Goldene Reifen zum ersten Ringtag
Zu Hause sprießt die Vegetation. So schnell, als habe sich der Frühling extra für uns bereits in einen vorgezogenen Sommer verwandelt. So bin ich dabei, mit meinem Gnubbelchen herrliche vierdimensionale Bilder zu malen. Das sind für mich eingerahmte Erlebnisse.
So machen wir bei schönem Wetter am 1. Mai eine Fahrradtour durch den Wald, um die frisch hellgrün geblätterten Buchen im weißen, herrlichen Buschwindröschenteppich zu bestaunen. Einige Tage später, am nächsten Wochenende, besuchen wir mal wieder meine Papamamas, um auch dort den Frühling zu genießen.
Dort sagt Martina dann auf einmal zu mir: »Mir ist das jetzt gerade wieder aufgefallen. Aber es ist eigentlich jedes Mal so, wenn wir zusammen hier sind. Dann bist du immer so wie ein kleiner Junge, überhaupt nicht mehr der, den ich mal kennen gelernt habe. Kannst du mir das bitte mal erklären?«
»Ich fühle mich so, als sei ich erst neunzehn! Das dringt offenbar hier zu Hause auch nach draußen durch. Aber bitte frag mich jetzt nicht nach dem Warum des Warums. Denn das weiß ich selber auch nicht. Sei doch froh, dann bin ich doch viel jünger, als ich laut Kalender bin, das hat doch auch was, oder nicht?«
»Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Aber komisch finde ich das schon!«
Ja, da ist was Wahres dran. Ich war viel früher erwachsen als die anderen, hatte als Kind eher die Interessen von Erwachsenen, und jetzt bin ich irgendwie jung geblieben.
Als Kind wusste ich schon fast genauso viel über Geologie und Astronomie wie heute, da sind kaum neue Erkenntnisse hinzugekommen. Und in den Urlaub bin ich statt mit Gleichaltrigen mit den Lehrerinnen des Schulzentrums gefahren, weil die besser zu mir gepasst haben. Auch wenn das mal wieder etwas war, was viele Menschen an mir merkwürdig fanden.
Wir nutzen die Gelegenheit, um von Gadenstedt auch nach Clausthal in meinen ehemaligen Studienort zu fahren. Denn dort findet ein Tanzturnier statt, an dem auch Paare aus dem Tanzkreis der Uni Kiel teilnehmen, in dem wir auch mittanzen. Leider sind unsere Tanzkünste noch nicht professionell genug, um selber mit an den Start gehen zu können.
So feuern wir die Paare aus Kiel an. Außerdem ergeben sich auch für uns mehr als genug Gelegenheiten zu tanzen. Noch nie zuvor haben wir so gut und so viel zusammen getanzt. Und das hat gleich zwei Gründe. Natürlich sorgt die Tanzturnieratmosphäre für entsprechende Vorbilder und Rückenwind.
Aber es gibt noch einen anderen Grund: die Location! Ja, die Location. Denn es war genau hier, wo vor mittlerweile mehr als zwei Jahren meine latente Sehnsucht nach Romantik und Liebe erwachte. Hier betrieb ich den Tanzsport, um zu lernen, wann es dreiviertelt und wann es vierviertelt. Hier sammelte ich alle möglichen Tanzfiguren und Tanzfolgen ein.
Genau hier war es, wo ich jeden Dienstag und jeden Donnerstag mit Gesa tanzte. Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Raum jemals im Leben wiedersehe, geschweige denn, hier sogar einmal mit meiner eigenen Freundin tanzen kann. Unfassbar. Wahrlich unfassbar! Ein Highlight ohnegleichen!
Und so ein Highlight verdient als vierdimensionales Bild einen würdigen Rahmen. So wiederholen wir nach unserer Heimreise die Radtour durch den frühlingsfrisch duftenden Buchenwald mit dem riesigen weißen Buschwindröschenteppich. Die beiden Buschwindröschentouren durch den frischgrünen Buchenwald bilden nun den würdigen Rahmen für das Tanzerlebnisbild.
Einige Tage später sagt mir Martina völlig überraschend, dass wir in die Wohnung einziehen könnten, die derzeitig noch ihr Bruder bewohnt. Und zwar schon am 1. Juni. Das wäre dann wenige Tage vor meiner geplanten Abfahrt zu der mehrmonatigen Forschungsreise in den Pazifik. Was für eine Wende in der leidigen Wohnungsdiskussion!
Der sommerliche Frühling beschleunigt auch die Entwicklung unserer Liebe. Einerseits bin ich beeindruckt vom Verlauf der Vulkantour und beflügelt von den ganzen herrlichen gemeinsamen Erlebnissen in den letzten Wochen. Andererseits habe ich Respekt vor dem allerersten Sex. Ich weiß einfach nicht, wie und wann ich das anstellen soll.
Vierzig Mal wollten wir uns täglich küssen. Würde dies tatsächlich nach wie vor gelten, hätte ich mittlerweile einen riesigen Berg Schulden an Küssen aufgehäuft. Körperliche Nähe und Wärme spüre ich vor allem beim Streicheln auf dem Sofa, beim Hand-in-Hand-Gehen, aber eben noch nicht beim Sex. Der Weg zu diesem Ziel führt an einem Meilenstein vorbei, den die Menschen Verlobung nennen!
Am 11. Mai, einem hellvioletten Tag, sind wir beide zusammen bei Dänisch-Nienhof an der Ostsee unterwegs. Wir wandern am Strand entlang der Küste. Als die Sonne langsam Richtung Horizont sinkt, entdecke ich eine Bank, auf der wir uns zusammen niederlassen, um den Tag ausklingen zu lassen. Unser Blick geht quer über die Eckernförder Bucht bis weit hinein ans jenseitige Ufer.
So sehe ich angesichts der tollen Stimmung der Sonne den Moment gekommen, den Weg zu nehmen, der an dem Meilenstein »Verlobung« auch tatsächlich vorbeiführen wird. Daher stelle ich meinem Gnubbelchen die alles entscheidende Frage:
»Willst du meine Verlobte werden?«
Ich weiß nicht, ob die Zeit für eine bejahende Antwort wirklich schon reif ist, aber ich weiß eines: Es wird eine lange Zeit der Trennung kommen, und ich will jetzt und hier wissen, ob nach der Forschungsfahrt jemand auf mich wartet oder ob sich alles nur als eine phantastische Fata Morgana herausstellen könnte. Da muss jetzt mehr sein als mit Cordula, sogar viel mehr!
Doch alle meine Befürchtungen sind sofort zerstreut, denn ihre schlichte wie knappe Antwort kommt prompt. Streichelnd und küssend haucht sie mir das »Ja!« entgegen, das mich im Land der Liebe langsam ankommen lässt.
Natürlich ist das jetzt hier noch keine offizielle Verlobung, aber die Absichtserklärung, den Weg dahin nun zu nehmen. Da ich mein Leben als Film mit mir als Hauptdarsteller und Regisseur in Personalunion begreife, lasse ich es mir nicht nehmen, für eine offizielle, beringte Verlobung einen Termin zu wählen, der möglichst wahrscheinlich gutes Wetter erwarten lässt. Dazu studiere ich als Erstes die Statistik der alljährlich wiederkehrenden Wetterlagen für Mitteleuropa. Darin findet sich, bestätigt und abgesichert durch eigene Erfahrungen und Erinnerungen, dass vor allem die letzten Tage im Mai oft sehr schönes, stabiles Sonnenwetter erwarten lassen.
Außerdem spielen die Datumszahlen eine große Rolle. Sie müssen unbedingt warm und weich sein. Nur Zahlen mit solchen Eigenschaften passen zu einer Verlobung. Meine Datumswahl fällt schließlich auf den 28.5. Wegen seiner Mischung aus 2, 8 und 5 ist das ein nach außen glänzendes, knallviolettes Datum, mit der warmgrünen Vier und der weichen terrakottagelben Sieben im Innern, nämlich 4 mal 7. Das bringt sicherlich Glück!
Der Termin steht. Zeit, meine Papamamas und irgendwann auch Martinas Mutter über diesen Entschluss, uns demnächst ringzeremoniell und damit offiziell zu verloben, zu informieren. Ob die nun begeistert oder skeptisch sind, weiß ich nicht. Wirklich informative Kommentare gibt es keine, so dass ich von einem Einverständnis und Wohlwollen ausgehe.
Schon wenige Tage später treffen wir uns bei einem Gettorfer Juwelier, um uns unsere Ringe auszusuchen. Denn die Verlobung soll unser erster Ringtag werden. Eine Hochzeit auf Probe sozusagen, mit dem Datum der Verlobung im Ring. Und wenn wir dann tatsächlich heiraten, würde das der zweite Ringtag werden, das zweite Ringdatum.
Beim Juwelier sind wir uns schnell ringeinig. Das ist wunderbar. Wenn wir uns über das Design oder den Preis der Ringe hätten streiten müssen, wäre das bestimmt kein gutes Zeichen gewesen. Unsere Wahl fällt schließlich auf ein Ringpaar, das ein Muster aus vielen kleinen Strichen trägt. Es erinnert an das Profil eines Autoreifens. Daher begreifen wir die Ringe als goldene Bereifung für den folgenden gemeinsamen Lebensweg, den wir fortan fahren wollen. Mögen die goldenen Reifen unserer Liebe viele Meilen Glück bringen. Mögen sie bis ans Ende der Straße halten.
Ich habe mir in den Kopf gesetzt, dass wir uns genau dort offiziell verloben, wo der kleine Tomai zum ersten Mal in seinem Leben das Plätschern eines Gebirgsbaches hörte, wo er im kristallklaren Wasser spielte, wo ringsherum nur hohe tannenrauschende Berge sind und wo früher immer die busartige, knallbuntrote Bimmelbahn durch das Tal echote.
Der kleine Tomai, das war ich, der kleine geheimnisvolle Junge mit den Adleraugen, der in den siebziger Jahren alles erforschen musste, was er sah. Und diese Stelle, an der so viele schöne Kindheitserinnerungen hängen, sie heißt bei den Papamamas und bei mir bis heute »unser Plätzchen«, weil hier jeder Familienausflug in den Harz mit einem schönen Mittagspicknick begann.
»Unser Plätzchen« liegt zwischen Lautenthal und Wildemann im Harz, an einer Waldwegbrücke über die wildromantische Innerste. Als am frühen Morgen des 28. Mai 1992 die Sonne im Nordosten aufgeht, steht fest, das wird ein herrlicher Tag. Wie nach Plan. Martina und ich fahren ganz allein zu jenem Picknickidyll aus frühen Kindertagen.
Dort ziehen wir unsere Schuhe aus und waten über die rundlichen Steine etwa einhundert Meter im kalten Wasser bachaufwärts. Dann gehen wir an Land, um uns am Ufer ganz allein im Angesicht der Natur zu verloben. Ein jeder steckt dem anderen seinen goldenen, uns nun vereinenden Reifen auf.
Anschließend fahren wir zur Verlobungsinsel im großfelsigen Okertal, dort wo der kleine Tomai immer zwischen den im Okerfluss liegenden riesigen Granitfelsen hin und her gesprungen ist.
Und da aller guten Dinge drei sind, gipfelt unsere Verlobung auf dem Brocken. Eine herrliche Wanderung auf dem Goetheweg führt uns hinauf und wieder hinunter. So wie eine Freundin zu haben, für mich lange Zeit unerreichbar schien, so ist es auch mit dem Brocken. Denn auch der lag bis vor Kurzem genauso unerreichbar jenseits des großen langen doppelten Metallzauns. Mauern müssen überwunden werden, um weiterzukommen, Berge erklommen werden, um zu verstehen, wie die Ebenen unten strukturiert sind, diese Symbole real erlebnisstark zu verinnerlichen, das ist mir wichtig.
Bei klarem Wetter markiert der Brocken die Silhouette des Südhorizontes von Gadenstedt. Dort findet das Finale auf der Terrasse von Andorra State statt. Dort warten die Grillkohlen auf ihre Anzündung und Durchglühung zum Grillfleisch- und Würstchenessen im Familienkreis. So nimmt auch die engere Verwandtschaft noch an unserem Glück teil.
Nachdem wir wieder nach Kiel zurückgefahren sind und sich unsere Verlobung auch bis in die hintersten Winkel unserer Verwandtschaft herumgesprochen hat, erreicht uns eine merkwürdige Glückwunschkarte. Auf dem Cover ist ein Paar Handschellen abgebildet, wobei der eine Arm bereits eingeschellt ist und man gerade dabei ist, auch den anderen Arm einzuschellen. »Bald ist es so weit!« steht auf der Karte. Die Verlobung als Vorstufe einer Verhaftung, einer Gefangennahme. Eine Hochzeit als Gefängnis. Das wäre ja genau das Gegenteil von Befreiung aus seinem eigenen Gefängnis, der Mauer, die mich umgibt, die man bekommen würde, wenn man den scheuen Vogel der Liebe, von dem die Frau Vogt sprach, einfangen kann. Befreiung durch Einfangen. Seltsame Vergleiche. So wie das Glück, das sich verdoppeln soll, wenn man es halbiert. Alles sehr merkartig.
Draußen herrscht nach wie vor herrlichstes Frühsommerwetter. Auch der Flieder blüht mittlerweile lila. Was für ein phantastisches, pflanzliches Begleitkonzert für unsere junge Liebe!
Mein Weg führte in den letzten Wochen durch sanfte, hügelige Landschaften. Es ging immer leicht auf und ab. Nach dem Hügel ist vor dem Hügel. Doch nun stehe ich auf einer Hügelkette, die anzeigt, dass sich das sehr bald ändern wird.