Die finale Auto-Session

Die Mau steht wie jeden Donnerstag dort, wo früher immer das »Peine, hier Peine!« war. »Peine, hier Peine!«, das war die stereotype Bahnhofsansage, wenn ein Zug hielt. Die habe ich gerne papageienartig nachgesprochen. Als wir schließlich den Weg zum Haus rauffahren, die Via Silencia, und der blaue »Bus«, unser Auto, mit uns in der Garage steht, starre ich auf die Autokennzeichen vor uns an der Wand:

H – AK 1747

GG – KB 960

PE – OQ 37

»Mau, bitte bleib sitzen, wir müssen heute nach langer Zeit mal wieder eine Auto-Session machen!«

»Auto-Session? Das hatten wir aber schon lange nicht mehr! Was ist los?«

»Ich bin T-T-T!« Dann regnet es aus meinen Augen.

»Was ist passiert? Gab es Ärger in der Firma?«

»Nein, da ist alles okay, soweit ich dies erkennen kann – soweit ich dies erkennen kann – soweit ich dies erkennen kann!«, papageie ich, denn nun weiß ich ja – vorher spürte ich nur, jetzt weiß ich ja –, dass ich tatsächlich genau damit auch ein echtes Problem habe.

»Was ist es dann? Hat es was mit mir zu tun?«

»Nein, ganz alleine mit mir! Ich – ich habe vorgestern den – den – den –«

»Wassss deeeeeehhhn?«

»Den

SCHLUSS-STEIN

gefunden, den Stein, der alles erklärt, was mit mir los ist.«

»Wovon redest du? Was für einen Schlussstein?«

»Hast du mich wirklich lieb? Kannst du so einen Außerirdischen wie mich wirklich lieben?«

»Ja, aber sicher, du hast zwar Fehler, aber wer hat die nicht? Also hat es doch was mit mir zu tun?«

»Nein! Ganz allein mit mir. Mit dir nur insofern, dass ich mich frage, wie du dich für mich entscheiden konntest, nach allem was ich vorgestern, gestern und heute über mich im Internet gelesen habe!«

»Im Internet hat jemand was über dich geschrieben? Wer?«

»Nicht über mich persönlich, aber über das, was ich bin!«

»Was bist du denn?«

Stille im Auto. Ich starre vor mich hin. Nach etlichen Minuten knackt die Autotür der Mau, sie will wohl aussteigen, als ich fortsetze:

»Mögen die Kinder, die RaRas, der Raphael und die Ramona, mich wirklich?«

»Ja, bestimmt!«

»Aber die haben es auch schon gemerkt, der Papa ist aber komisch, das haben die schon soooo oft gesagt. Wer weiß, wie oft die das sagen, wenn ich es gar nicht mitkriege!«

»Na ja, dein Verhalten ist auch etwas merkwürdig. Aber früher, da war das doch noch viel schlimmer!«

»Hast du schon mal das Wort Asperger gehört?«

»Nein, was soll DAS denn sein?«

»Da gab es einen Film, in dem ein Junge vorkam, der das haben sollte. Und dabei war der einfach nur genauso wie ich. Die Geschichte war ein Krimi, der mich eigentlich überhaupt nicht interessierte. Wenn ich euch jetzt umbringen würde, dann käme ich nicht mal ins Gefängnis, sondern in eine Psychiatrie! Es begann alles mit einer chemischen Versuchsapparatur.«

»Wovon redest du da?«

Stille. Ich kann nichts mehr sagen. Denn ich merke gerade mal wieder, dass ich es einfach nicht schaffe, das, was zu sagen ist, rüberzubringen. Die Mauer, diese unsichtbare Mauer verhindert es. Ich bringe nur stotternd heraus:

»Das – das bin – ICH!«

»Das musst du mir erklären!«

»Das geht so einfach nicht, wenn du dieses Wort Asperger auch nicht kennst! Ich kannte das ja auch nicht.«

»Dann lass uns endlich reingehen, okay?«

»Nein, noch nicht!«

Ich starre wieder auf die Autonummern in der Garage. Ich sehe die autovolle Autobahn bei Wendhausen, den klengschrankenden Bahnübergang am Bahnhof in Peine, wo die Autos rauf rein in die Stadt und runter raus aus der Stadt woppten, wo ich einmal vergebens auf die bonbonbeladenen Rosenmontagszüge wartete, das Schloss in Groß Ilsede, wo die Züge rangierten, die rosabraunen Rohre auf den Hausbaustellen, die ganzen Schilder und vor allem die Straßen, Straßen und Straßen der Welt. Herrlich juchzig!

»Peter, was ist denn los?«

»Nach allem, was ich da so gelesen habe, bin ich ein Autist!«

»Wie kommst du denn da drauf?«

Wie soll ich ihr das denn jetzt in aller Kürze erklären? Meine Stimme friert ein. Ich schweige. Es herrscht Stille. Stille in der Garage!

Nach einigen Minuten gelingt es mir, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen.

»Ich versuche, es dir drinnen weiter zu erklären, okay?«

»Ja, lass uns endlich mal reingehen!«

Drinnen lege ich der Mau die ganzen Zettel auf den Tisch, die ich ausgedruckt habe, direkt aus dem Internet, die meine Selbsterkenntnis belegen. Die ganzen Texte, die zeigen, dass ich offenbar eine angeborene, unheilbare, tiefgreifende Entwicklungsstörung habe, die Autismus genannt wird und sich in den drei Bereichen Sozialverhalten, Kommunikation und Wahrnehmung auswirkt.

Zunächst ist sie ungläubig, aber bei genauerem Hinsehen erkenntnist auch sie: »Ja, wenn man das, was du bist, so nennt, ja, dann ist das wohl so!«

Ich gehe vom Wohnzimmer ins Arbeitszimmer. Dort fahre ich in Gedanken versunken meine gesamte Lebensstraße noch einmal ab. Dann kommt mir die geniale Idee, doch einfach mal zur Oma rüberzugehen, um dort mein altes Zimmer unter dem neuen Licht der Erkenntnis zu betrachten, in dem mein Leben nun steht.

So begebe ich mich mit der traumatischen Autismus-Entdeckung in mein altes Jugendzimmer. Dort ist die Zeit noch immer nahezu stehen geblieben. Fast alles liegt noch genauso an seinem Platz, wie ich es im Sommer 1985 verlassen hatte. Nur die grüne Kringeltapete wurde durch eine helldezente Raufasertapete abgelöst. An der Wand hängt noch immer das große Poster, das mich mit meinem roten Adidas-T-Shirt und meiner engen körperbetont abgetragenen Levis-Jeans zeigt. Die Locken hat es wohl immer wieder gerne betrachtet. Deswegen blieb es hängen. Ich war und blieb all die Jahre ihr ganz persönlicher Popstar, auf den sie so stolz war, ihr »Goldfasan«, wie sie mich oft liebevoll nannte. Sogar der letzte Schulstundenplan hängt noch am Schrank. Der Kalender gefror am 29. Juni 1985, jenem rostbraunroten Tag, an dem ich letztmalig das Hauptportal des Gymnasiums Groß Ilsede als Schüler durchschritt.

In den Schränken finde ich alles, was ich soooooo gut gebrauchen kann, um meine ganze Lebenszeit noch einmal abspulen zu lassen – im Licht der Autismus-Erleuchtung. Es ist einfach alles noch da, was ich jemals so produziert oder zu Papier gebracht habe. Sämtliche Schulhefte, alle Bilder, die ich jemals gemalt habe, sauber mit dem Datum oder zumindest dem Jahr oder der Klasse auf der Rückseite versehen. Am Bettkasten prangt, wenn auch leicht verblichen, noch immer die Landkarte der »States of Japetus« in den Grenzen von 1984, jenem Land, das ich damals definierte. Als Abgesandter eines fernen Planeten, der hier auf der Erde so die Grenzen seiner Kolonie einer erdfernen Welt erklärte.

Am Regal hängt auch noch immer die zugehörige rotblaue, mittelsaturnige Flagge meiner fernen Planetenheimat von damals. Mann, welchen Wert all diese Dinge auf einmal bekommen. Immer wieder waren sie bedroht, weggeworfen zu werden. Immer wieder hieß es von der Locken: »Wir müssen dein altes Zimmer endlich mal entrümpeln.«

Ich bin soooooo dankbar, dass dies bislang niemals geschehen ist! So viele Erinnerungen, Gedanken, alte Tagebücher. Hunderte von Zetteln, vielleicht sogar mehr als tausend, ich habe sie nicht gezählt, auf denen ich meine Welt seit dem Ende der sechziger Jahre, also seit frühester Kindheit, verewigte. Der »Philos«! Alte Kassetten, Bänder, auf die ich gesprochen und gesungen hatte, alles noch da. Genau so, wie es in Lehrbüchern über Autismus steht. Ich bin wieder fassungslos. So klar sichtbar – und doch sah es 41 Jahre lang niemand.

So finde ich auch alte Kassetten des braunen Brummelbären, die ich früher immer wiederholend meditativ gehört hatte. Ich höre nun diese Lieder, es ist wie eine Zeitreise, zurück und wieder vor, und zurück und wieder vor, wie in einer Zeitschaukel. Längst verschollene Erlebnisse werden wieder so lebendig, als wenn alles gerade erst passiert. Was für einen Fundus, den ich hier als 41-Jähriger finde, um auch längst verschüttete Erinnerungen noch einmal aktiv wachzurufen!

Immer wieder erleide ich beim Betrachten des Materials Weinkrämpfe. Es regnet nicht nur im Gesicht. Es prasselt, denn alles passt. Einfach alles! Autismus hier – Autismus da – Autismus überall. Ich kann es einfach nicht fassen.

Und dann muss ich an Frau Vogt denken, als sie mal sagte, die Liebe sei ein scheuer Vogel, der den Schlüssel meines Gefängnisses um seinen Hals trage. Ich hatte durch die Liebe den Weg aus dem autistischen Gefängnis gefunden.

Schließlich fällt mir auch wieder das kleine türkisgrün diagonal gestreifte Poesiealbum in die Hände, das schon in der Schulzeit für später einmal farblich und lyrisch viel Hoffnung verkünden sollte.

Beim Blättern halte ich inne bei einem Eintrag, den eine Mitschülerin bereits am 17.12.1978 schrieb. Sie brachte bereits damals den in ferner Zukunft liegenden, aber aufgrund meines Wesens wohl vorhersehbaren Moment der Erleuchtung auf den Punkt:

»Man sieht oft etwas hundertmal,

tausendmal,

ehe man es zum allerersten Mal

wirklich sieht.

CHRISTIAN MORGENSTERN«

Kaktus zum Valentinstag
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