19
Ein kalter Wind peitschte gegen seinen Körper, schlug ihm mit eisigen Fingern ins Gesicht. Er lief mit gesenktem Kopf, starrte auf seine sich hebenden und senkenden Füße, die von gequälten Muskeln bewegt wurden. Diese Füße waren nackt, immer nackt, seine Kleidung zerschlissen und eingerissen. Er hielt Eolis in der Hand, das ihn vorwärtszog, auf einen scharfkantigen Berg zu, der fast den ganzen Horizont ausfüllte. Er konnte Schlamm und Feuer im Wind riechen. Ganz anders war das als die Feuersbrunst von Scree, aber doch ähnlich genug, um Entsetzen in ihm zu wecken.
Er blieb stehen und betrachtete die dichten Schatten, die den Boden bedeckten. Im grimmigen, grauen Himmel war keine Sonne zu sehen, dennoch waren die Schatten so schwarz, dass man sie fassen zu können glaubte. Unter seinem Blick fingen sie an, sich zu bewegen und zu winden, und er taumelte einige Schritte weiter. Wohin er auch blickte, überall sah er Bewegungen. Die Schatten zuckten und bäumten sich auf, erhoben sich etwas, um dann wieder zu Boden zu sinken. Er spürte Blicke auf sich und erkannte, dass die Schatten keine Monster waren und auch keine Dämonen, die zum Leben erwachten. Sie waren etwas viel Schlimmeres.
Gesichter aus allen Abschnitten seines Lebens, blutverschmiert und brüllend, Feinde, die er kaum wahrgenommen hatte, bevor er sie tötete, abgeschlachtete Freunde. Sie starrten ihn aus allen Richtungen an. Es war ein Totenfeld. Die von ihm Erschlagenen lagen in großen Haufen neben denen, die auf seine Befehle hin starben.
Er wandte sich um, wollte fliehen, konnte ihre Blicke und Schreie nicht länger ertragen, aber sie waren auch hinter ihm, und mitten unter diesen weiteren Schatten standen fünf Gestalten, die ihn musterten.
»Was wollt ihr?«, stöhnte er und sank auf die Knie. Die Kälte kroch in seine tauben Hände und Füße und stahl ihm noch das letzte bisschen Leben.
»Wir warten«, lautete die Antwort.
Eine der Gestalten trat näher heran und beugte sich vor, um ihm ins Gesicht zu blicken. Die unerbitterlichen grauen Augen ließen ihn vor Schmerzen aufschreien, aber der Laut klang in ihrer Gegenwart dumpf und leise. Ihr Kleid musste einst aus feinem, blassblauem Stoff gewesen sein, aber nun war es zerrissen und zu Lumpen geworden, wie seine eigene Kleidung. Sie hielt einen Strauß verwelkter Blumen locker in der Hand.
»Wir warten darauf, freigegeben zu werden«, flüsterte sie ihm ins Ohr, und jede Silbe klang wie der letzte Atemzug eines Sterbenden. »Wir warten darauf, dass unser Lord deine Seele holt. Hörst du seine Schritte schon? Spürst du, wie sich seine Hunde nähern?«
»Isak«, rief eine Stimme, und jemand rüttelte ihn an der Schulter.
Er zuckte zusammen. Die Hand fühlte sich nach der durchdringenden Kälte seines Traums fürchterlich heiß an. Er blinzelte zu der Gestalt auf, die sich über ihn beugte, und sein Kopf wirkte dumpf und schwer. Xeliath streckte ihm ihre versehrte Hand hin und sah nun deutlich kräftiger aus als bei ihrer Ankunft. Sie war eine Fremde in einem fremden Land, und das hatte sie gezwungen, stärker zu werden: Auch wenn sie verkrüppelt war, blieb sie doch ein Weißauge. Darum war sie dickköpfig genug, diese Herausforderung zu meistern. Für die meisten Farlan war eine Yeetatchen ein Feind, mochte sie auch eingeladen worden sein. Aber nach den Wochen der Erholung freute sich Xeliath vermutlich auf den kommenden Kampf.
»Pass auf, auf wen du das Ding richtest«, knurrte er und musterte den Kristallschädel in ihrer Handfläche finster. Ihre Beziehung war merkwürdig: Sie waren sich beide nicht sicher, wie sie wirklich aussah. Daran änderten auch die gelegentlichen Besuche nichts, die Xeliath noch immer seinen Träumen abstattete. Sie waren unwirklich genug, um sich einem Anschein von Nähe hinzugeben, der ihnen leichtfiel.
Sie antwortete nicht, zog mit ihrer Krücke einen Stuhl heran und setzte sich mit einem zufriedenen Seufzen. Eine Weile musterte Isak das wilde braunhäutige Mädchen, das er aus ihrem Land entführt hatte. Man konnte ihre Figur unter dem dicken Wollkleid nur erahnen, aber ihr Haar – das nun länger war als bei ihrer Ankunft – fiel locker über die Ohren. Es war mit braunen, roten und gelben Bändern geschmückt, außerdem hatte sie ein Amulett von Amavoq, dem Schutzgott ihres Stammes, um den Hals gelegt.
»Heute ist ein Festtag meines Volkes«, erklärte sie, als sie seinen Blick bemerkte. »Darum trage ich alle Farben Jerequans, der ruhenden Dame und … Nun, wir essen wie ein Bär vor dem Winterschlaf.«
»Jerequan ist ein Bär?«
»Ein Aspekt Vrests, ja.« Sie sah ihn eingehend an. »Hast du einen Kater, oder sind es noch immer die schlimmen Träume?«
Isak versuchte sich an einem Lächeln. »Wie wäre es mit ein wenig von beidem?«
»Natürlich, Männer! Die Probleme wegsaufen und den Rest des Landes einfach vergessen.« Sie lehnte sich an und verzog das Gesicht.
Isak wunderte sich darüber, aber dann bemerkte er in seinem Mund einen Geschmack, als sei eine Maus hineingekrochen, während er schlief, und darin verendet. Er richtete sich auf und erinnerte sich erst jetzt, wo er war.
»Wie bist du hier hereingekommen?«, wollte er wissen. Er schlief in dem Raum, in dem er seine erste Nacht im Tirah-Palast verbracht hatte, auf halber Höhe des Turms von Semar, und der hatte keine Treppen. Stattdessen verlief in der Mitte ein Schacht, und ein Zauber am Boden hob Besucher auf magischen Schwingen nach oben.
Xeliath grinste und sah dabei aus wie das Mädchen, das sie war, und nicht wie eine von der Zeit gezeichnete Alte. Die Auswirkungen ihres Schlaganfalls ließen sie viel zu oft so wirken. Sie wies auf das Loch im Boden. »Die Dame Tila half mir mit meinem Haar und erwähnte dabei, dass der Turm schon in der ersten Nacht deinen Befehlen gehorchte.«
»Aber ich bin der Erwählte des Nartis«, wandte Isak ein. »Er soll mir gehorchen.«
»Ha! Was so ein dummer Farlan kann, das kann ich schon lange«, erklärte sie und hob den verdrehten linken Arm. »Der Turm wusste, was gut für ihn ist, und so gehorchte er mir.«
»Mein eigener Turm hat mich verraten?«, murmelte Isak. »Warum überrascht mich das nicht?«
»Das passiert oft nach zu viel Wein. Hast du dich zum Saufen hier versteckt, oder zum Schlafen?«
Er zuckte die Achseln. »Ich hatte wenig Lust, mir eine Standpauke zum Thema Wein anzuhören, schon gar nicht von dir.«
»Ich verhalte mich nie so, wenn ich trinke«, antwortete sie tadelnd.
»Ich weiß«, sagte Isak schmunzelnd. »Ich habe gesehen, wie du dich verhältst! Ich habe dann Angst, mich schlafen zu legen.«
Sie musterte ihn nachdenklich von oben bis unten, und Isak versuchte seine Kleidung zu ordnen, denn sein Hemd hatte sich im Schlaf verdreht. »Es ist besser, wenn ich betrunken bin. Wie dem auch sei, die meisten Männer wären froh, dabei schlafen zu dürfen.«
Isak gab auf. »Ich beschwere mich ja gar nicht. Ich sage nur, ich sollte doch in Ruhe trinken dürfen, wenn ich es wünsche. Dann fühle ich mich besser, und es bringt ja auch keinen um – was offen gesagt mehr ist, als man über alles andere sagen kann, das ich als Lord der Farlan getan habe.«
Er suchte nach dem Weinkrug, aus dem er getrunken hatte und fand ihn neben dem Bett. Es war genug übrig, um den Mund damit auszuspülen und so den Großteil des bitteren Geschmacks loszuwerden, den seine Träume hinterlassen hatten. »Wenn du wissen willst, was mit dem Land geschehen musste, damit eine Geweihte der Dame verrückt werden und einen Obersten Kardinal ermorden kann … Nun, ich verrate es dir: Ich bin es selbst, der … geschehen ist. Ich bin der Fels in der Brandung der Geschichte, der Ursprung all des Scheußlichen, das hier passiert.«
Xeliath schüttelte den Kopf, wobei die Bänder wie Schmetterlingschweife flatterten. »Der Tod der Dame, das war doch nicht deine Schuld. Auch die Wut der Götter nicht. Was du mit den Schnittern angestellt hast, konnte niemand vorhersehen … Ich glaube, dass nicht einmal Azaers Anhänger das geahnt haben, und schließlich haben sie das meiste davon geplant.«
Isak sah auf. »Warum fühle ich mich dann trotzdem schuldig?«
Zu seiner Überraschung lachte an dieser Stelle das Yeetatchen-Weißauge mit dem wilden Blick, aber nicht spöttisch, sondern mitfühlend.
»Weil du ein Mensch bist, du Dummkopf! Was die Götter – oder sonst wer – auch von dir verlangen, deine Menschlichkeit können sie dir nicht nehmen. Die Götter haben dich so geschaffen und wer etwas anderes behauptet, wird sich vor mir rechtfertigen müssen.«
»Es ist nicht wichtig, dass deine Bestimmung möglicherweise nicht erfüllt werden kann«, fügte sie eindringlich und mit zunehmendem Yeetatchen-Akzent hinzu. »Oder bereits erfüllt ist. Daran sind andere schuld, nicht du. Sie haben deine Träume mit Prophezeiungen und Schicksal angefüllt. Sie gaben dir Macht und haben dabei vergessen, dass ein Weißauge trotz allem ein Mensch ist, wie mächtig er als Waffe auch sein mag.«
»Da bin ich nun also – ein Erlöser ohne Anliegen, der seinen Träumen vom Tod nicht einmal im Suff entgehen kann?« Es klang klagender und aufgeblasener, als er vorgehabt hatte, aber Xeliaths Gesichtsausdruck wurde dennoch ernst.
»Wie oft?«
»Die Träume?« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Nicht oft. Selten genug, um mich zu erschrecken, wenn sie kommen. Nicht so selten, dass ich mich noch auf den Schlaf freuen könnte.«
»Hast du den Hund erneut gesehen?«
»Nein, und darüber bin ich auch froh.« Er verzog das Gesicht und rieb es mit den Händen. Der Ring, den er trug, blieb mit einem Kribbeln an der Wange hängen. Er war aus Silber, zeigte sein Drachenwappen und war ein Ersatz für den Ring, den er in Narkang Kommandant Brandts Sohn geschenkt hatte. »Wie spät ist es?«, fragte er, während er sich die Stiefel anzog.
»Kurz nach dem fünften Schlag«, antwortete Xeliath und reichte ihm den gesunden Arm, als er fertig war. Er ergriff ihn, und sie zog sich hoch, damit sie den dunklen Kreis in der Mitte des Raumes gemeinsam beteten konnten. »Gerne gehe ich des Nachts durch den Palast, wenn mich nicht so viele Leute anstarren können.«
»Du gehst allein durch den Palast?«
»Wenn ich Lust dazu habe. Ich genieße Mihns Gesellschaft, und manchmal begleiten mich die Dame Tila oder Graf Vesna, aber ich lasse nicht zu, dass man mich bemuttert.«
»Bist du sicher? Mir wäre es lieber, wenn dir jemand den Rücken freihielte.«
»So langsam bin ich nicht – da braucht es schon mehr als einen grimmigen Soldaten«, sagte sie und fuhr grinsend fort: »Und ich habe im Gegensatz zu dir keine Träume vom Tod.«
Bevor Isak antworten konnte, zuckte ihre verdrehte Hand, und der Flügelsturm umfing sie geisterhaft und beinahe lautlos, verhinderte aber trotzdem jede Unterhaltung, bis er sich legte. Isak blinzelte, damit sich seine Augen an die Dunkelheit des unteren Raumes gewöhnen könnten.
Der Raum war eiskalt, und das einzige Licht stammte von den leicht leuchtenden magischen Sigeln und Zaubern, die auf die Wand geschrieben waren. Es gab zwei unterschiedliche Zauber. Einer hielt den hohen und schlanken Turm auch während der Winterstürme aufrecht und der andere trug Leute nach oben.
Dermeness Chirialt, ein Magier aus der Akademie der Magie, hatte sich Isaks magischer Ausbildung freudig angenommen, obwohl er sich besonders auf die Fertigung von Rüstungen verstand. Der Preis für seine Hilfe war Isaks Unterstützung bei seinen Untersuchungen. Die erste Aufgabe, die er dem jungen Lord gestellt hatte, ging dahin, diese Runen zu übersetzen und die Silben durch seinen Geist fließen zu lassen, bis er ein Verständnis für ihre Form und ihre Macht entwickelte.
Er strich im Vorbeigehen darüber, erinnerte sich an diese Lektionen und fragte Xeliath: »Wo möchtest du hingehen?«
»Gehen?«, fragte sie, während sie durch die Tür zur Großen Halle humpelte. »Heute Nacht will ich reiten.«
»Der Boden ist wieder gefroren. Es ist zu gefährlich.«
Sie trat um ihn herum und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. »Gefährlich? Ich will dir mal was sagen: Weißt du, wie oft ich mich nach dem Tod gesehnt habe, vor dem du dich so versteckst? Monate, in denen ich im Bett lag und mich nicht bewegen konnte, und dann, als mir das endlich gelang, musste ich erkennen, dass ich dennoch ans Bett gefesselt blieb, weil sie dachten, ich sei eine Prophetin!« Je wütender sie wurde, umso deutlicher war auch ihr Akzent.
»Der Schmerz, der Verlust meiner Schönheit und meiner Stärke! Stell dir vor, dein Schicksal wäre mit einem anderen verknüpft, wie die Leine eines Hundes, so verdreht wie dein versehrter Körper. Gefährlich? Du hast Scree mit nur einer Leibwache betreten – war das etwa nicht gefährlich? Ich werde niemals mehr gut reiten können, aber ich werde reiten. Ich riskiere lieber den Tod, als mich von weißen Gesichtern anstarren zu lassen.«
Sie wandte sich wieder der Großen Halle zu und murmelte: »Dies ist die einzige Entscheidung, die ich selbst treffen kann. Alles andere wird von einem Erlöser entschieden, der sich nicht einmal selbst retten kann.«
Isak sah ihr nach und wagte es nicht zu antworten. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, um nichts zu sagen, und so war die nächste Stimme, die durch den Flur hallte, Xeliaths Aufforderung an einen Diener, ihr ein Pferd zu bringen.
»Verdammte Weißaugen, was?«, sagte jemand neben Isak. Er drehte sich herum und sah Carel ein paar Stufen weiter oben auf der breiten Steintreppe stehen, die zu den Gemächern des Hofstaates führte. Sein früherer Mentor trug einen langen grünen Mantel mit weißem Kragen, der zu seiner Stellung als ehemalige Palastwache passte. Sein linker Ärmel war hochgesteckt, seine rechte Hand hielt einen Spazierstock mit Silberknauf. Carel gab vor, dass sein Gleichgewicht beeinträchtigt sei, seit Isak ihm auf dem Schlachtfeld den linken Arm hatte amputieren müssen. Aber der Herzog von Tirah glaubte ihm nicht recht.
Tila hatte seine Vermutung bestätigt, dass nur Männer, die ein Schwert trugen, zu einem Duell herausgefordert werden konnten, und so hatte Carel seinen Säbel Arugin an Oberst Jachen weitergegeben und war damit der Form nach ein im Ruhestand befindlicher Getreuer Lord Isaks. Das alles lief darauf hinaus, dass er so grob zu Adligen sein konnte, wie er wollte. Jede Art von Satisfaktion aufgrund einer Beleidigung müsste dann von Lord Isak gefordert werden. Natürlich würde, wenn Isak seinen Freund richtig einschätzte, jeder unerlaubte Angriff auf Carel dazu führen, dass das frühere Mitglied einer Elite-Wachmannschaft einen Hebel an seinem Gehstock lösen und plötzlich ein Gleichgewicht an den Tag legen würde, wie es nur vierzig Jahre Schwertmeisterschaft mit sich brachten.
»Erinnert dich das an irgendwas, alter Mann?«
»Nein, ganz und gar nicht«, antwortete Carel fröhlich. »Du warst viel schlimmer.«
»Warst?«, fragte Isak verdrossen. »Du hast sie gehört. Jetzt bin ich ein Erlöser, der sich nicht einmal selbst retten kann. Im Augenblick erscheint mir das etwas Schlimmeres zu sein als ein störrisches Kind.«
»Das würde ein störrisches Kind behaupten, aber ich weiß, mit wem von beiden ich lieber eine Pfeife im Mondlicht rauchen möchte.« Carel wies zur Großen Halle, und sie gingen nebeneinander hinein. Die Dienerin, die nun das Feuer anfachte, sah noch immer erschrocken drein – das waren die Nachwehen von Xeliaths Passage. Sie schwelgte noch eine Weile in der Panik, bevor sie sich daran erinnerte, vor Isak zu knicksen. Gleichzeitig standen drei Waldläufer, die an einem Tisch saßen, auf und verbeugten sich.
Sobald sie den vom Mondlicht beschienenen Übungsplatz erreicht hatten, nahm Isak den Tabakbeutel entgegen, den Carel ihm anbot, und stopfte eine Prise Tabak in seine Pfeife. Er entzündete sie und nahm einen tiefen Zug warmen Rauches, um die Pfeife dann weiterzureichen.
»Es schüttelt mich jedes Mal, wenn ich das Wort Erlöser höre.«
Carel nickte, wobei sein Gesicht halb von dem Schatten verdeckt wurde, das sein Haar im silbernen Licht Alterrs warf. »Das wundert mich nicht, immerhin ist es wirklich unangenehm, die Erwartungen zu erfüllen, die an einen solchen Begriff gestellt werden, ganz gleich, wer man ist.«
»Ich habe nicht geahnt, was für ein machtvolles Wort es ist … was für einen Einfluss es auf einige Leute hat.«
»Ach, die Leute sind dumm wie Maultiere, das weißt du doch«, sagte Carel geringschätzig und zeigte zur anderen Seite des Übungsplatzes, wo sich etwas an den Ställen tat. »Und manchmal sind die auch genauso dickköpfig.«
Der Himmel war dunkel. Es war weit nach Mitternacht und sie sahen nur das Mondlicht vor sich, das sich im Frost auf den zahlreichen Spitzdächern des Palastes brach.
»Manchen ist es egal, ob ein Erlöser gebraucht wird oder nicht. Wir sind Sterbliche, ganz egal, von welchem Stamm oder welcher Farbe wir sind.« Der Veteran zuckte die Achseln und stieß Isaks Arm mit seinem Stumpf an. »›Zerbrechliche Sterbliche, schwach und ängstlich‹, heißt es so nicht in den heiligen Schriften des Lord Tod? Das sind wir, mein Junge, zerbrechlich und schwach. Wir führen keine makellosen Leben und tief im Innern weiß jeder von uns, dass wir bessere Menschen sein könnten und bessere Diener der Götter. Wer würde sich da nicht nach einem Erlöser sehnen, der uns als Licht in der Dunkelheit den Weg weisen könnte?«
»Und da wenden sie sich mir zu?« Isak schüttelte ungläubig den Kopf. »Weil die Götter vor Jahren die Rache Aryn Bwrs fürchteten, nur um dann zuzusehen, wie ihre Werkzeuge scheitern? Ich bin kein gutes Vorbild.«
»Ach, das bist du sehr wohl, ob du es willst oder nicht«, sagte Carel bestimmt. Der Mann reichte ihm die Pfeife zurück und klopfte dann mit seinem Gehstock gegen Isaks dicken Oberschenkel. »Was auch immer man mit deinem Schicksal angestellt hat, die anderen haben daraufhin einen Anführer in dir erkannt.«
»Und was ist mit mir?«, wandte Isak ein, ging um den Veteranen herum und senkte den Kopf, damit er dem kleineren Mann in die Augen sehen konnte. »An wen wende ich mich, wenn ich keine Antworten mehr habe? Ich habe im Augenblick nicht die geringste Idee, wie ich damit klarkommen soll, dass ich meinen Tod jeden Tag näher kommen spüre, ganz zu schweigen davon, was für Pläne Azaer verfolgt. Richte ich mich also nach Kastan Styrax, dem vielleicht einzigen Mann im Land, der mehr Ärger verursacht als ich? Der Mann, von dem ich spüre, dass er mich töten wird?«
»Schlag mir gegenüber keinen solchen Ton an«, sagte Carel ernst. »Ich habe nicht behauptet, ich hätte alle Antworten.« Er stieß Isak mit dem Gehstock gegen die Brust und nach einem Moment der Wut trat das Weißauge zurück. »Ich bin eigentlich nur hier draußen, um zu rauchen«, fuhr Carel grinsend fort und schien zufrieden, dass Isak seine Verstimmung herunterschluckte. »Und wer bin ich schon, dass ich voraussage, in welcher Form sich deine Erlösung vollziehen wird?«
Isak zögerte, denn Carels Worte drangen bis in sein Inneres. »Erlösung? Ihr Götter, ist es das, wonach ich suche?«
Plötzlich spürte er die wirbelnden Winde über sich, die Energie und Macht, die durch die Dunkelheit tobte, spürte, wie die kalte Nacht hinter ihm zurückblieb. Ein Instinkt machte sich bemerkbar, und mit einem Schauder wurde auch der letzte Rest Alkohol aus seinem Körper vertrieben. Stattdessen erfüllte ihn ein Gefühl, das er nicht einordnen konnte, beinahe wie ein Machtrinnsal, das darauf wartete, zu Magie geformt zu werden.
»Ich weiß nicht, wonach du suchst«, sagte Carel, der nicht bemerkte, was mit Isak geschah und stattdessen Xeliath dabei zusah, wie sie sich in den Sattel kämpfte und im Trab auf den Übungsplatz ritt, neben sich einen verängstigten Stallburschen.
»Ich denke, über Erlösung solltest du lieber mit Mihn sprechen, auch wenn er in letzter Zeit ebenfalls etwas seltsam wird. Hast du seine Hautbilder gesehen? Ich würde den Mann niemals einen Wilden nennen, egal, woher er stammt, aber mit diesen arkanen Zeichen auf seiner Haut fängt er langsam an, wie einer auszusehen.«
»Sicher gibt es einen Grund dafür«, sagte Isak abgelenkt. Carel schnaubte.
»Es gibt für alles einen Grund, sagen die Priester, aber manchmal muss man trotzdem daran zweifeln.«
Wie wahr, mein Freund, dachte Isak und starrte in den schwarzen Himmel. Und ich zweifle auch. Tod und Erlösung sind seltsame Gefährten in einem Gespräch. Aber wenn die Fäden des Lebens und des Schicksals miteinander verwoben sind, was geschieht dann, wenn ich an einem ziehe? Wenn in meiner Nähe nichts so ist, wie es sein sollte, was würde dann geschehen, wenn ich Tod Auge in Auge gegenübertrete?
»Ich glaube, Mihn weiß mehr, als er uns verrät«, sagte Isak schließlich.
»Wenn das so ist, hat er einen guten Grund dafür, würde ich sagen. Dieser Mann ist so treu wie kein anderer, mach dir seinetwegen mal keine Sorgen.«
»Ich sorge mich um ihn.«
»Ah, nun, das ist dummes Geschwätz. Du bist der Lord der Farlan. Es ist deine Aufgabe, Schwieriges von anderen zu verlangen. Es liegt in Mihns Verantwortung, was er für deine Sache opfern will. Es ist seine Wahl, und eine, die er gerne trifft.«
Isak schwieg einen Augenblick. »Also, was rätst du mir? Ob es dir passt oder nicht, ich suche bei dir nach Antworten.«
»Zieh mich nicht auf«, grollte Carel gereizt.
»Ich schwöre, das tue ich gar nicht.« Isak schlug ihm auf die Schulter. »Mein Lebtag warst du der Einzige, zu dem ich mit Problemen kommen konnte. Ich erwarte nicht die Antwort auf all meine Fragen von dir, aber dein Ratschlag hat mich bis hierher gebracht. Auf jeden Fall wird es guttun, ihn zu hören, und heutzutage kann ich alles brauchen, was mir guttut.«
Carel blickte ihn einen Augenblick lang misstrauisch an, dann zuckte er die Achseln, denn in der Stimme des Jungen, dem er einen Sinn für soldatischen Humor anerzogen hatte, lag kein Spott. »Ich denke nicht, dass ich dir noch etwas Neues beibringen kann, aber du bist ziemlich dumm, darum wiederhole ich die alten Sachen noch mal und wir werden sehen, ob du sie diesmal begreifst.« Er grinste kurz und wandte sich dann wieder der Großen Halle zu, aber nicht schnell genug, um zu verbergen, dass sein Gesicht wieder ernst wurde.
»Ein Soldat darf nicht zulassen, dass sein Leben von Angst bestimmt wird«, sagte Carel. »Die Angst zeigt einem, dass man noch am Leben ist. Ohne Angst ist man schnell mausetot, das verspreche ich dir, aber wenn Angst die Zügel führt, reitet man direkt auf die Elfenbeintore zu.«
Zahlreiche Ängste lauern in meinem Schatten auf mich, dachte Isak. Du hast wohl Recht, ich habe zugelassen, dass meine Angst mich bestimmt hat, und es ist an der Zeit, dies zu ändern.
Isak wandte sich der Wärme der Großen Halle zu und legte Carel einen Arm um die Schulter. »Es ist gut, dich wieder hier zu haben.«
Der alte Soldat kicherte, während sie sich auf den Rückweg machten. »Das glaube ich wohl. Du kaufst dir schließlich niemals eigenen Tabak. Gib mir wenigstens die verdammte Pfeife wieder, du Riesennarr.«
Vesna hörte das leise Klopfen an seiner Zimmertür nicht. Er saß zusammengesunken auf einem Stuhl vor dem Feuer und hatte seine verbundene Kopfwunde vergessen, die beständig pochte. Er sah nur den blutroten Edelstein, den er zwischen den Fingern drehte, die glatte Oberfläche und die Facetten betastete und das Licht beobachtete, das sich in dem Stein fing. Einen schöneren Stein hatte er noch nie gesehen, aber trotz seiner Pracht hatte er unglaubliche Angst vor ihm. Seit Tagen verbrachte er Stunden damit, hier zu sitzen, nachdem alle anderen sich zurückgezogen hatten, und den Stein zu betrachten. Fragen füllten seinen Kopf, aber jede Antwort glitt an den glasglatten Facetten ab und verging.
Es wurde erneut geklopft, diesmal lauter. Vesna erschrak und setzte sich mit rasendem Herzschlag auf, blickte sich verwirrt im Raum um, bemerkte dann aber, dass jemand an der Tür war. Er stand schwerfällig auf und steckte den Stein in die Tasche, bevor er den Besucher hereinbat.
Es war Tila. Sie trug das Haar offen, wirkte besorgt und hatte sich eine dicke Decke umgelegt.
»Oh, entschuldige«, sagte er. »Es ist schon spät, nicht wahr?«
Tila nickte. Er sah mit dem Verband und den dicken Rändern, die der Schlafmangel unter seine Augen gezeichnet hatte, vermutlich nicht sonderlich attraktiv aus.
»Ich hatte gehofft, du seiest nur eingeschlafen«, sagte sie, »aber dann habe ich Licht im Türspalt gesehen.«
Vesna ging zu ihr und nahm sie in den Arm. Er drückte sie an sich und küsste sie auf den Scheitel. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte dir eigentlich noch gute Nacht sagen, habe aber nicht bemerkt, wie spät es geworden ist. Ich kann im Augenblick nicht klar denken … dieser verdammte Schnitt.« Sogar in Scree hatte Vesna Tila stets an ihrer Schlafzimmertür eine gute Nacht gewünscht, und auch nachdem sie in Isaks Räumlichkeiten gezogen war, um Xeliath Gesellschaft zu leisten und zu helfen, hatte er mit dieser Tradition nicht gebrochen.
»Tut es noch weh?«, fragte sie besorgt. »Sollen wir den Heiler noch einmal rufen lassen?«
»Nein, nein«, sagte Vesna und verwarf die Sache mit einer Geste. »Die Naht braucht einfach etwas Zeit, um zu verheilen.«
»Was ist es dann?«, hakte sie nach. »Du hast dir auch früher schon Verwundungen zugezogen. Haben sie damals auch immer dafür gesorgt, dass du dich so seltsam verhältst?«
»Ich …« Vesna versagte die Stimme, als er den Ausdruck im Gesicht seiner Verlobten sah, und er gab zu: »Nein, das ist nicht normal.«
»Dann sag mir, was los ist.« Tila schob ihn zum Stuhl und kniete sich neben ihn, wobei sie seine Hände umfasste.
»Wir heiraten in einigen Wochen. Ist es das? Bekommst du einfach kalte Füße?«
Vesna sah in ihren Augen, dass sie das selbst nicht glaubte, und darum versuchte er auch gar nicht erst zuzustimmen. Er seufzte und erkannte, dass die Zeit gekommen war. »Nein, das ist es nicht, glaube mir. Ich kann es kaum noch erwarten.« Er drückte ihre Hand.
»Nun?«
»In der Nacht des Überfalls«, setzte er an, hielt dann aber kurz inne. »Tila, in dieser Nacht ist etwas geschehen, das ich dir nicht erzählt habe.«
»Wolltest du dir in diesem Bordell da etwa noch mehr genehmigen als nur einen Trunk?«, fragte sie und versuchte zu lächeln.
»Ihr Götter, nein!«, rief er und zog eine Grimasse. »Ich wünschte, es wäre so einfach. Nein, ich meine während des Überfalls. Danach ist etwas geschehen, über das ich seit Tagen nachdenke. Ich versuche herauszufinden, was ich tun soll.«
»Dann erzähl mir davon. Nichts kann etwas zwischen uns ändern.« Sie bemerkte, dass Vesna bei diesen Worten das Gesicht verzog und fuhr streng fort: »Evanelial Vesna, hältst du mich denn für dumm? Du warst zwanzig Jahre lang Berufssoldat, und ich weiß sehr gut, was das von einem verlangt, was es mit einem anstellt. Außerdem weiß ich, dass du Aufträge für Lesarl ausgef…«
»Was?«, platzte Vesna heraus. »Er hat dir davon erzählt?«
»Sozusagen. Jetzt schau nicht so erschrocken, ich arbeite täglich mit dem Mann zusammen und habe gut darüber nachgedacht, ob ich dich heiraten will. Dachtest du, ich hätte nur wochenlang gegrübelt, wie ich mein Haar tragen will?« Ihre Stimme wurde sanfter. »Mein Vater fragte mich, was für eine Mitgift ich wolle – und ich musste nicht lange suchen, bis ich mir ein Bild von den Schulden gemacht hatte, die dir dein Vater hinterlassen hat. Es war unmöglich, dass du die Zinsen dieser Schulden und die Akademie der Magie für deine Rüstung bezahlen konntest.«
»Hast du meine Akte gelesen? Soll ich dir davon berichten?«
Tila strich ihm mit der Hand über die Wange. »Nein, Liebling, ich kenne dich doch. Ich weiß bereits, was du für den Stamm zu tun bereit bist. Ich muss nicht fragen. Du magst ja einen schlechten Ruf haben, aber niemand hat jemals behauptet, dass du aus Gier nach Ruhm oder sogar gerne tötest. Es steht mir auch nicht zu, infrage zu stellen, was du früher zum Wohl des Stammes getan hast.«
Vesna war verwundert, wie leicht sie die Angelegenheit abtat. »Bist du sicher?« Er erinnerte sich nur zu gut an Tilas Gesichtsausdruck, als Isak leichthin verkündet hatte, dass er am vorhergehenden Abend einen Mann getötet hatte. »Das hörte sich nach dem Tod Graf Vilans aber ganz anders an.«
»Vilan? Ich habe nie behauptet, ich würde Mord gutheißen, und ich glaube auch nicht, dass du jemals so darüber sprechen würdest, wie Lord Isak es damals tat.« Sie erschauderte. »Dieser kaltherzige Wesenszug trifft mich dann und wann immer noch überraschend, aber ich habe ihm vergeben, so wie ich dir deinen Ruf vergeben habe. Glaubst du, es hätte mich beeindruckt, als Lesarl absichtlich eine Nachricht des Schlüsselmeisters der heraldischen Bibliothek so liegen ließ, dass ich sie finden musste? Jene Nachricht besagte, dass Lord Bahl unsere Hochzeit gutheißen würde, wenn es denn … dazu käme.«
»Der Schlüsselmeister der heraldischen Bibliothek?«, fragte sich Vesna laut. Es verwirrte ihn noch mehr, dass sich Tilas Ausdruck nun verfinsterte.
»Der Hüter der Stammbäume«, sagte sie kühl. »Offensichtlich war Lesarl nicht nur bei Sir Arole Pir der Meinung, man müsse die wahre Herkunft ermitteln.«
Vesna setzte an, etwas zu sagen, aber Tila hob mit wütendem Gesicht den Finger. »Vertrau mir. Du willst dieses Gespräch nicht weiterführen, denn es würde nicht gut für dich enden. Sei nur froh, dass die Hochzeit trotzdem stattfinden wird.«
Er nickte stumm. Der Schnitt an seinem Kopf schmerzte plötzlich nicht mehr, sondern wurde von der bösen Vorahnung in seinem Bauch verdrängt.
»Jetzt erzähl mir von der Nacht des Angriffs«, sagte Tila, lehnte sich auf die Stuhllehne und sah ihn eindringlich an.
Vesna konnte ihrem Blick nicht lange standhalten und beschloss, es nicht noch hinauszuzögern. Er berichtete ihr von den letzten Augenblicken des Kampfes und dem Gespräch mit dem Gott des Krieges.
Als er geendet hatte, schwieg Tila. Er wagte es, sie anzusehen, konnte in ihren Zügen aber keine Regung ablesen. Sie starrte ins Feuer und verarbeitete die Folgen, die seine Worte andeuteten.
»Das musstet du mir also vor der Hochzeit erzählen. Dir wurde vom Gott des Krieges die Unsterblichkeit angeboten. Ich verstehe dein Problem.« Ihre Stimme war kühl, sachlich.
Die Worte hingen in der Luft und Vesnas böse Vorahnung wuchs sich noch weiter aus. Sein Mund war mit einem Mal ganz trocken.
Abrupt stand sie auf und sah ihn an. »Mein Liebling, du bist ein schrecklicher Dummkopf.«
Dem Grafen fiel die Kinnlade herunter. Das war nicht die Antwort, mit der er gerechnet hatte.
»Ich verstehe nun, was du dir gedacht haben musst: Es sind schwierige Zeiten, mein Lord braucht einen General, auf den er sich verlassen kann. Ich kann meine Zweifel nicht abschütteln. Welchen Wert hatten denn die langen Jahre des Kämpfens? Habe ich etwas bewirkt? Hier bin ich, ein verängstigter Mann, der seine besten Jahre hinter sich hat, und habe nichts vorzuweisen als einen schlechten Ruf. Könnte dies meine Gelegenheit sein, etwas Lohnendes zu tun, mir zu beweisen, dass ich mein Leben und mein Talent nicht verschwendet habe? Kann mir dies die Stärke geben, die ich verloren wähne, mir die Unschuld wiederbringen, die auf einem der hundert Schlachtfelder starb?«
Vesna saß wie erstarrt auf seinem Stuhl und konnte sich nicht bewegen, während der Jäger zum Gejagten wurde. Seine eigenen Gedanken laut ausgesprochen zu hören, untergrub seinen Entschluss völlig. Und so konnte er nur hilflos lauschen, wie Tila fortfuhr, noch immer in Miene und Stimme undeutbar.
»Und damit zum wirklichen Problem, das dir seit Tagen im Kopf herumgeht: Wie kann ich das Angebot eines Gottes ablehnen, wenn es alles enthält, nach dem ich mich immer schon gesehnt habe? Aber wie könnte ich denn dann Tila noch heiraten?« Sie kam näher und Vesna wich im Sitzen unwillkürlich ein wenig zurück, als er ihren wachsenden Ärger spürte.
»Nun, mein Geliebter«, sagte sie grimmig. »wie unser großer und im Augenblick sturzbetrunkener Lord sagen würde: Ist mir ganz egal, du hast gar keine Wahl.« Sie atmete tief durch, als wolle sie Vesna herausfordern, sie zu unterbrechen, bevor sie fertig war.
»Verstehst du? Du hast keine Wahl. Versuch gar nicht erst, deine Argumente vorzubringen, denn ich würde sie dir ohnehin nur um die Ohren hauen. Vergiss all die idiotischen Ideen von Ehre und Selbstaufopferung, die dir im Kopf herumgehen und dafür sorgen, dass du so etwas auch nur vorschlägst. Und ihr gnädigen Götter, wenn du das leugnen willst, so kratze ich dir die Augen aus, weil du nicht einmal ansatzweise der Mann bist, für den ich dich halte.«
Ihre Stimme zitterte kurz, während Tila Tränen zurückhielt, doch dann fuhr sie fort: »Ihr verdammten Soldaten, ihr seid doch allesamt strohdumm, also versuch gar nicht erst, mir zu widersprechen. Es ist doch dein Beruf zu gehorchen, und so wird es auch weiterhin sein. Glaubst du denn wirklich, ich würde mich einfach ergeben? Knicksen – und verschwinden?«
»Dein Gesichtsausdruck beweist, dass man dir das Denken nicht überlassen kann, also sage ich dir, was wir tun werden: Wir werden also wie geplant heiraten – und danach erlaube ich dir, im Laufe der nächsten Jahre ab und zu selbst zu denken. Aber solange du mir nicht bewiesen hast, dass du nicht der torfköpfige Schwachkopf bist, als der du dich heute präsentierst, wirst du das nur mit meiner Erlaubnis tun.
Und dabei hast du übrigens auch nicht mitzureden. Ich liebe dich, und ich weiß, dass auch du mich liebst, es gibt also überhaupt nichts zu besprechen. Ich werde dich heiraten, um dich vor deiner eigenen Dummheit zu retten. Ob du Karkarns Angebot annehmen wirst, werden wir später besprechen, aber egal, ob sterblicher Aspekt, Unsterblicher, oder was auch immer du werden magst, du wirst dabei auf jeden Fall verheiratet sein.
Und wenn du glauben solltest, dass ich dich nicht dazu zwingen kann, mich zu heiraten, dann wart es nur ab, denn dann wirst du einmal erleben, wie ein Feldzug wirklich aussieht. Ich würde dir das Leben auf eine Art und Weise zur Hölle machen, an die du im Traum nicht gedacht hast. Und je länger du dich wehrst, umso mehr Verbündete werde ich hinzuholen, angefangen mit Isak, dann dem Haushofmeister, Xeliath, der Hexe von Llehden bis hin zur gesamten Palastwache, wenn es nötig sein sollte. Ich werde dich in die Zange nehmen, bis du allein und weinend um Gnade flehst. Also, sei artig und tu, was man dir sagt.«
Tila atmete tief durch.
Vesna wollte es ihr nachtun, aber er war immer noch wie gelähmt. Da trat sie plötzlich vor und küsste ihn auf die Stirn, um sich danach abzuwenden und zur Tür zu gehen. Sie öffnete sie und rief ihm über die Schulter zu: »Jetzt schlaf aber und denk darüber nach, was du fast getan hättest.«