20

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Hohepriester Antil wartete, bis sich die Schritte entfernten. Er stand in einem kleinen, schummrig beleuchteten Flur und blickte auf die enge Wendeltreppe hinab. Er hielt den Atem an und lauschte angestrengt. Aus Gewohnheit sandte er ein stummes Gebet an Shotir. Hale war in letzter Zeit ein schrecklicher Ort geworden, und auch wenn der Gott der Heilung das Gebet seines Dieners vernahm, so fürchtete Antil doch um die Sicherheit seines Mündels. Sogar der Segen eines Gottes hatte augenscheinlich seine Grenzen. Das nächste Mal mochte kein Priester des Todes anwesend sein, um die Pönitenten an einer Durchsuchung des Tempels zu hindern.

Zu Leganas Glück führte der einzige Weg zum gesegneten Krankenhaus, der Küche und den Schlafsälen, die den Großteil des Tempels einnahmen, durch den Raum des Schreins. Bisher waren die Soldaten davor zurückgescheut, ihn zu durchschreiten, aber Antil vermutete, dass sie das nicht mehr lange abhalten würde. Seit dem Massaker im Rubinturm lag das Flüstern des Verrats im Wind und die verbleibenden Kriegstreiber suchten nach einem Südenbock.

Antil kratzte sich am Hals, zog dann aber rasch die Hand weg. Er tat dies, wann immer er nervös war, und in den letzten Tagen war die Haut an dieser Stelle wund. Auf der Treppe blieb es still. Die Priester des Tempels befanden sich alle im Krankensaal, der trotz ihrer Bemühungen nicht leerer wurde. Leganas Anwesenheit war ein Geheimnis, das Antil nur mir einer anderen Person geteilt hatte, einem gutmütigen niederen Priester, den man den dicken Lonei nannte. Und zur Sicherheit wollte es Antil auch dabei belassen.

Vater Lonei besaß keine Magie. Seine Fettleibigkeit war allein eine Auswirkung seiner Gier. Er stellte im Krankensaal eine Gefahr dar und durfte sich darum nicht dort aufhalten. Aber in der Küche tat er gute Arbeit, er war seit Jahren Antils treuer Gehilfe gewesen. Lonei war nicht der Hellste, aber Antil konnte sich ohne Zweifel darauf verlassen, dass der Mann den Priester abgelöst hatte, der sich um den Schrein am Fuß der Treppe kümmerte – und dass er nachgesehen hatte, ob die Luft rein war.

Antil zog sich in sein Zimmer zurück. Es war ebenso spärlich beleuchtet wie der Flur, dennoch kniff Legana die Augen zusammen, wenn sie zum Fenster sah. Sie konnte nur noch schrecklich schlecht sehen, alles war ein grauer Mischmasch für sie, sie vermochte kaum Formen oder Farben zu unterscheiden. Vorrangig reagierte sie auf Bewegungen und zuckte darum nun zusammen, als er durch den Raum auf sie zukam. Ihre Hände bewegten sich unter der Robe, die er ihr gegeben hatte.

»Ich bin es nur«, sagte er leise, blieb vor ihr stehen und winkte vor ihren Augen. Er wusste nicht, wie gut sie ihn hörte, darum fuhr er mit der Bewegung fort, bis sie zustimmend nickte. Obwohl er es hatte verhindern wollen, hatte Legana schließlich einen ihrer langen Dolche gefunden, und er hatte nicht vor, eine Frau zu erschrecken, die sich so schnell bewegte wie sie, halbblind … hin oder her.

Der dunkle Handabdruck an ihrem Hals war unverändert zu sehen und Antil glaubte, dass ihre Stimme für immer vergangen war. Aber der Rest ihres Körpers schien trotz der Knochenbrüche und inneren Verletzungen unnatürlich schnell verheilt.

Legana krächzte heiser und suchte nach der Tafel, die er ihr besorgt hatte. Sie schrieb drei Worte darauf: Es ist Zeit.

»Gebt Lonai noch etwas Zeit, wir haben keine Eile«, antwortete Antil.

– Wir gehen jetzt, schrieb sie und wollte aus dem Bett steigen.

Unwillkürlich versuchte Antil ihr zu helfen, aber sie schob ihn beiseite. Sie war so groß wie er und schlanker gebaut, aber dennoch stärker, auch wenn sie immer noch unsicher auf den Beinen war. Antil hatte ihr Haar, das graue und kupferfarbene Strähnen aufwies, ungeschickt gekürzt und es ihr aus dem Gesicht gebunden, aber kaum dass sie stand, zog sie die Bänder heraus, so dass es ihr Gesicht verdeckte und ihre beunruhigenden Augen etwas verbarg. Ihr Gesicht war verheilt und bis auf das Zeichen an ihrer Kehle wirkte ihre Haut makellos, ohne Schnitte oder blaue Flecken.

»Warum jetzt?«, fragte er und untermalte es mit einem übertriebenen Schulterzucken.

– Zwielicht.

Antil wiederholte seine Geste. »Du hast Angst davor, dass dich die Götter jagen könnten?«

Um seine Worte zu verstehen, legte sie den Kopf auf die Seite, dann verstand sie, was er sagen wollte und schüttelte den Kopf. Danach wischte sie das Wort mit dem Ärmel von der Tafel.

– Ablenkung. Ich spüre es, wie ein sich bewegendes Spinnennetz.

Antil dachte darüber nach. Spinnennetz? Ihr Götter, was für eine Spinne muss durch Hale wandeln, dass sie sie spüren kann?

Es hatte offensichtlich keinen Sinn, mit ihr zu streiten. Sie hatte eine Entscheidung getroffen, und so ging er vor ihr her, um ihr die Tür zu öffnen. Er reichte ihr eine Hand, die sie zögernd ergriff. Offensichtlich gefiel es ihr nicht, von einer anderen Person abhängig zu sein. Sie riss die leuchtend grünen Augen auf und schlurfte, die Hand an der Wand, über den Holzboden, bis sie die Treppe erreicht hatte.

Die Robe, die sie von Antil erhalten hatte, war um ein Stück gekürzt, damit sie nicht über den Saum stolperte. Antil wurde oft zu denen gerufen, die das Haus nicht mehr verlassen konnten. Mit etwas Glück würde darum niemand einen Priester und eine Novizin Shotirs belästigen.

Bis sie den Raum des Schreins erreichten, begegneten sie niemandem. Dort wartete der dicke Lonei und spähte immer wieder nervös durch die gelbe Tür.

»Vater, da sind Soldaten«, zischte er, als er sie bemerkte.

Antil bedeutete Legana, stehen zu bleiben und eilte an Loneis Seite. »Was tun sie?«

Lonei schüttelte ängstlich den Kopf. Antil trat an ihm vorbei auf die Straße und bemerkte, dass sie nicht allein waren. Mönche, Priester, Laienprediger – alle starrten die Straße entlang auf eine Kompanie Rubinturmwachen, die in Zweierreihen über die Kreuzung marschierten. Hinter ihnen folgten weniger ordentlich Soldaten in dem Grau-Weiß der Byoranischen Wache, die in Hale Dienst tat.

Antil bemerkte, dass viele Leute vor den Soldaten flohen. Es war nicht allein dem Tempel Shotirs zugefallen, sich um die Opfer zu kümmern, die zu beklagen waren, weil die Soldaten gewaltsam die Herrschaft wieder an sich gerissen hatten. Und nun beruhigte sich die Lage nicht, im Gegenteil, sie wurde immer gewalttätiger – und was in der letzten Nacht geschehen war, war das Schlimmste, was Antil jemals in Friedenszeiten erlebt hatte. Einige der Byoranischen Wachen hatten ihre Wut am Tempel Etesias ausgelassen und waren dann zu den Häusern von Triena und Kantay weitergezogen. Sie hatten Priester und Novizen beiderlei Geschlechts auf den Platz zwischen den verbundenen Tempeln geschleift und nacheinander vergewaltigt, wobei sie jeden abschlachteten, der sich wehrte. Alle Eunuchen waren erschlagen worden. Ein Einziger hatte das Glück gehabt – wenn man es so nennen konnte – zu überleben; er wurde mit den Eingeweiden von Etesias Hohepriesterin an eine der Säulen des Tempels gefesselt. Die Soldaten hatten ihre Brüste abgeschnitten und dem Eunuchen in den Mund gestopft – und ihm jedes Mal einen Finger abgeschnitten, wenn er sie ausgespuckt hatte. Antil hatte der grausigen Erzählung schweigend gelauscht, nur seine fahle Haut hatte sein Entsetzen verraten.

Und jetzt sah es so aus, als würde sich das wiederholen.

»Wo gehen sie hin, Vater?«, fragte Lonei mit bebender Stimme.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Antil, doch seine böse Vorahnung wurde stärker. Er blickte zum Himmel auf. »Was sie auch vorhaben, sie tun es im Zwielicht, wenn die Götter ruhen.«

Ein Windhauch machte sich an seiner Robe zu schaffen, wie ein Kind, das ihn weiterzog, und trug den Geruch verbrannter Kräuter vom Tsatach-Tempel mit sich. Die Feuer brannten noch, aber er sah nichts von der Geschäftigkeit, die den heiligen Boden üblicherweise erfüllte.

»Damit die Götter nicht sehen, was sie tun?« Lonei bibberte bei diesem Gedanken beinahe. »Werden sie einen weiteren Tempel schänden?«

Antil blickte finster drein. »Ich weiß es nicht, aber was sie auch vorhaben, es wird auf jeden Fall weitere Leben kosten.«

Hinter den Byoranischen Wachen folgten zwei Wagen, auf denen Holz aufgetürmt worden war. Die Wagen rumpelten und schwankten auf dem steinigen Untergrund, und eines der Bretter rutschte herunter und fiel zu Boden.

»Sieht aus, als wollten sie eine Barrikade errichten. Ich frage mich nur, wo?«

Er spürte die Berührung einer Hand auf seinem Rücken und wich zurück, bemerkte dann aber, dass es Legana war, die hinter ihm stand. Sie hatte die Augen halb geschlossen, obwohl es alles andere als hell war.

»Ja, es wird Zeit zu gehen«, sagte er.

Er dankte Lonei und scheuchte ihn wieder hinein, wobei er versprach, baldmöglichst zurückzukehren und ihn ermahnte, auf Fragen stets nur zu sagen, er mache Krankenbesuche.

Legana und er gingen schweigend durch die Straßen Hales. Dabei verweigerte sie sich dem festen Griff nicht, mit dem er sie am Arm führte. Ihr Gesichtsausdruck verwirrte Antil immer weiter. Augenscheinlich hatte sie Angst wegen ihrer Verletzlichkeit, aber es umgab sie auch eine Aura der Verwunderung – wenn der Wind ihre Wange streichelte oder ein Pferd nah genug vorbeiritt, dass sie die Erschütterung der Hufe spüren konnte.

Die beiden folgten der leichten Neigung Hales bis zum Taubentor, das nach Bierbruch führte. Es stand nur eine Wache davor, ein junger Mann mit schmutzigem, langem Haar und verhärmten Wangen. Seine Miene erhellte sich, als er unter Leganas Kapuze spähte. Da er aber bemerkte, dass ihre Augen beinahe geschlossen waren, verzog er nur angewidert das Gesicht.

»Passierschein«, sagte er gelangweilt.

»Entschuldigung?«, fragte Antil verwundert.

Der Junge streckte eine Hand aus. »Passierschein«, wiederholte er mit stumpfen Augen, die nicht blinzelten.

»Ich brauche einen Passierschein, um Hale zu verlassen?«

»Ihr seid doch ein Priester, oder nicht?«

»Wann hat man dieses Gesetz erlassen?«, wollte Antil bestürzt wissen.

»Vor drei Tagen. Die Verkündigungen hängen überall.« Er hielt eine Hellebarde im Arm und stützte sich nun auf die Waffe, während er Antil musterte.

»Tut mir leid«, sagte Antil höflich. »Ich habe mich in den letzten Tagen um Patienten kümmern müssen. Wie bekomme ich so einen Passierschein? Ich muss diese Frau zu ihrer Familie in Bierbruch zurückbringen.«

Die Wache zeigte ein schräges Lächeln. »Nun, wir wollen ja nicht, dass Ihr Eure Pflichten vernachlässigen müsst, oder?«, erklärte er und wies mit dem Daumen auf das kleine Wachhaus, das in die Steinwand eingelassen war. »Bringt das Mädchen dort hinein, dann kümmere ich mich darum.«

Väterlich legte Antil Legana die Hand auf den Arm. »Nein, ich denke, wir kehren vielleicht besser einfach in den Tempel zurück.«

»Ach, das denkt Ihr Euch? Wie wäre es dann, wenn ich beschließe, dass Ihr Verräter seid? Vielleicht habe ich Euch ja aus dem Rubinturm laufen sehen, nachdem all Eure Gefährten getötet wurden?«

»Nein!«, rief Antil, und seine Stimme verriet die Angst, die er hatte.

Die Wache senkte die Klinge der Hellebarde auf Schulterhöhe. »Dann seht zu, dass Ihr in den Wachraum kommt, damit ich mich um Euren Passierschein kümmern kann«, knurrte er.

Antil war so außer Fassung, dass er zuließ, in den dunklen Raum getrieben zu werden, in dem es nach Rauch und Schweiß stank. Neben einem Waffenständer an der Rückwand befanden sich nur ein eckiger Tisch und einige Hocker im Raum. Kaum waren sie drin, da stieß ihn die Wache schon grob vorwärts, so dass er über einen Hocker stolperte und zu Boden fiel.

»Du bleibst da«, warnte ihn der junge Wachmann, lehnte die Pike an die Wand, klopfte aber vielsagend auf den Knauf seines Kurzschwertes, das noch in der Scheide steckte.

Während sich der Priester langsam wieder aufrappelte, trat der Soldat die Tür mit der Hacke zu und schob Legana gegen den Tisch. Sie schnappte vor Schreck nach Luft, als die Wache mit der Hand über ihren Körper strich und ihre rechte Brust umfasste. Ihre linke Hand bewegte sich so schnell, dass sie kaum zu sehen war. Sie packte sein Handgelenk mit Daumen und Zeigefinger und drehte es mühelos herum. Die Wache stieß einen Schrei aus, als etwas brach, doch der Schrei erstarb, als Legana ihren Dolch aus dem Ärmel zog und ihn so heftig in den Hals des Mannes rammte, dass sie ihn regelrecht an der Wand festnagelte. Sie hielt einen Augenblick inne, dann umfasste sie seinen Kiefer und riss das Messer wieder hervor. Die Leiche fiel zu Boden und sie beugte sich vor, um die Klinge an der Uniform sauberzuwischen.

Legana hatte sich so schnell bewegt, dass Antil gar nichts hatte tun können. Jetzt wandte sie sich ihm mit aufgerissenen Augen zu und streckte ihm die Hände hin wie ein verirrtes Kind. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei, doch es kam nur ein heiseres Krächzen heraus. Antil sah auf die Wache hinab, sein Mund war allerdings zu trocken, als dass er hätte sprechen können, also winkte er Legana nur hektisch zu, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie suchte an ihrem Gürtel nach der Tafel und schrieb: – Weinhändler. Beristole.

»Der Beristole?«, fragte Antil laut. »Ich weiß, wo das liegt, neben der Hauptstraße nach Rad. Aber ich bring dich zu einem Freund, bei dem du sicher bist.«

Leganas Lächeln verblasste – Freund, fügte sie auf der Tafel hinzu und tippte zweimal darauf, um es zu betonen.

Er stritt nicht mit ihr. Selbst als sie halbtot und nur gerade so bei Bewusstsein gewesen war, hatte sie die Sturheit eines Esels an den Tag gelegt. »Gut, dann also der Beristole.«

Ihr Lächeln kehrte zurück.

Die Straßen in Breakale waren schmaler als die in Hale, die Häuser höher und gleichmäßiger gebaut. Sie fanden bald zu gutem Schritt und hielten die Augen beim Gehen auf den Boden gerichtet. Die meisten Passanten warfen dem Paar mitleidige Blicke zu, doch ab und zu wurde Antil angerempelt. Aus Angst, man könne sie erwischen, schwieg er. Die erste Frau, die ihn angerempelt hatte, war einfach weitergegangen, ohne sich nach dem stolpernden Antil umzusehen, der nur von Leganas Kraft daran gehindert wurde, der Länge nach auf den Boden zu schlagen.

Es dauerte nicht lange, dann erkannte er, dass der Ärger, der in Form von Predigten und Verkündigungen von den Tempeln ausging, nur das erntete, was er säte. Dass er die gelbe Robe Shotirs trug, des Gottes der Heilung und Vergebung, schien keinen Unterschied zu machen.

Kann man es ihnen verdenken?, fragte sich Antil, als er den Ellbogen eines Mannes in die Rippen bekam, dessen Gesicht auf einer Seite grün und blau geprügelt worden war. Wann habe ich Mäßigung gefordert? Als die Priester Tods im Blut der Sünder badeten, erklang mein Widerspruch nur leise.

Die Sonne näherte sich inzwischen dem Horizont, der Wind frischte auf, und die ersten Lichter wurden hinter den Fenstern entzündet. Als sie an einer Kreuzung anhielten und sich Antil an den Weg zu erinnern versuchte, fühlte er sich mit einem Mal wie auf dem Silbertablett. Er hatte Hale nach seiner Weihe zum Hohepriester nur selten verlassen und dann auch meist nur, um nach Acht Türme zu ziehen. Die Fürsorge in Rad oder Brand, den heruntergekommenen Vierteln voller Werkstätten, Gerbereien und jeder anderen Art von körperlicher Arbeit – wurde von jüngeren Priestern übernommen. Selbst vor den Spannungen, die derzeit herrschten, waren diese Viertel kein sicherer Ort für einen Hohepriester ohne Leibwache gewesen.

Er sah sich um und fand sich wieder zurecht. Nach links ging es ins Herz von Rad, das von den beiden schnellfließenden Strömen geteilt wurde, die den Großteil der Wasserräder des Viertels antrieben. Dahinter fingen die meilenweiten Felder an, die bis an das trügerische Moor reichten. In Rad fand man keine Tempel und Statuen, sondern Scheunen, Wasserräder und Lagerhäuser.

Zur Rechten war Brand eine vollgestopfte und schmutzige Nachbildung Bierbruchs. Es stand am Rand einer tiefen Spalte, aus der beinahe jedes Jahr eine große, brennende Gaswolke entwich und jedes Wesen in hundert Schritt Umkreis tötete. Die heißen Quellen, die überall in dieser Umgebung entsprangen, sorgten dafür, dass man mit dieser Gefahr einfach lebte.

Beide Viertel standen unter dem Befehl von Verbrechern. Byoras Herrscher hatten schon lange erkannt, dass ihr Einfluss hier spärlich bleiben würde, solange Armut herrschte. Eine nicht öffentliche, aber allgemein bekannte Vereinbarung hatte sich als billiger und für alle Beteiligten einfacher erwiesen.

Legana zupfte mit sichtlicher Not an seinem Arm, da blieb er stehen.

In der Mitte der Kreuzung stand eine Statue, die vermutlich einen Gott oder einen Aspekt darstellte, weil die Arme und der Kopf abgebrochen worden waren und man sie auf einer Seite mit Schmutz beschmiert hatte. Aber darum war er jetzt nicht stehen geblieben.

»Die Sonne geht unter«, erklärte er. »Ich weiß nicht genau, wie weit es bis zum Beristole ist, aber ich weiß doch, dass sich die Byoranische Wache dort nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr hintraut.«

Sie vergewisserte sich, dass ihr Dolch im langen Ärmel ihrer Robe steckte, dann zog sie ihn weiter.

»Und doch gehen wir dorthin – und damit vielleicht in den Tod«, murmelte Antil, dann setzte er sich wieder vor Legana, um sie auf einem Weg über die Straße zu führen, der nicht so gefährlich war, abseits der Wagen und Pferde. Da stieß ihn jemand von hinten an, und Leganas Hand wurde ihm entrissen, als er erst auf die Knie und dann mit dem Gesicht auf die Pflastersteine fiel. Sein Kopf schlug so schnell auf den Boden, dass er nicht einmal mehr einen Schrei hervorbringen konnte.

»Huch, Entschuldigung, Vater«, sagte ein Mann hinter ihm. Antil stöhnte, weil sich Schmerz von seiner ohnehin schon kalten Hand aus durch den Arm ausbreitete.

Bevor er noch richtig wusste, wie ihm geschah, hatten ihm schon Hände unter die Arme gegriffen und ihn aufgestellt. Antil verzog das Gesicht und lehnte sich mit wackligen Knien schwer auf den Mann.

»Habt Ihr Euch wehgetan, Vater?«, fragte der Mann, der ein dunkler, verschwommener Schemen blieb, bis Antil blinzelte und sich das Bild in ein jugendliches, rundes Gesicht verwandelte, gerahmt von dunklen Haaren, die unter einer Kapuze hervorlugten. Er klang nicht so, als wäre er von hier, und den Narben in seinem Gesicht nach urteilte Antil, dass er ein Söldner war, aber er grinste wie ein Affe und seine Entschuldigungen klangen aufrichtig.

»Ich … nein, es geht mir gut, glaube ich«, sagte er und fasste sich an die Schläfe, doch dort tat nichts sonderlich weh. »Danke«, fügte er viel zu spät hinzu.

»Ach, keine Sorge«, sagte der Mann und klopfte Antil übertrieben den Staub von der Kleidung, obwohl der Geruch deutlich machte, dass Staub das geringste seiner Probleme war. »Ich habe nur nicht aufgepasst, wo ich langgelaufen bin.«

»Bei Tods knochigem Schwanz«, grollte jemand hinter dem Mann. Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht, und er blickte über seine Schulter.

»Geh weiter, Kumpel, der Mann ist ein Hohepriester«, gab er zurück, doch sein Kumpan achtete gar nicht auf ihn. Er starrte Legana an. Ihre Kapuze war halb von ihrem Kopf gerutscht und im zunehmenden Mondlicht sah sie mit der bleichen Haut und dem leeren Blick wie ein Gespenst aus.

Der erste Mann musterte sie einen Augenblick. »Verfickte Scheiße«, keuchte er überrascht. Sein Kumpel schob ihn aus dem Weg und packte Antil so grob am Kragen, dass der Priester aufschrie.

»Du betest besser zu Shotir, dass nicht du ihr das angetan hast«, zischte er, das Gesicht unmittelbar vor dem Antils. Er hatte nicht ganz so viele Narben, war aber kräftiger gebaut und schien ebenso an den Gebrauch von Gewalt gewöhnt. Antil bemerkte ein kleines Hautbild, das ausgerechnet auf dem Ohrläppchen saß. »Denn wenn du es warst, steckst du tiefer in der Scheiße, als du dir vorstellen kannst.«

»Ihr habt wenig Glück, Vater«, murmelte der erste Mann, »uns so über den Weg zu laufen. Habt Ihr die Dame in letzter Zeit verärgert?«

 

Lonei mochte das Land jenseits von Hale nicht. Wenn man ihn bat, ein anderes Viertel der Stadt aufzusuchen, folgte er seinen Gelübden gewissenhaft. Er vollbrachte seine Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen, um dann zurück nach Hale zu eilen, wobei sein Herz vor Angst raste, bis er die vertrauten Straßen wieder erreichte. Er war ein Findelkind, und in seinem vierten Jahr im Tempel hatte man ihm seinen Spitznamen gegeben, nicht aus Boshaftigkeit – er war ein liebenswertes Kind, man musste ihn einfach mögen –, sondern als Tatsachenbeschreibung.

Er hatte nie den Eindruck erweckt, dass er den Namen nicht mochte. Er beschrieb einfach, was er war. Ansprüche an das Leben hatte er wenige. Wenn die Götter dem dicken Lonei angeboten hätten, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, so hätte er nicht gewusst, was er sagen sollte.

Er sah Hohepriester Antil nach, der die seltsame blinde Frau am Arm die Straße entlangführte, als es ihm plötzlich so schien, als stünden wichtige Ereignisse bevor. Ein mutigerer Mann wäre dem Hohepriester und seinem Mündel gefolgt, um sicherzustellen, dass sie ihr Ziel wohlbehalten erreichten, aber allein der Gedanke daran war schon genug, um zu erkennen, dass er, der dicke Lonei, dann ganz allein da draußen wäre. Er fürchtete sich vor dem Durcheinander und der Geschäftigkeit Bierbruchs – und schon bei der Vorstellung der rufenden, schiebenden und brüllenden Leute brach ihm der Schweiß aus. Er stellte sich vor, wie er von Dunkelheit umgeben war, in der seine gelbe Priesterrobe hell leuchtete, während sich die schmutzigen Menschenmassen langsam näher schoben und nach dem Blut der Priester lechzten. Nein, das konnte er nicht, aber es gab noch eine andere Möglichkeit – und auf diese stürzte er sich mit der Erleichterung eines Mannes, der sein Gewissen ausgetrickst hatte.

Lonei folgte den Soldatenreihen durch die Straßen von Hale, huschte dabei von Schatten zu Schatten. Die Einwohner, Kleriker und Laienprediger gleichermaßen, flohen vor ihnen wie verschreckte Hasen. Er hörte die befehlsgewohnte Stimme der Sergeanten mit unnützen Anweisungen durch die Abendruhe hallen, um ihre Männer in Reih und Glied zu halten. Sie taten alles, um ihre Anwesenheit in dem eingeschüchterten Viertel bekanntzumachen.

Erst als man die Trupps zum Stillstand brachte, erkannte der dicke Lonei, dass ihr Ziel die schwarze, spitz zulaufende Kuppel des Tempels von Tod war. Aber nicht einmal, als man die Wagen klappernd an die Spitze der Reihen brachte, konnte er erahnen, was sie vorhatten. Er schlich sich näher heran, wobei er darauf achtete, dass andere in der Nähe standen, um bessere Ziele für die Soldaten abzugeben, wenn sie sich umdrehen sollten.

Die Soldaten schwärmten aus, die Waffen waren gezogen. Auf den Ruf eines Sergeanten mit brutalen Gesichtszügen hin machten sich einige Männer, Byoranische Wachen, an die Arbeit. Er war wie eine Rubinturmwache gekleidet, obwohl er ein Femder war und sich nicht nur durch seine dunkle Hautfarbe, sondern auch durch die seltsamen, bis zum Ellbogen reichenden Armschienen absetzte, auf denen immer wieder bläuliches Licht aufzublitzen schien.

Er hörte sorgenvolle Rufe aus dem Tempelinneren, die schnell von denen aufgenommen wurden, die aus sicherer Entfernung zusahen. Flehen, wütende Rufe und das Jammern junger Novizen begleitete die Geschäftigkeit am offenen Eingang zu Tods Tempel, an dem die üblichen drei Torbögen den Weg zum Haupttempel wiesen. Als der große Sergeant auf die oberste Stufe trat und seine Männer anblaffte, sich endlich anzustrengen, erkannte Lonei, dass die Byoranischen Wachen sich Zeit gelassen hatten, sobald sie das Holz von den Wagen geholt hatten. Vielleicht hatten sie die Befehle auch nicht genau verstanden.

Der Sergeant gab jemandem eine Ohrfeige und warf ihn damit zu Boden. Es gab kein Missverständis. Man brachte Werkzeuge und Holz, und im Nu war das erste von Tods offenen Toren verbarrikadiert. Lonei stockte der Atem. Er hatte von einer solchen Blasphemie noch nie zuvor gehört, geschweige denn so etwas gesehen. Die Tore Tods versperren? So etwas konnte er sich nicht einmal vorstellen … Der Priester Shotirs sank auf die Knie: wie eine Marionette, deren Fäden man durchschnitten hatte. Die Umstehenden starrten ungläubig und entsetzt zum Tempel, ebenso davon getroffen wie der dicke Lonei.

»Auf Anweisung der Herzogin«, rief der Sergeant so laut er konnte und wedelte mit einem Papier vor der versammelten Masse, die sich knapp außer Reichweite der Reihe aus Rubinturmwachen hielten, »ist der Tempel des Todes geschlossen, bis die Verräter in den Reihen der Kulte zur Rechenschaft gezogen wurden. Jeder Verstoß gegen diese Verordnung wird mit dem Tod bestraft.«

Das war eine lächerliche Verordnung, die man vermutlich nur mit der Besatzung einer ganzen Garnison würde durchsetzen können. Doch sogar Lonei erkannte ihre Wirksamkeit, denn er fühlte sich, als seien seine Glieder völlig kraftlos. Der Tempel Tods stellte das Herz Hales dar, das Haus des Oberhaupts der Götter – dies war ein Tiefschlag für alle und trieb denen, die es mitansahen, die Luft aus dem Körper. Eine Beleidigung und Verletzung. Tods Haus entweiht, und eine Handvoll Soldaten beschmutzte die Ehre Tods.

Vor Leid kreischend erklomm eine alte Frau, eine Priesterin Tods, die Treppe. Der Sergeant wandte sich ihr zu, bedeutete seinen Truppen aber zurückzubleiben. Mit bleiernen Schritten bahnte sich die Priesterin einen Weg zu dem Sergeanten und stieß dabei zwischen schweren Schluchzern einen Strom an Verwünschungen aus. Der Sergeant lachte und hielt sie mit einer Hand ab, während sie verzweifelt versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Doch ihre Wut war gegenüber seiner Größe und Stärke nutzlos.

Lonei senkte den Kopf und betete zu Tod, dass er diese Demütigung strafen möge. Er sah die Armbrustbolzen nicht auf die Soldaten zufliegen, aber als die Schreie eindringlicher wurden und alle zu fliehen begannen, blickte er auf. Durch die Menge, die sich zerstreute, sah er zwei Byoranische Wachen am Boden liegen. Einer lag still, der andere wand sich und schrie. Lonei schaute sich um und sah einige Männer mit Armbrüsten die Straße entlangfliehen. Die braunen Roben der Ushull-Priester flatterten ihnen um die Beine.

Aus dem Ring der Soldaten erklangen wütende Schreie und einige Soldaten folgten ihnen, wurden dann aber zurückgerufen. Als sie sich umwandten, brach plötzlich ein Mann aus den Reihen hervor, in jeder Hand einen langen Säbel. Die Säume seiner blutrot strahlenden Robe waren mit Bronze besetzt. Er selbst war klein, aber ausgesprochen breit gebaut – und sein Schädel war geschoren. Die wütenden Rufe wurden zu Schreckensschreien, als er einem Mann durch das Gesicht schnitt und sich elegant weiterdrehte, um auf den nächsten einzuschlagen, während er sich in die Soldatenreihen hineinwand.

Lonei schnappte nach Luft. Das war ein Mystiker Karkarns. Der Gott des Krieges hatte immer schon Pönitente angezogen – und einige von ihnen fanden auch einen tieferen Sinn in den Kampfkünsten, die sie erlernt hatten, so dass sie im Gebet und mit fanatischer Hingabe an ihren Fertigkeiten feilten.

Die Soldatenreihen rissen auf, als die langen, glänzenden Schwerter wie Blitze zuckend in die unvorbereiteten Männer schnitten. Der große Sergeant stieß einen wütenden Ruf aus, zog seine eigene Waffe und sprang die Treppe hinab zur Straße. Der Mystiker drehte sich mühelos von einem fallenden Mann weg, um sich der neuen Gefahr mit einem Hagel aus Schlägen zuzuwenden. Doch dem fremden Soldaten gelang es, alle abzuwehren und dem Kleriker kräftig in die Seite zu treten.

Der geschorene Mann taumelte davon, nahm so den Schwung aus einem Treffer, der einen schwächeren Mann von den Füßen gerissen hätte, hatte dann aber doch keine Zeit, sich zu erholen.

Er drehte sich, um einem Speer abzuwehren, der ihn von hinten zu treffen drohte, dann hob er das Bein, um einem Schwerthieb gegen seinen Unterschenkel zu entgehen und rammte dem Angreifer schließlich die Spitze seiner gebogenen Waffe in die Kehle.

Die Ablenkung durch die Soldaten ermöglichte es dem Sergeanten, die Entfernung zu überwinden und dem Priester die rechte Hand mit einem einzigen Schlag abzutrennen. Der Schwung trug ihn weiter, so dass er dem Mystiker den Schwertgriff ins Gesicht schlagen konnte. Er fiel bereits, durch den wuchtigen Schlag gefällt, als der Sergeant ihm das Schwert tief in den Bauch rammte.

Es wurde still. Der Mystiker sank mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Knie, aufgespießt auf das Langschwert. Der Sergeant zog den Griff hoch und riss das Schwert heraus, woraufhin der Gefolgsmann Karkarns den Mund in einem stummen Schrei aufriss. Während der Mystiker zusammenbrach, wandte sich der Sergeant ab und überließ den Mann seinen Todeszuckungen.

Dann wandte er sich mit boshaftem Blick den Schaulustigen zu und brüllte: »Verhaftet sie alle, jeden, den ihr kriegen könnt.«

Im Fackellicht wirkte er wie ein wütender Dämon, das vernarbte Gesicht zu einem grausamen Grinsen verzogen. Lonei wimmerte auf und konnte den Blick nicht von der reglos hingestreckten Gestalt der alten Priesterin auf den Stufen abwenden. Die Soldaten liefen los, um dem Befehl ihres Kommandanten zu gehorchen, aber Lonei blieb wie erstarrt zurück. Er bemerkte die Soldaten nicht, die an ihm vorbeiliefen, auch nicht den zahnlosen Mann, der kurz innehielt, um ihm seinen Speer über den Kopf zu ziehen. Ein Lichtblitz, ein Schmerzensschrei … Lonei versank in der Dunkelheit, in der es nur das Gesicht des Dämonen mit der roten Uniform gab.