Nostalgie in der Fremde
Das neue Jahr hat begonnen, die ersten Tage im eigenen Haus vorbeien viel zu schnell. Ich sitze im Auto. Die Alleebäume der grüngelben B 444 ziehen rechts und links vorbei. Ich bin auf dem Weg nach Frankfurt. Auf der Straße nach Süden. Denn die Arbeit, die liegt nach wie vor dort.
Natürlich fehlt die passende Filmmusik nicht. John Denver singt mich durch den alten Kassettenrekorder im Auto an: Country roads liefert genau die Verstärker für jene Emotionen, die gerade in mir aufsteigen. Ich bin T-T-T, obwohl ich gerade den Moment erlebe, alles, was ich mir erträumt hatte, erreicht zu haben.
In Frankfurt angekommen, steigert sich das Jahr in den neuen Alltagsablauf rein. Frankfurt – Paris – Gadenstedt. An den drei Orten findet fortan das Berufsleben statt.
Ein Zimmer wie damals als Student habe ich mir gemietet. In einer Arztvilla, in der die Zeit stehen geblieben ist. Dort wohnen die alte Vermieterin und zwei weitere Bewohner. Fortan verbringe ich dort bis zu drei Nächte in der Woche, ansonsten bin ich zu Hause. Dort habe ich mir extra einen eigenen Dienstraum geschaffen, mein Homeoffice, wenn ich nicht gerade nach Paris muss.
Ich werde in Gadenstedt das wärmere und sturmärmere Wetter des Oberrheintalgrabens vermissen, aber dafür Ruhe bekommen. Ein Haus oder Grundstück im Rheintal südlich von Frankfurt zu finden, das ruhig, großzügig und bezahlbar ist, ist wie eine unlösbare Gleichung. 1 + 1 ist 2 und wird niemals 3.
In Frankfurt, in diesem zeitweise genutzten Fremdenzimmer, da fühle ich mich nun wie ein Gastarbeiter, wie einer, der zurückgeblieben ist. Wie einer, der wieder an die Front muss. Weil dort zwar gute Jagdgründe liegen, aber kein Ort zum Wohnen und Wohlfühlen nach meinen Vorstellungen existiert.
Ich habe nun tatsächlich meine Jugendpläne umgesetzt. Haus, Hof, Familie, Reisen um die Welt, alles habe ich geschafft. Das alles sind Dinge, die ich größtenteils selber in der Hand habe. Wo ich die Regie übernehmen kann, wo ich bestimmend gestalten kann.
Doch im Berufsleben tritt Stagnation ein. Einst wurde ich als Mensch mit genialen Ideen angesehen, und jetzt geht es in diese Richtung nicht wirklich weiter.
In der alten Arztvilla gibt es immerhin einen Gemeinschaftsraum. Darin stehen ein Fernseher und sogar ein Klavier. Auch hier ist die Zeit stehen geblieben. Uralter, knarrender Bretterfußboden, alte Bilder an den Wänden. Kringeltapeten, wie sie früher mal üblich waren. Ein ganz klassisch nostalgisches Mustertapetenzimmer.
Dann entdecke ich Bücher, in denen lauter Noten stehen. Für das Klavier. Ich frage die Vermieterin, die übrigens wie Frau Vogt auch aus Ostpreußen kommt, ob ich denn das Klavier überhaupt benutzen dürfe. »Ja, selbstverständlich, Herr Dr. Schmidt!«, sagt sie. »Gerne dürfen Sie das. Ich freue mich über Hausmusik!« Doch leider bin ich ja weder des Klavierens noch des Singens mächtig. Immerhin kann ich Noten lesen, aber beim Tönetreffen hapert es nun einmal. Man nennt mich daher unmusikalisch.
Beim Blättern in einem mit bunten Kinderzeichnungen illustrierten Liederbuch halte ich auf einmal inne. Ich starre auf die Seite mit dem geldlichen Kinderlied Taler, Taler du musst wandern!
Und dann muss ich wieder auf diese Mustertapetenwände starren, die hier genauso aussehen wie damals zu Hause bei Oma, als ich im Kindergarten war. Alte Erinnerungen poppen auf einmal in mir hoch. Ich höre meine einst helle, hohe Kinderstimme. Und ich höre die hellen Kinderstimmen, die ich bei Frau Vogt in ihrer wintergartenartigen Eckbankloggia hörte.
Seit meiner Kindergartenzeit sind viele Jahre vergangen. Mir wird klarer als jemals zuvor: Du warst nie so ein Kind, wie es hier im Liederbuche steht. Du warst immer ganz anders. Und auch dieses Lied ließ einige merkwürdige Erinnerungen zurück. Rätselhafte Dinge. Ich sehe zurück auf unseren damaligen Stuhlkreis. Wie wir Kinder vor der großen Ziehharmonikawand saßen. Diese Wand lag hinter mir. Ich schaute immer durch den Raum aus den Fenstern. Weil ich da raus wollte.
»Taler, Taler duhu muhusst wandern, von der einen Hahand zuhur andern! Das ist schön, das ist schön! Taler, lass dich nur nicht sehn!«, sangen wir damals alle zusammen im Stuhlkreis mit der Tante Feldmeier, während ein Groschen hinter dem Rücken aller Kinder weitergegeben wurde. Es war eines der wenigen Stuhlkreisspiele, die ich damals wirklich mochte. Das Lustige und für alle sehr Merkwürdige an diesem Spiel war nämlich, dass niemand herausbekam, wenn der Taler bei mir blieb. »Weißt du, du kuckst immer gleich!«, oder: »Du kuckst immer wie ein Auto!«, hieß es.
Man lobte mich für mein versteinertes Gesicht. »Wie machst du das bloß?«, wollte damals die Tante Feldmeier wissen. Warum das so war, ist bis heute ein ungelöstes Rätsel! Daher wurde ich auch fast nie das Kind, das raten musste, wo denn der Taler gerade war. Aber als es einmal hieß: »So, jetzt, Peter, bist du mal am Anfang derjenige, der herausfinden muss, wo der Taler ist!«, da verlor ich allen Spaß am Spiel, denn das dauerte so lange wie bei keinem anderen Kind zuvor. Ich zitterte am ganzen Körper, eben war ich noch der große Gewinner, jetzt der totale Versager!
Und ich muss wieder an das helle Zimmer, die Loggia in Gettorf, denken. Wo ich im Zeichen der hellen Kinderstimmen im Fernsehen an meinem Leben verzweifelte. Diese unsagbare, schier unüberwindliche Mauer. Die wie eine gewaltige, weiße, eisige Gebirgswand vor mir lag. Und ich muss an Frau Vogt denken, die sich alle Mühe gab, mich in ostpreußischer Flirtkunde zu unterrichten.
Heute bin ich zwar jenseits der großen, weißen, emotionalen Mauer. Aber auch wieder nicht. Denn es tauchen immer wieder neue Gebirgszüge auf. Die Mauer, sie ist immer und überall, mal höher, mal niedriger, aber sie ist immer noch da. Was verdammt noch mal ist diese Mauer?