Mathematische Liebe

Die ersten Monate war ich ja der Checker, der wissen wollte, ob Martina einmal alles, was an einer Frau für mich wirklich zählt, liefern kann. Doch nun habe ich das Gefühl, dass auch sie testet, was ich liefere und was nicht.

Als ich mein Gnubbelchen, wie ich sie mittlerweile nenne, wiedersehe, fragt sie mich auf einmal: »Sag mal, welche Augenfarbe habe ich?«

Ratlos blicke ich ins Land. Denn nun ist es zu spät, sie einfach anzuschauen, um die richtige Antwort zu erhalten. In diesem Moment wird mir bewusst, dass ich Martina noch nie in die Augen geschaut habe. Warum auch? Richtiger Blickkontakt ist für mich so, als wenn ich direkt in die Sonne schaue. Und das habe ich beim Sonnenfleckenbeobachten für »Jugend forscht« oft genug gemacht. Und das hat weitaus weniger wehgetan, als einem Menschen direkt in die Augen zu schauen.

Schließlich ringe ich mich zu einer fragenden Antwort durch:

»Äh, blau?«

»Nein!«

»Grün?«

»Neiiiin! Sag mal, schaust du mir denn gar nicht in die Augen?«

»Dann sind sie bestimmt braun. Und du hast so eine gnubbelige Erdbeernase!«

»Erdbeernase?«

»Ja, Erdbeernase. Weil sie mich vom Aussehen und der Oberflächenstruktur irgendwie an eine Erdbeere erinnert.«

»Okay, braun stimmt, aber das mit der Erdbeernase, ich weiß nicht.«

»Doch, meine liebste Erdbeernase. Warum ist das denn auf einmal so wichtig? Davon war ja noch nie die Rede. Weißt du denn überhaupt, welche Farbe meine Augen haben?«

»Blau! Klar weiß ich das. Wenn du nicht weißt, was ich für eine Augenfarbe habe, dann hast du mich noch nie wirklich angekuckt. Das finde ICH jetzt mal Ä-B! Jawohl! Liebst du mich dann überhaupt?«

»Ich schaue aber immer da hin!«, sage ich fingerzeigend auf ihre Nasenwurzel. »Und da grinsen mich die Pünktli auf deiner Erdbeernase an.«

Da es für mich kein Entrinnen aus diesem blöden Augenfarbenquiz gibt, kann ich nur hoffen, dass das für sie genauso unwichtig ist wie für mich. Nach einer Weile Stille im Gespräch stellt Martina auf einmal eine Frage, die mich wie ein Blitz aus blauem Himmel trifft:

»Was verstehst du denn eigentlich unter Liebe?«

Eine verdammt einfache Frage mit einer verdammt schwierigen Antwort! Ich habe keine Ahnung, was ich ihr darauf mal so eben antworten soll, ohne mir meine Rede lange und planvoll überlegt zu haben. Das Allererste, was mir durch den Kopf schießt, sind diese »Liebe-ist …«-Cartoons. Weil ich in Bildern denke, also immer erst Bilder sehe.

Da sie aber darauf besteht, jetzt oder zumindest gleich eine wörternde Antwort zu erhalten, fühle ich mich wie ein Löwe in der Ecke. Kein Entrinnen. Wenn ich sie wirklich lieben würde, müsste ich darauf eine spontane Antwort parat haben, meint sie. Wieder einmal kämpft die Spontanität in mir gegen das Verlangen nach Vorbereitung. So stammele ich erst einmal los:

»Also, es ist für mich Liebe, wenn ich etwas besonders mag, wenn ich sehr traurig würde, wenn es nicht mehr da ist, wenn …«

»Ja, aber …«

»Liebe ist auch, sich über vertraulich intime Dinge zu unterhalten, sich gegenseitig zu unterstützen. Liebe ist zum Beispiel auch unser Streicheln.«

»Aber …«

»Liebe ist, wenn wir zusammen Fahrrad fahren. Oder Liebe ist, wenn wir zusammen auf einer Bank sitzen und den Sonnenuntergang anschauen. Oder wenn …«

»Ja, aber was ist denn nun Liebe für dich? Das sind doch alles nur Sachen, die man macht oder sieht?«, würgt sie meine beginnende Aufzählung ab.

Okay, so komme ich nicht weiter. Stattdessen male ich ihr ein mathematisches Koordinatensystem auf:

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Koordinatensystem der Liebe

»Lass es mich so erklären. Da haben wir eine x-Achse, die nach rechts zeigt. Und da haben wir eine y-Achse, die nach oben zeigt. Die x-Achse zeigt den Verlauf der Zeit an. Die y-Achse stellt die Intensität der Beziehung dar. Je höher der Wert, desto intensiver ist die Beziehung. Für die Beziehungsintensität gibt es einen Idealzustand, dem man sich mit der Zeit immer mehr annähert! Liebe ist dann die Annäherung an diesen Idealzustand, der eine Asymptote ist, eine Liebesasymptote also. Je höher diese Asymptote im Koordinatensystem liegt, desto größer ist die Liebe.«

»Was für eine Tote?«

»Mathekurs, Abitur. Du musst doch wissen, was eine Asymptote ist …«

»Nee, habe ich vergessen!«

»Egal. Also jetzt ganz langsam zum Mitschreiben: Wir können nun drei Funktionen in dieses Diagramm einzeichnen, die charakteristische Verläufe haben, die ich in eine A-Phase, eine B-Phase und eine C-Phase unterteilen möchte.

In der A-Phase lernt man sich oberflächlich kennen. Zwei Menschen begegnen sich und entscheiden spontan anhand oberflächlicher Merkmale über gegenseitige Sympathie oder Antipathie. Diese A-Phase beginnt im Ursprung, also dem Moment des erstmaligen Sehens und damit dem Beginn des Kennenlernprozesses. Eine A-Phase findet mit jedem Menschen statt, mit dem ich mich kommunikativ näher beschäftige. Die A-Kurve zeigt also an, wie das erste Kennenlernen abläuft. Vom ersten Eindruck am Ursprung des Koordinatensystems bis hin zu einem Maximum an neuen Eindrücken. Die Entdeckung neuer Facetten am Gesprächspartner ist sehr intensiv und lässt allmählich immer mehr nach. Man könnte auch sagen, die A-Kurve zeigt die Intensität des oberflächlichen Kennenlernens eines Menschen an. Das könnte auch ein Mensch sein, mit dem ich beruflich zu tun habe.

Dann gibt es da die B-Phase. In dieser Phase lernen sich die beiden Menschen näher kennen. Die B-Kurve ist sozusagen der Charaktercheck. In dieser Phase stellt man im gegenseitigen Einvernehmen fest, ob man zueinander passt oder nicht. Diese Funktion beschreibt das Testen des Gesprächspartners oder Freundes auf dauerhafte Sympathie. Im Gegensatz zur A-Phase, die praktisch nur das Erstellen eines ersten Gesamteindrucks abbildet, endet diese Phase nie. Die zugehörige Kurve strebt allerdings asymptotisch gegen null. Das bedeutet, dass das Testen immer weniger wird und praktisch verschwindet, aber nie wirklich aufhört.

Die wichtigste Kurve aber ist die C-Phase. Sie gibt den Grad der Verbundenheit an. Diese Kurve startet ebenfalls im Ursprung, beginnt sozusagen bei Null. Sie erreicht erst dann eine signifikante Intensität, wenn die A-Phase ganz vorbei ist und die B-Phase ihr Maximum überschritten hat, man sich also einander auch bei etwas genauerem Hinsehen weiterhin sympathisch findet.

Und die C-Kurve schließlich, die gibt die Intensität des Zusammengehörigkeitsgefühls wieder. Und diese Kurve wächst mit der Zeit, vorausgesetzt, man überwindet die Maxima der A- und B-Kurve, so dass die positiven Eigenschaften deutlich überwiegen.

So, und Liebe, ja, die ist nun etwas, das erst dann zustandekommt, wenn die A-Kurve gegen null geht und die C-Kurve einer Sättigung, der Asymptote, entgegenstrebt und diese so gut wie erreicht hat. Wenn also diese C-Kurve asymptotisch gegen einen Grenzwert, den höchst möglichen Grad der Verbundenheit, strebt, dann beschließen die beiden Menschen, für immer zusammenzubleiben. Somit ist Liebe die asymptotische Erfüllung der Sehnsucht nach Geborgenheit.«

Stille. Während ich mir das Diagramm so anschaue, fällt mir auf, dass man die A-Phase auch mit dem aufflammenden Anzünden eines Kaminfeuers, die B-Phase mit dem hellen Brennen des Holzes und die C-Phase mit der lang anhaltenden, inneren Glut vergleichen kann.

So fortsetze ich: »Die Liebe ist also etwas Dauerhaftes. Liebe ist nicht nur ein Wort, sondern Taten, immer wiederkehrende Taten. Etwas, das sich über die Zeit entwickeln muss. Etwas, das sich mehr oder weniger schnell einstellt. Das ist wie bei einem Flugzeug, das irgendwann die Reiseflughöhe erreicht hat. Und ich denke, wir sind jetzt hier!« Dabei zeige ich auf eine Stelle oben im rechten Drittel des Diagramms. »Das bedeutet, dass ich dich liebe. Liebst du mich denn auch?«

»Ja! Dass man Liebe mathematisch formulieren kann, das finde ich hochinteressant. Liebe, das hat doch was mit Emotionen zu tun …«

»Ja, sieh es so: Emotionen sind analoge Signale, dieses Diagramm hier ist eine Art Digitalisierung der Emotionen.«

Daraufhin herrscht Stille. Weitere Kommentare folgen nicht. Weitere Fragen auch nicht. So gehe ich davon aus, dass es mir endlich gelungen ist, verständlich zu machen, was Liebe ist! Auf meine Weise.

Schließlich bemerkt Martina, dass die C-Kurve ja auch verschiedene Höhen annehmen kann. So fragt sie mich, wie groß denn nun meine Liebe zu ihr sei. Meine Antwort kommt prompt und ehrlich: »12 von 15 Punkten!«

»Was? Wieso nicht 15 Punkte?«

»Na ja, du hast keine glatten Haare und keine knackige Jeans, und dich interessieren oft andere Dinge als mich. Das gibt Abzüge in der B-Note. Aber bei allen wirklich wichtigen Dingen, die letztendlich zählen, hast du die volle Punktzahl. Bei Dingen wie Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Naturverbundenheit und so weiter. Na ja, vielleicht werden es ja auch noch mehr Punkte, wenn wir endlich mal in den Tropen waren!«, füge ich noch hinzu.

Nachdenkliche Stille. Jetzt habe ich wohl bei ihr eine Art Ä-B-Zustand ausgelöst. Und kann nur hoffen, dass sie sich mit meiner Ehrlichkeit anfreunden kann und darüber hinwegkommt. So wie ich meine innere Mauer überwinden muss, um sie weiter lieben zu können.

Kaktus zum Valentinstag
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