langsam, »bin ich zu allem fähig.« Er senkte den Kopf, ein Mann, der von seinen eigenen Taten besiegt wurde.

»Bei der Gnade Schicksals, hatte Scree denn auf sie alle Auswirkungen? Ist daraus nichts Gutes erwachsen?«

Der König lachte freudlos. »Nichts Gutes?«, wiederholte er, dann glätteten sich die harten Züge und Trauer breitete sich darin aus. »Doranei, der arme Junge Doranei, hat sich verliebt.«