Das Drama mit den vierzig Küssen
Nach Weihnachten kommt es erneut zu einer Krise. Bei meinen Papamamas steht ein Doppelbett im Gästezimmer. Das nutzen wir natürlich. So schlafen wir miteinander, nebeneinander im Bett – ohne Sex, versteht sich. Zumindest von meiner Seite. Denn wir sind ja noch nicht verlobt, geschweige denn verheiratet.
Martina versucht, sich immer deutlicher an mich heranzudrücken. Das kann ich überhaupt nicht haben. Dann kann ich nicht schlafen. Wenn ich im Bett liege, dann zum Streicheln oder zum Schlafen. Jedenfalls war das bisher so. Bisher haben wir pro Tag, an dem wir uns sahen, drei bis fünf Küsse ausgetauscht. Und wir haben uns gestreichelt, Martina mich mehr als ich sie, weil ich, wie ich ihr immer wieder sage, »immer dauergestreichelt werden muss«.
Seit einigen Tagen schlafen wir also auch nebeneinander liegend ein. Ein altes, unter Liebenden gemeinhin übliches, aber für mich neues Ritual soll eingeführt werden: Der Gute-Nacht-Kuss. Den hat es ganz früher von der Locken auch öfter gegeben, aber wenn er schmatzig und feucht war, mochte ich ihn nicht. Ich konnte also gut und gerne darauf verzichten.
Irgendwie liegen nun Schwingungen in der Luft, die nach diesem Gute-Nacht-Kuss verlangen. Und ich weiß auch, woran das liegt. In den einschlägigen Liebesfilmen im Fernsehen gab es auch immer Gute-Nacht-Küsse. Da ich, bevor ich ihr einen Kuss geben kann, noch meine innerliche, sich türmende Mauer überwinden muss, komme ich zu spät.
Martina beugt sich mit ihrem Kopf über mich und küsst mich. Ohne Vorwarnung. Ich bin völlig überrascht und lippenstarr. Das Einzige, was ich in dieser Situation aus mir rausbringe, ist: »Iiiihhh, deine Zähne kitzeln!« Ja, da war kein Kuss, da war dieses Gebiss aus Zähnen, das sich an meinen Lippen rieb und sich gewaltsam Zugang zu meinem Mund verschaffen wollte.
Der missratene Kuss endet in einer Gute-Nacht-Diskussion, in der ich schließlich nach den Kuss-Anforderungen frage, die sie mir so noch nie mitgeteilt hat:
»So oft wie du schon von mir gestreichelt worden bist, musst du da mal was nachholen. Aber vor allem muss ich geküsst werden. Du hast mich bisher viel zu wenig geküsst. Ich muss geküsst werden, um glücklich zu sein!«, betont sie.
Ja, glücklich soll doch meine Frau sein. Das ist doch Teil der Liebe. Aber misst man Liebe nun auf einmal an der Anzahl der Küsse? Auf die Qualität kommt es doch an. Oh, halt, das ist ein Eigentor. Gemäß Martinas Tagebucheintragungen sollen meine Küsse ja nicht besonders leidenschaftlich sein, sie sind also auch noch nicht einmal gut. Was mach ich bloß?
Nach längerem Nachdenken komme ich zu dem Schluss, zunächst an der Quantität zu arbeiten und über das Üben so zur Qualität zu finden! So frage ich sie:
»Wie viel Mal soll ich dich denn nun pro Tag küssen?«
»Vierzig Mal?!«, sagt ihre Stimme ganz hell. Irgendwie liebevoll klingend. Uff, wie soll ich das denn schaffen? Vierzig Küsse. Jeden Tag. Ich weiß allerdings nicht, ob das nun eine Aufforderung oder eine Frage ist. Dass das mit dem Verlieben so läuft, hat aber kein Film im Fernsehen gezeigt. Vierzig Küsse hat da aber niemand seiner Freundin gegeben. Oder doch? Die zeigen ja auch nicht, wenn jemand aufs Klo muss und so weiter. Und zu Hause? Die Papamamas haben sich zeit meines Lebens niemals sichtbar vierzig Mal am Tag geküsst, auch nicht im Urlaub. Spinnt die nun oder ist das wirklich so, wenn man eine Freundin auf Dauer haben will?
Ich schnappe ihre Wange und schmatze gleich vier, fünf Mal hintereinander.
»So, zählt das jetzt als ein Kuss oder als fünf Küsse?«
»Na ja, eigentlich ist das nur ein Kuss!«
Ein gequantelter Kuss zählt also nur einmal.
»Und du meinst wirklich, dass ich dich vierzig Mal am Tag küssen soll?«
»Soll? Musst! Sonst hast du mich ja gar nicht lieb!«
»Also gut, vierzig Mal. Da muss ich dann wohl eine Liste anfertigen, auf der ich die Anzahl abstreichen kann! Darf ich eigentlich auch mal Schulden machen?«
»Was für Schulden?«
»Na ja, wenn ich zum Beispiel heute nur auf 27 komme, ist es dann auch okay, wenn ich dann morgen mindestens auf 53 komme, also 80 in zwei Tagen?«
»Ja, na klar!«
Uff, zum dritten Mal uff, das ist dann ja im Bereich des Möglichen.
Dann sagt sie auf einmal:
»Für mich ist das Küssen mindestens genauso wichtig wie für dich dein Reisen, okay?!« Mehr sagt sie nicht mehr und schläft in den nächsten fünfzehn Minuten neben mir ein.
In mir steigt derweil das Magma des Vulkans auf, denn ihre letzten Worte verbaffen mich. Das ist alles Ä-Ä-Ä-B-B! Dein Reisen?! Hab ich’s doch geahnt, die war noch nie weit gereist, die will auch gar nicht reisen. Wenn das mit uns beiden noch halten soll, dann wird die Sache mit dem Reisen umso dringender und wichtiger. Und solange ich mit ihr nicht auf einer kitschigen, klischeehaften, tropischen Kokospalmeninsel gewesen bin, läuft da am besten erst einmal gar nichts mehr. Ich will Liebe wie im Film oder gar keine – oder ich bin dann eben doch besser schwul. Aber das hier, nein danke!
An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Und die Tante schläft da neben mir in aller Seelenruhe auch noch ein. Die merkt gar nicht, was hier gerade für ein Vulkanausbruch droht, der vernichtend sein kann, vernichtend für diese frische Liebe. Wie eisigster Frost, der auf die frisch blühenden Bäume trifft und alles zerfrieren lässt. Ja, so ist das.
In mir kocht das Magma höher und höher, der Wutvulkan droht auszubrechen. Ich muss aufstehen und mich entfernen. Dazu gehe ich in mein altes Zimmer. Dort lege ich mich in mein altes Bett, in dem ich früher immer geschlafen habe. Als Schüler. In mir tagt das Parlament. Die rationale Fraktion gegen die intuitiv-emotional gesteuerte Fraktion.
Argumente werden in mir selbst ausgetauscht, das Gehirn muss voller Lichtblitze sein. Ich bin hellwach. Am Ende der inneren Diskussion sinkt der Magmaspiegel des Wutvulkans. Bei der Abstimmung siegt die Intuition über die Ratio. Begründung: Die Ratio kann nicht alle Dinge benennen, die bei einer Beziehungs- und Liebesgeschichte ausschlaggebend sein könnten.
Auf die Frage nach dem »Wohin willst du gehen?« kam die selbstgegebende Antwort: »In eine lebenslängliche Partnerschaft!« Und das bedeutet, die Ratio wachsam sein zu lassen, aber in Zweifelsfällen der Intuition den Vortritt zu lassen. So geschieht es hier. Ganz allmählich beruhige ich mich. Doch einschlafen kann ich leider nicht.
Wie als Kind schmeiße ich mich im Bett hin und her. Etwa eine Stunde lang. Doch der Weg in den Schlaf bleibt versperrt. Schließlich bricht in mir die Erkenntnis durch, dass Martina letztendlich doch genau das Verhalten gezeigt hat, das die Frau meiner Träume zeigen muss: Ehrlichkeit, Direktheit und Offenheit. Die Wut schlägt auf einmal in Sorge um, sie zu verlieren. Durch Fehlverhalten. Durch Verhalten, das als lieblos gelten könnte. Zu oft kam es vor, dass sie sagte: »Peter, das merkt man doch!«, oder fragte: »Merkst du denn gar nicht, dass …?« Die drohende Explosion verwandelt sich in ein friedliches, Erneuerung schaffendes Ausfließen glutrot glühender Lava, das sich als Tränenfluss auf meinem Gesicht manifestiert.
Drei Stunden später, von dem Moment an gerechnet, als ich von Martina wegging, bin ich wieder bei ihr. Ohne Worte. Die Lava ist wieder erstarrt. Ich lege mich neben sie. Ich schnappe ihren Kopf und drücke ihn ganz fest an mich. So wie nie zuvor.
Ich glaube, es ist der allererste, wirkliche, leidenschaftlich anmutende Kuss, der sich den Weg durch meine innere Mauer bahnt.
Silvester verbringen wir tänzerisch auf dem Haus einer musikalischen Studentenverbindung hoch oben über der Altstadt von Marburg. Um Punkt null Uhr stoßen wir mit einem Glas Sekt auf das kommende Jahr unserer Liebe an, derweil die Böller und Raketen unter uns über den Marburger Stadthimmel um die Wette fliegen und knallen.
In diesem Moment sagt Martina: »Auch wenn wir immer wieder diese nervenden Diskussionen haben, ich muss dir sagen, dass ich dich vielleicht gerade deswegen total liebe!« Da ist was dran, ist es doch gelebte Transparenz.
Drei wichtige Punkte meiner Checkliste. So kann ich nur bestätigend hinzufügen: »Ich dich auch!« Fortan wird dieses gegenseitige Liebesbekenntnis zu einem tagtäglichen Ritual: »Ich liebe dich!« – »Ich dich auch!« So zeigt sich erstes zaghaftes Grün auf meiner Straße jenseits der Passhöhe über das emotionale Gebirge.