Sonne, Mond und Liebe
Die Strategie mit dem Schenken von Erinnerungen ist ein Volltreffer. Sie scheint voll zu funktionieren. Seit Tagen sind wir jeden Tag zusammen. Viele kleine Radtouren rund um Gettorf und Ausflüge an die Ostseeküste zwischen Kiel und Eckernförde haben wir nun bereits zusammen gemacht.
Der Kalender zeigt bereits den 23. Oktober 1991. Das ist ein rotblauer Tag vor rostbraunweißem Hintergrund. Noch haben die Bäume Blätter. Noch liegt damit ein allerletzter Hauch Sommer in der Luft, obwohl es deutlich herbstet. Wir sind bei herrlichem Wetter zusammen mit dem Fahrrad unterwegs, um diese natürliche Energie in uns aufzunehmen. Zunächst geht es zur Schlei, dann rauf in die Hügel der Umgebung.
Wir fahren durch einen herbstlich verzauberten Wald bei Lehmsiekberg. Dann erreichen wir einen Aussichtspunkt, bei der sogenannten Hermannshütte. Dort steht eine uns einladende Holzbank. Von hier schweift der Blick über die Wiesen und Hecken, über Felder und Wasserflächen der Schlei. Und man sieht das Moor und den Hof, wo Martina aufgewachsen ist.
So lassen wir uns auf der Bank nieder, um die herrliche Aussicht zu genießen. Während mein Blick so über das Land schweift und dann Richtung Martina geht, fühle ich mich wie »so a Bua« aus so einem Heimatfilm, der mit seiner Geliebten unterwegs ist. Und der Zuschauer, der will jetzt wissen, wann und wie werden die beiden sich endlich zum allerersten Mal küssen.
In diesem Moment begreife ich, dass geradezu traumartige Bedingungen herrschen, um genau diesen nächsten Schritt zu tun. Sogar die glutrot untergehende Sonne fehlt nicht. Immer wenn es in den Filmen solche Kulissen gab, wurde es romantisch. Mehr kann Gott sicherlich nicht tun, um mir zu sagen, was ich zu tun habe.
Obwohl ich eigentlich den ersten Kuss erst nach mehreren Monaten des Kennenlernens erwartet hatte, spüre ich, dass der Moment gekommen ist. Aber gleichzeitig weiß ich nicht, wie ich es anstellen soll. Auf meiner Lebensstraße sehe ich eine Abzweigung. Wer neue Wege finden will, muss ohne Wegweiser auskommen. Ich entschließe mich, in diese neue, völlig unbekannte Straße einzubiegen. Wenigstens, um festzustellen, ob dies der Weg sein könnte, den ich gehen will, oder ob es eine Sackgasse ist.
So schauen wir zusammen der glutrot untergehenden Herbstsonne zu. Dabei wird es leider immer kühler. Von menschlicher Wärme keine Spur. Dennoch empfange ich nach wie vor starke Schwingungen, die mir anzeigen, dass es sich genau hier und jetzt entscheiden wird, ob sich aus dieser Freundschaft etwas entwickeln kann oder nicht. Wenn wir jetzt einfach aufstehen und wieder davonfahren, wird sich nichts ändern. Das spüre ich.
Also warte ich. Aber es passiert nichts. Es ist still und erhaben. Am Osthorizont geht derweil sogar noch der Vollmond auf. Das Firmament stellt nun alles bereit, was es bereitstellen kann. Mehr filmkitschige Kulissen sind nicht mehr möglich. Ein untrügliches Zeichen?!
Martina sitzt zwar neben mir auf der Bank, aber das ist für das, was jetzt kommen muss, noch viel zu weit weg. Ich beschließe, die um sich greifende Kühle zur Hilfe zu nehmen:
»Was kann man machen, damit einem warm wird, rate mal«, fordere ich sie auf.
Ihre Antwort ist für meine Zwecke leider wenig hilfreich: »Ich weiß nicht – Samba tanzen?«
»Das ist die eine Möglichkeit. Aber es gibt noch eine andere«, versuche ich es weiter.
»Ich habe nicht den blassesten Dunst. Verrat es mir!«, fordert sie mich auf. Leider ist sie immer noch kein Stückchen näher an mich herangerutscht.
Da ich einerseits keinerlei Ahnung habe, ob Martina wirklich bereit ist, und andererseits aber die gegebenen Kulissen nutzen möchte und muss, beginne ich damit, ihr die letzten Wochen in Erinnerung zu rufen:
»Du weißt doch noch, da in diesem Bauernhofmuseum, da hast du mir erzählt, dass der Kuhstall deswegen direkt neben dem Wohnhaus ist, damit man sich gegenseitig wärmen kann.« Ich erhalte leider wieder keine verwertbare Antwort.
»Körper spenden also Wärme. Wenn da also zwei Menschen sind, die dem Sonnenuntergang zuschauen, und denen ist kalt, dann …«
»Dann?«
Ich empfange einfach kein Signal, ob auch bei ihr der Moment gekommen ist, sich körperlich mehr als nur mit der Hand zu berühren. Keine Gegenfrage. Nichts – nichts – nichts. Innerlich verzweifle ich langsam. Wäre ich jetzt hier alleine, würde ich ganz stark zappelnd meine Emotion nach außen tragen. Aber ich kann mich beherrschen. Martina kennt mich noch nicht gut genug, als dass sie schon jetzt alles verstehen würde, vermute ich einmal.
Derweil sinkt die Sonne immer schneller immer tiefer. Bald ist sie untergegangen und ich habe möglicherweise die Chance meines Lebens verpasst. Lieber Gott, Manitu oder wie du auch immer heißen magst, ich brauche Hilfe. Ich habe verstanden, aber WIE soll ich es tun? Das Firmament sendet mir weiterhin deutlichste Signale einer höheren Instanz, etwas tun zu müssen. In mir echot eine herb-fordernde, englischsprachige Stimme: »Now, it’s your turn! Now OR never!«
Noch ist es hier draußen wie im Film, das ist sogar viel mehr Kulisse als im Film. Aber nicht mehr lange. Was mache ich bloß? Nein, wie – wie – wie mache ich das bloß? Wieder sitze ich da. Nichts. Dann fällt mir etwas Wichtiges ein: Eine ganz wichtige Bedingung, die meine zukünftige Frau erfüllen soll, ist ja, dass sie mich so nehmen soll, wie ich nun einmal bin. Denn wenn das nicht geht, dann wären wir ja auch gar nicht füreinander bestimmt.
Während ich darüber nachdenke, wird mir klar, dass ich hier eigentlich gar nichts weiter nachzudenken habe. Wenn ich meine, der Moment ist da, dann sollte ich ihn auch da sein lassen und handeln. Irgendwie. Egal wie. Egal wie ich es mache, wenn wir füreinander bestimmt sind, wird sie es mögen. So nehme ich allen Mut zusammen und umarme sie. Und es gibt tatsächlich keine »Spinnst du«-Reaktion. Also gehe ich weiter und nehme sie mit einem »Dann können wir ja auch DAS machen« zu mir auf meinen Schoß.
Anschließend frage ich sie: »Hast du das auch gedacht?« Zwar bejaht sie das, aber irgendwie scheint da noch was zu fehlen. Einerseits gibt es keine Abstoßreaktion. Andererseits ist das, was ich mache, einfach noch nicht wie im Film. Da fehlt noch was. Das Schmusen und Küssen. Aber kann ich sie denn jetzt wirklich schon küssen? Einfach so? Mehr als ein »Spinnst du!« kann da ja eigentlich auch nicht kommen.
In diesem Moment fällt mir ein, dass es im Fernsehen einmal so eine Lektion über den idealen Kuss gab. Leider habe ich diese Lektion nicht mehr in Erinnerung. Da sagt auf einmal eine innere Stimme zu mir, so wie eine allerletzte Ermahnung:
Wenn du über einen reißenden Fluss willst, und da ist jetzt eine Brücke, gehe rüber. Wer weiß, ob und wann die nächste kommt! Auch wenn du dich unsicher und unvorbereitet fühlst!
Also muss ich da jetzt rübergehen. Ich gebe mir den alles entscheidenden Tritt zum Schritt über die Brücke. Vorsichtig nähere ich mich ihrem Gesicht. Noch ein letzter Blick auf die filmkitschige Szenerie mit dem glutroten Westhimmel bei der untergehenden Sonne und dann kleben meine Lippen auf den ihrigen.
Die Menschen auf der Erde schreiben den 23. Oktober 1991. Und mir gelingt der erste Kuss mit Martina. Romantik nach spontan geplantem Drehbuch. Schnell stellt sich heraus, dass Martina sogar die ganze Zeit nur darauf gewartet hat. Und ich Dussel hätte die Chance fast wieder einmal verpasst.
Weil ich immer alles genau planen möchte. Die Kulisse stimmte, der Ort stimmte. Aber der Kuss, ein Zeichen der Liebe, der wollte sich einfach nicht planen lassen. Gefühle lassen sich nicht planen. Und wenn das mit der Beziehung klappen soll, muss ich mich anscheinend noch viel mehr den erlebten Emotionen nach außen hingeben. Aber ich kann nicht. Warum?
Schon die Locken hatte mich früher immer mahnend und sich ewig wiederholend aufgefordert mit den Worten: »Du musst viel, viel mehr aus dir rauskommen!« Damals fragte ich mich, was sie damit bloß meinte. In diesem Moment wird es klar, glasklar. Ich will ja, aber ich kann nicht – kann nicht – kann nicht – noch nicht. Du musst es schaffen! Nein, mehr: Du schaffst es! Irgendwann! Ja! Glaube daran!