Allabendliche Auto-Sessions

Da ich nur ein Zimmer in dem gemeinschaftlich genutzten Haus der Vermieterin habe, ist es leider nur selten möglich, dort mit Martina bis spät abends zusammen zu sein. So enden unsere gemeinsamen Tage in Gettorf immer öfter im Auto auf dem Parkplatz unter den hohen Bäumen im Garten.

Dort sitzen wir noch lange und lassen den Tag noch einmal Revue passieren. Was war gut und was war weniger gut? Immer öfter diskutieren wir dabei auch über grundsätzliche Einstellungen und Meinungen. Und immer wenn Martina eine mir völlig fremde Sichtweise auf die Dinge erläutert, finde ich das äußerst bedenklich: »Ä-B.«

Immer dann, wenn ich eine Information verarbeiten soll, die mein bisheriges Weltverständnis ändern könnte oder sollte, bin ich blockiert. Dann ist Krise. Dann bin ich wie ein Computer, dessen Arbeitsspeicher randvoll ist. Ich nehme keinen Input mehr an. Das Einzige, was ich dann noch rausbringe, sind solche Sprachbruchstücke.

So werden die anfänglich als verlängerte Möglichkeit des Zusammenseins erlebten Auto-Sessions immer mehr zur Krisenbewältigung und dienen der Ausdiskussion unterschiedlicher Auffassungen und Wahrnehmungen zu ein und demselben Thema. Immer wieder stehe ich kurz davor, die Sache mit der Beziehung in Frage zu stellen. Eine Beziehung zu führen, scheint für mich eine ganz besondere Herausforderung zu sein.

»Peter, du zerdenkst unsere Freundschaft, unsere noch junge Liebe. Warum? Bei dir kommt immer wieder so eine Wand runter. Und dann antwortest du auf einmal nicht mehr. Das kann ich nicht ertragen! Ich wüsste zu gerne, was in dir vorgeht! Aber ich finde keinen Zugang mehr. Warum machst du es uns so schwer? Es könnte doch ganz einfach sein?«

Nicht selten enden solche einseitigen Schweigezeiten mit dem Regnen in meinem Gesicht. Wenn final die Emotionen über die alles blockierende Ratio-Fraktion in meinem inneren Parlament siegen. Meine Papamamas haben diese Form der Tränen nie gesehen. Die innere Zerrissenheit, der Kampf konkurrierender Sehnsüchte. Die Sehnsucht nach Liebe, die aber unplanbar zu sein scheint, gegen die Sehnsucht nach Planbarkeit.

Gerade während dieser Auto-Sessions zeigt sich überdies, dass es auf Dauer sehr anstrengend wird, sich immer nur über Philosophie, Psychologie, Religion, Astronomie, Geologie und sonstige geistreiche Wissenschaften auszutauschen.

So merke ich irgendwann, dass es im Leben tatsächlich nötig ist, einfach nur so miteinander zu reden. Und dieser Small Talk, wie andere das nennen, der fällt mir nach wie vor schwer. So beginne ich in solchen Situationen, meiner Freundin Witze zu erzählen.

»Eine Gruppe Ingenieure und eine Gruppe Mathematiker fahren mit der Bahn zu einer Tagung. Jeder einzelne Ingenieur hat seine eigene Fahrkarte, während die ganze Gruppe Mathematiker nur eine einzige Karte hat.

Plötzlich ruft einer der Mathematiker: Der Schaffner kommt! Sofort zwängen sich die Mathematiker alle in eine Zugtoilette. Der Schaffner kommt, kontrolliert die Ingenieure, sieht, dass das Klo besetzt ist und klopft an die WC-Tür: Die Fahrkarte bitte! Daraufhin schiebt einer der Mathematiker die Fahrkarte unter der Tür durch. Der Schaffner zieht zufrieden ab.

Auf der Rückfahrt beschließen die Ingenieure, denselben Trick anzuwenden. Sie kaufen nur noch eine Karte für die ganze Gruppe. Sie sind sehr verwundert, als sie merken, dass die Mathematiker diesmal überhaupt gar keine Fahrkarte mehr haben!

Wieder ruft einer der Mathematiker: Der Schaffner kommt! Sofort stürzen sich alle Ingenieure auf das nächstgelegene Klo, während die Mathematiker sich etwas gemächlicher auf den Weg zu einem anderen Klo machen. Bevor der letzte Mathematiker die Toilette betritt, klopft er noch bei den Ingenieuren an: Die Fahrkarte bitte! Und die Moral von der Geschicht? Wende niemals die Methoden der anderen an, ohne sie wirklich zu verstehen!«

Witze zu erzählen, ist für mich eine schwierige Aufgabe. Weil ich nicht immer die richtige Betonung treffe und weil mein Gesicht anscheinend nicht das macht, was es machen müsste, damit der Witz wirkt. So bin ich immer wieder stolz, wenn es mir doch mal gelungen ist, einen aussagekräftigen Witz selber zu erzählen. Denn Lachen gehört zum Leben. Und Martina mag Witze.

Trotzdem ist der Weg zu einer wirklich festen, unumstoßbaren Beziehung noch ganz, ganz lang. Und die Berge, die früher lange Zeit am fernen Horizont meiner Lebensstraße lagen, kommen links und rechts der Straße auf einmal immer schneller immer dichter. Die ganze Gegend steigt langsam weiter an. Und die Schluchten um mich herum, sie werden allmählich tiefer und enger.

Natürlich überprüfe ich ständig, ob ich auf der richtigen Piste zu meinem Ziel bin. Nachdem ich die allerwichtigsten Dinge aus meiner Checkliste an Martina überprüft habe, halte ich für mich folgendes Testzwischenergebnis fest:

Der Tanztest hat ergeben, dass wir recht gut miteinander tanzen können werden. Die Betonung liegt auf dem »werden«, weil sie ja das richtige, figurenreiche Tanzen noch lernen muss. Aber da bin ich guter Dinge.

Auch den Flugzeugtest haben wir mittlerweile hinter uns gebracht. Dazu ging es zum Kieler Flughafen. Dort habe ich einen Fliegerkameraden, den ich vom Segelfliegen her kenne, gebeten, eine Cessna für uns startklar zu machen und mit uns eine Runde zu fliegen. So erlebte Martina ihre Heimat zum ersten Mal im Leben aus der dritten Dimension. Da sie keine Kotztüte brauchte, ist auch hier alles klar.

Viele Fahrradtouren haben mir gezeigt, dass sie viel ausdauernder als Cordula ist. Da könnte zwar noch ein bisschen mehr drin sein, aber mit mehr Übung wird sie sicher noch längere Touren mit mir machen können.

Den Trutschentest muss ich noch machen. Dazu werde ich sie in der Kieler Fußgängerzone an Juwelierläden entlangführen und schauen, wie sie sich dort verhält. Aber ich gehe davon aus, dass auch dieser Test zu meiner Zufriedenheit ausfallen wird und mir sie als häuslich bodenständigen Typ bestätigt. Alles andere würde mich wundern! Aber man weiß ja nie, bekanntlich ist Vertrauen gut, aber Kontrolle besser!

Aufgrund der recht einfachen Verhältnisse, in denen sie aufgewachsen ist, wird sie wohl auch einmal mit verminderter Hygiene auf Reisen in badezimmerferne Gefilde und Gegenden mit erheblichen Mängeln im Essensangebot zurechtkommen. Aber auch das ist natürlich noch anhand einer konkreten Reise zu checken.

Der schwierigste, weil teuerste Vorabtest ist die praktische Feststellung ihrer Tropentauglichkeit. Denn wenn sie sich dort unwohl fühlen würde, dann müsste ich zukünftig alle Reisen in die Tropen weiterhin alleine machen. Und das wäre schade, wenn nicht sogar das Ende der Beziehung.

Im Visier habe ich eine Reise nach Saint Lucia oder nach Thailand. Dort würden wir gleich mehrere dieser tollen tropischen Kokospalmenstrände und Schnorchel-Inseln besuchen. Die Tropen sind auch genau die filmgemäße Romantik, um sich näherzukommen.

Und dann käme der allerletzte Test. Der lässt sich erst ausführen, wenn wir eine gemeinsame Wohnung haben. Während wir uns bei einer gemeinsamen Reise zwar schon einmal probeweise ununterbrochen verstehen würden müssen, wartet dann der Alltag, aus dem es kein getrenntes, individuelles Erholen mehr geben würde.

Um eine Frau wirklich zu heiraten, muss man sich auch im Alltag immer verstehen. Daher muss ich noch viel genauer, als dies bei einer bloßen Freundschaft möglich ist, wissen, wie sie sich in der praktischen Lebensbewältigung verhält: Wie reagiert sie, wenn ich mal ausrasten sollte? Ist sie geduldig? Ist sie liebevoll? Lässt sie nur ihre Meinung zählen? Gibt es Punkte, bei denen wir nie eine Lösung finden würden? All das kann man nur in einer gemeinsamen Wohnung herausfinden!

Anfang November findet wieder so eine »Ballnacht« in Kiels »MAX Music Hall« statt. Zum ersten Mal gehe ich dort nun mit meiner eigenen Freundin hin. Dass Martina noch nicht so viele Tanzfiguren kennt, macht nichts, weil man dort aufgrund einer sich am Abend vollenden Tanzfläche sowieso nicht alle Figuren austanzen kann.

Ich erlebe mit Martina die bisher schönste und harmonischste Ballnacht. Wohl auch deswegen, weil das Tanzen diesmal auch ganz bewusst dem Sichnäherkommen dient. Auf der Heimfahrt beobachten wir Wetterleuchten. Und bei der Ankunft steht der Orion schon hoch am Himmel. Zeichen des Winters, aber auch der Erleuchtung.

Mir gelingt es, Martina erstmals dafür zu gewinnen, mit mir dorthin zu fahren, wo mein Leben begann. So hat sie auch Gelegenheit, die Papamamas kennen zu lernen. Denn auch dieser Punkt auf der Liebes-Checkliste ist ja noch nicht geklärt. Was bringt mir eine Freundin, die mein Zuhause, meine Papamamas nicht mag? Außerdem würde ich mir auch gerne eine Meinung meiner Papamamas über Martina einholen.

Eine Woche später fahren wir mit »Sven«, meinem Auto, nach Gadenstedt, wo ich aufgewachsen bin. Dorthin, wo ich aus dem hohen Kinderwagen die über mir wedelnden Blätter der Bäume anstarrte, um den wandernden Lichtflecken und Schattenfiguren zu folgen. Das ewige Zuhause, das die von vornherein vorübergehend angelegte Studentenheimat in Kiel und Gettorf niemals sein kann. Das eigene Reich. Das eigene Land. »Andorra State«, einem Teil der »States of Japetus on Earth«, wie ich meine irdische Kolonie einer erdfernen Welt bezeichne. Es sind die Grundstücke in der Gemarkung Gadenstedt, die der Familie Schmidt gehören. »Andorra State Headquarters«, das ist das rotverklinkerte Winkelhaus. Die Oase der Ruhe. Die gewohnte Umgebung. Der Ort der Geborgenheit. Der Ort der Nostalgie. Der Anker des Lebens.

Zu Hause feiert der braune Brummelbär seinen 1991sten minus 1934sten Geburtstag, also den 57sten. Die Locken ist durch die Fülle der Vorbereitungen gestresst. Trotzdem findet sie noch die Zeit, Martina von meiner Zeit im Krankenhaus zu erzählen. Das erste halbe Jahr meiner Körperung verbrachte ich im Haus der Weißkittelwesen. »Morbus Hirschsprung« hieß die Krankheit, die die teilweise Entfernung meines Dickdarms zur Folge hatte und dafür sorgte, dass ich erst nach einem halben Jahr bei meinen Papamamas einziehen durfte. »Der Peter braucht viel Liebe«, betont die Locken dabei immer wieder.

Unter den Geburtstagsgästen ist wie immer auch Onkel Willi. Er ist mittlerweile fast neunzig Jahre alt. Er wohnt heute noch in Peine, aber nicht mehr direkt an der Mauer, hinter der das Eisen fauchend glühte. Hinter der die flüssige Eisenlava sich in Eisenbahnschienen verwandelte, die auch in Häusern verbaut werden.

Onkel Willi mochte mich schon damals. Und er mag mich immer noch. Seine einzige Sorge scheint zu sein, dass ich immer noch nicht arbeiten gehe, immer noch kein eigenes Geld verdiene. Immer noch da rumstudiere. »Peter, wie lange musst du denn noch studieren? Wann gehst du denn endlich mal arbeiten?«

»Ich glaube nicht, dass ich jemals so arbeiten können werde, wie du es getan hast! Ich werde irgendwo im Büro sein oder durch die Gegend fahren und forschen, auf jeden Fall nicht in so einer Fabrik arbeiten, das könnte ich gar nicht!«

Onkel Willi arbeitete früher in diesem Stahlwerk, das gleich neben dem Haus stand, in dem er mit Tante Else wohnte. Natürlich unterhält sich Onkel Willi auch mit Martina. Plötzlich sagt er in ihrem Beisein: »Peter, sieh zu, dass du die Martina heiratest. Du und Martina, ich glaube, ihr passt ganz gut zusammen. Ihr seid euch in vielen Dingen ähnlich!«

Kaktus zum Valentinstag
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