Der seltsame Schlüssel

In der darauffolgenden Nacht zum 6. Februar 2007, einem blassbeigen, milchigen Tag, albträume ich so schlimm wie schon lange nicht mehr. Es spielt, warum auch immer, in Hamburg, vielleicht wegen des anstehenden Marathons, für den ich noch keinen einzigen Kilometer trainiert habe. Ich sehe Schilder, viele, viele Straßenschilder überall, laufe völlig neben der Strecke, welchen Weg soll ich bloß nehmen?, frage ich mich, als die Zeit sich als perfekte Illusion entlarvt, ganz bizarr, es gibt keine menschlichen Wörter, um zu beschreiben, wie das geht.

Der Traum fortsetzt sich mit allen möglichen Leuten – einschließlich derer aus längst vergangenen Zeiten – und mir selbst als Fremder inmitten eines Wirrwarrs von Straßenschildern, die alle irgendeinen Weg zeigen wollen, aber die Auswahl tiltet mich. Ich stehe außerhalb – und sehe mich – und es wird immer bizarrer. Ich als Mensch und doch nicht von dieser Welt – alle um mich herum wirken so röntgig durchschaubar und hadern mit Befindlichkeiten und Hierarchien, anstatt sich auf das faktenbezogene Leben zu konzentrieren.

Ich bin völlig fertig und stehe neben mir. Ich sehe mich von außerhalb meines Körpers, wie so oft in solchen Albträumen der schlimmsten Sorte. Irgendwann sortiert sich die Handlung kausal nachvollziehbar. Da stehe ich auf einmal neben einer staubigen Piste im hohen Gras und sehe einen glanzblaudunklen Geländewagen heranstauben, der eine Vollbremsung hinlegt, als dessen Fahrer einen glitzernden Gegenstand im Straßengraben liegen sieht. Der Wagen setzt zurück. Der Mann steigt aus. Das – bin ich selber. Ich stehe neben der Piste und sehe den Fahrer als mein Selbst vor der Kulisse südamerikanischer schneeiger Andenvulkane stehen, bekleidet mit schwarzem Tank-Top und ausgewaschener Jeans, deren Nähte aufgehen wollen.

Dann verschmelze ich mit dem Fahrer vollends und breche in Weinkrämpfe aus, weil ich endlich den Schlüssel gefunden habe. Ja, hier liegt er tatsächlich im Gras, ich sehe ihn blinken. Dann muss ich erst mal im hohen Gras neben der Piste pinkeln gehen – da wache ich gesichtsregnend auf, denn mein Blasendruck ist sehr hoch, in echt!

Und dann muss ich an Argentinien denken, wo mein Sohn Raphael kurz vor der chilenischen Grenze vor der Kulisse mächtiger Vulkane an genau dieser geträumten Stelle im hohen Gras den verlorenen Autoschlüssel wiederfand. Das habe ich wohl nachgeträumt. Aber warum kam gerade jetzt dieser Traum? Und welcher Schlüssel lag da eigentlich?

Ich gehe zum Klo, dann zurück ins Bett und versuche wieder einzuschlafen. Ich helfe nach, indem ich mich wie der kleine Tomai im Bett wälze, rechts rum – links rum, rechts rum – links rum, rechts rum – links rum. Dann endlich schlafe ich wieder ein. Und die Szenerie aus dem Traum ist wieder da.

Irgendwann zieht eine dröhnende Stimme bei mir ein. Sie wird ganz langsam immer lauter, bis sie mich durchdringend erreicht: »Sieh dir den Schlüssel ganz genau an. Schau doch endlich mal genauer hin, was da draufsteht.« Ich folge der Aufforderung und starre auf silberne Vertiefungen mit dem Schriftzug einer unbekannten Firma: ASPIRGA. Dieses Wort blinkt im Licht! Wie ein lichtendes Echo.

Aspirga – Aspirga – Aspirga. Es echot so lange in mir, bis ich erneut schockerwache: Aspirgaaarrrr! Charlie! Aspirga! Das war das Wort, das gestern Abend in dem Film vorkam. Dessen Bedeutung unklar blieb. Ich kann nicht mehr einschlafen. Das war irgendein Syndrom, das dieser Chemieschüler aus dem Film hatte.

Warum träume ich das jetzt, obwohl das gar nicht im Film erläutert wurde? Und wenn das auf einmal gar kein körperliches Problem ist? Wenn das auf einmal ein neurologisches Problem ist? Etwas, das mit dem dargestellten Verhalten und der Wahrnehmung zu tun hat? Und was ist, wenn dann das Ganze auf einmal irgendwie auch DEIN Problem ist? Lösungslos schlafe ich darüber wieder ein.

Genau um 6:58 Uhr stehe ich auf. Wie jeden Tag in Frankfurt. Höre zum Auftakt des Tages im Radio die HR3-Nachrichten, gehe anschließend duschen und mache mich frühstücks- und firmenfertig.

Nachdem ich dort die ersten Dinge erledigt habe, E-Mails wie immer nach dringend und wichtig klassifiziert habe, gönne ich mir eine Kaffeepause. Zeit, um einmal nach diesem merkwürdigen Firmennamen oder Syndrom zu googeln. Jetzt will ich doch mal wissen, was das denn sein soll, weil ich das Wort noch nie vorher gehört habe.

Aspirga – kein Eintrag im Wiki, keine Treffer bei Google. Entweder haben die sich das im Film eigens für die Geschichte ausgedacht – oder das Ding gibt es doch, wird nur anders betont oder geschrieben. Eine innere Stimme sagt mir: Heiß-heiß-heiß-heiß! Wie früher beim Topfschlagen. Aber das Klong-klong-klong – das bleibt aus! Wie so oft laufe ich wohl mal wieder blind durchs Leben. Doch dann ideet es in mir. Ich suche das Fernsehprogramm, recherchiere den Titel der Sendung: »Im Namen des Gesetzes: Panik.« Das gebe ich bei Google ein. Volltreffer. Eine Inhaltsangabe der Sendung ist gefunden. Aber in dem kurzen Text, den ich finde, steht leider kein Hinweis auf das Aspirblablabla.

Ich gehe wieder an meine Arbeit. Aber das mit dem Aspirga, das beißt sich fest. Es blockiert mich regelrecht. Das muss jetzt erst geklärt werden, denke ich. Sonst belastet mich das zu sehr. Ich kann halt nur sequentiell arbeiten. So ertappe ich mich wieder mal dabei abzuschweifen, anstatt endlich die vorgesehenen Arbeiten zu erledigen.

Okay, einen Versuch noch. Es handelt sich anscheinend um ein Syndrom, das weiß ich noch. Also gebe ich schließlich als letzten Versuch ein: »Asp* Syndrom«. Die ersten zwei Treffer sind irgendwelche Abkürzungsverzeichnisse:

»ASP: Asperger-Syndrom; HFA: High-Functioning Autismus; ADHS: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung Diagnosen wurden in Anlehnung an …«

»Beachte: AUT = Autismus, ASP = Asperger-Syndrom, TE = tiefgreifende Entwicklungsstörungen, AS = autistisches Spektrum, BAP. = breiter autistischer Phänotyp«.

Ja, das Wort »Asperger«, das könnte es wirklich gewesen sein, was da gestern gesagt worden ist. So gebe ich dieses Wort nun auch noch mal richtig ausgeschrieben in Google ein, um Treffer erster Ordnung zu sehen, denn ich will doch wissen, was sich dahinter verbirgt, bevor ich die Arbeit fortsetze.

Beim Sichten der ersten Treffer verdichtet sich dann eine harmlos erscheinende Wolke am strahlend blauen Himmel binnen Sekunden zu einem der schwersten Gewitter, die mich seelisch je erschüttert haben. Lesend stottere ich mich durch die Anzeige auf dem Bildschirm: Da – da – da gibt es ja komplette Listen mit all deinen Problemen, gegen die du seit 41 Jahren wacker gekämpft hast. Das – das – das gibt’s doch gar nicht! Ich werde sehr schnell sehr nervös und kurzatmig, dann starre ich ungläubig auf mein Telefon. Auf dem Display steht: 6. Februar 2007, 10:10 Uhr.

In diesem Moment schockt mich ein emotionales Erdbeben der Stärke 10. Mich erschüttern lang gesuchte und bisher nie gefundene Dinge in geballter Form: »… können keinen Small Talk«, »… haben Schwierigkeiten mit der subtilen Kommunikation«, »… können sich keine Gesichter merken«, »… haben oft auffälligen Gang«, und vieles mehr. Die seelischen Erschütterungen sind so stark, dass um mich herum alle Ordnungen meines bisherigen Lebens zusammenbrechen. Dabei werden Dinge freigelegt, die alle zwischenmenschlichen Rätsel meines Daseins schlagartig lösen.

Du bist ein hochfunktionaler Autist. Deine nonverbale Kommunikation ist gestört, heißt es. Und das bedeutet, dass diese Sache mit dem Eisbergmodell dann doch stimmt. Prosopagnosie, die Unfähigkeit, sich Gesichter zu merken, selbst das entdecke ich da gleich mit.

Ich habe es immer gespürt, beim Rasten der Zeitdimension ging etwas schief. Ich landete in einer Welt von Wesen, Leute genannt, die sich aus zwei Arten zusammensetzten: solche, die mich als Alien annahmen oder zumindest tolerierten, und solche, die spürten, dass ich kein Visum für die Erde hatte.

Ich spüre meinen ganzen Körper gänsehäuten und zittern. Ich friere erbärmlich, obwohl ich im warmen Büro sitze. Dann gefriere ich vollends, von innen nach außen, je mehr ich lese. Ich bekomme eine extreme Gänsehaut, wie immer dann, wenn ich spüre, die Lösung eines lange Zeit ungelösten Problems offenkundig gefunden zu haben.

Klong – Klong – Klong – KLONNNNNG! Damit endet also tatsächlich das längste latente Topfschlagenspiel meines Lebens! Aus – vorbei – Ende Gelände!

Ja, diesmal klong-klong-klongt es richtig: Das – bist – DU! Schließlich erstarre ich bis hin zur Versteinerung. Meine Augen starren steinstarr auf den Bildschirm. Vor mir flimmern abwechselnd immer wieder zwei Wörter:

ASPERGER-SYNDROM – AUTISMUS

Es dauert eine Weile, bis der Schock die darunterliegende Erlösung freilegt. Autismus – ein Sammelbegriff für alle meine Eigenschaften und Verhaltensweisen, wie es ihn kompakter gar nicht mehr geben kann.

Die ewig gefühlte Mauer – die Menschen nennen sie Autismus. Sie ist also tatsächlich ein medizinisch klassifizierbares Problem. Autist – so nennen die Menschen das, was du bist.

All die vielen ewig sich anhäufenden unbeantworteten Warum-Fragen, die das eigene Leben im emotionalen Kontext mit den Mitmenschen aufgeworfen hat, sind mit diesem einzigen Wort beantwortet. Die ewig gesuchten und nie gefundenen Erklärungen, jetzt kommen sie alle auf einmal. Ja, da werde ICH beschrieben, wie ich bisher durchs Leben ging. Mein Verhalten, das tatsächlich so anders ist – meine Art der strukturierten Wahrnehmung, die so anders ist – so individuell – diese Flatterbewegungen und Stereotypien, die Rituale, es hat alles zusammen einen einzigen Namen.

So sammele ich also ahnungslos ein Puzzleteil auf, das sich als DAS ewig gesuchte und nie gefundene entscheidende Puzzleteil entpuppt, das die letzte Lückung im Bild des eigenen Lebens füllt. Das aus dem bislang unvollendeten und unverstandenen Werk meiner unbegriffenen Kindheit und Jugend nun ein Bild macht, das vollständigt. Es gesichtet mein Selbst.

Kraaaa-bumbummmmmbumbumbummm. Es hallt und hallt in mir immer wieder wie ein Donner, der durch die Wolken grollt. Die Erleuchtung ist da, extrem grell und blendend. Dann regnet es aus meinem Gesicht in Strömen. Ich bin ein Autist – Autist – Autist – Autist – tist-tist-tist donnerhallt es wider – und wieder.

Wie bei einem schweren Unwetter ergießen sich noch mal für zwei Stunden die Augen … Wie nur zwei Mal seit meiner Kindheit. Als ich auf die rauschenden Oberharzer Tannen starrte, die den Weg säumten, an dem ich mich von Gesa verabschiedete, und als ich zur Forschungsfahrt aufbrach, mit der die ozeanische Trennung von meinem Gnubbelchen begann. Dort lagen dann wohl die wichtigsten Abzweigungen meines Lebens, denen ich gefolgt bin.

Damals sah ich die himmelhoch eisigen Berge am Horizont. Doch ein Gebirge folgte dem nächsten. Jetzt, nach 41 Jahren des Daseins auf der Erde, blicke ich erstmalig in das Land, das ich bisher nie sah. So bin ich nun viele, viele Meilen und serpentinige Gebirgspässe später an der Grenze des Landes der unbegriffenen Sehnsucht angekommen.

Einerseits fühle ich mich befreit, denn ich habe das Geheimnis meines Lebens gelüftet. Ich habe sozusagen die Losung, das Codewort, gefunden. Andererseits fühle ich mich um mein Leben als Mensch betrogen, denn in einer Welt zu leben, die durch nicht erkennbare Emotionen bestimmt wird, wird ewig schwierig bleiben.

Kaktus zum Valentinstag
00000000000_cover.html
b978-3-8436-0264-8_000017.xhtml
b978-3-8436-0264-8_000060.xhtml
b978-3-8436-0264-8_000079.xhtml
b978-3-8436-0264-8_000314.xhtml
b978-3-8436-0264-8_000321.xhtml
b978-3-8436-0264-8_000357.xhtml
b978-3-8436-0264-8_000381.xhtml
b978-3-8436-0264-8_000499.xhtml
b978-3-8436-0264-8_000733.xhtml
b978-3-8436-0264-8_000832.xhtml
b978-3-8436-0264-8_000927.xhtml
b978-3-8436-0264-8_001020.xhtml
b978-3-8436-0264-8_001095.xhtml
b978-3-8436-0264-8_001198.xhtml
b978-3-8436-0264-8_001305.xhtml
b978-3-8436-0264-8_001428.xhtml
b978-3-8436-0264-8_001684.xhtml
b978-3-8436-0264-8_001766.xhtml
b978-3-8436-0264-8_001963.xhtml
b978-3-8436-0264-8_002064.xhtml
b978-3-8436-0264-8_002207.xhtml
b978-3-8436-0264-8_002368.xhtml
b978-3-8436-0264-8_002496.xhtml
b978-3-8436-0264-8_002567.xhtml
b978-3-8436-0264-8_002636.xhtml
b978-3-8436-0264-8_002757.xhtml
b978-3-8436-0264-8_002821.xhtml
b978-3-8436-0264-8_002967.xhtml
b978-3-8436-0264-8_003041.xhtml
b978-3-8436-0264-8_003162.xhtml
b978-3-8436-0264-8_003242.xhtml
b978-3-8436-0264-8_003364.xhtml
b978-3-8436-0264-8_003444.xhtml
b978-3-8436-0264-8_003476.xhtml
b978-3-8436-0264-8_003586.xhtml
b978-3-8436-0264-8_003696.xhtml
b978-3-8436-0264-8_003871.xhtml
b978-3-8436-0264-8_004057.xhtml
b978-3-8436-0264-8_004198.xhtml
b978-3-8436-0264-8_004295.xhtml
b978-3-8436-0264-8_004811.xhtml
b978-3-8436-0264-8_004888.xhtml
b978-3-8436-0264-8_004958.xhtml
b978-3-8436-0264-8_005053.xhtml
b978-3-8436-0264-8_005150.xhtml
b978-3-8436-0264-8_005244.xhtml
b978-3-8436-0264-8_005319.xhtml
b978-3-8436-0264-8_005396.xhtml
b978-3-8436-0264-8_005518.xhtml
b978-3-8436-0264-8_005555.xhtml
b978-3-8436-0264-8_005617.xhtml
b978-3-8436-0264-8_005786.xhtml
b978-3-8436-0264-8_005853.xhtml
b978-3-8436-0264-8_006064.xhtml
b978-3-8436-0264-8_006205.xhtml
b978-3-8436-0264-8_006247.xhtml
b978-3-8436-0264-8_006368.xhtml
b978-3-8436-0264-8_006584.xhtml
b978-3-8436-0264-8_006621.xhtml
b978-3-8436-0264-8_006628.xhtml
b978-3-8436-0264-8_006649.xhtml
b978-3-8436-0264-8_006683.xhtml
b978-3-8436-0264-8_006694.xhtml
b978-3-8436-0264-8_006703.xhtml
b978-3-8436-0264-8_006742.xhtml