Nächster Halt: Hämelerwald
Inmitten all der Wirren der irdisch, zeitgebundenen Landung meines Sohnes sind wir nach Hämelerwald umgezogen. Dort fanden wir eine günstig gelegene Vier-Zimmer-Wohnung für meine frische Familie. Wohnzimmer mit Südausrichtung, terrassiger Balkon mit Westausrichtung, Küche mit Ostausrichtung, so wie ich das brauche.
Die neue Heimat habe ich bewusst ausgewählt. Hier gibt es Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte, Kindergärten und Schulen in Zufußentfernung, Nahverkehrs- und Bahnanschluss an Hannover, Autobahnanschluss, um schnell überall hinzukommen, auch zur Arbeit. Zudem ist es eine naturnahe Lage inmitten eines großen Waldgebietes, das sich für Erholung anbietet, und eine Lage in der Nähe der Omaopas.
Hier fühlen wir uns erst mal wohl. Kaum haben wir es uns rudimentär gemütlich eingerichtet, trete ich in Hannover bei einer Bundesbehörde meine erste richtige Stelle als Wissenschaftler an. Als Geophysiker. In meinem Traumberuf. Das wäre erst einmal geschafft!
Zum allerersten Mal im Leben kehrt so etwas wie beruflicher Alltag ein. Die Mau kümmert sich um Kind und Wohnung, während ich das Geld nach Hause bringe. Vor allem an den Wochenenden kutschiere ich Raphael im Kinderwagen durch den Ort.
Es dauert nicht lange, da merke ich, dass der Traumberuf kein Traumberuf ist. Denn schon nach einem Jahr bleibt mir am Abend eines Berufstages nur noch Energie für ein Trivialprogramm im Fernsehen: »Bitte lächeln.« Lachen über die Pannen und Missgeschicke anderer Menschen. Damit ich überhaupt mal zum Lachen komme.
In mir verstärkt sich der Eindruck, mein Lachen regelrecht an den Beruf verkauft zu haben. Beruf kommt doch von Berufung, die Arbeit will ich doch zum Großteil freiwillig machen! Wenn das nicht so wäre, würde das Leben trist und leer sein. Und das soll mein Leben ja gerade nicht werden.
Die Inhalte des Jobs sind durchaus das, was ich immer wollte: Forscher sein! Aber da ist einfach niemand, der an mich glaubt, der mich fördert, weil er einen direkten Nutzen aus meinen Ideen hätte. So denke ich mir das, weil ich aus irgendeinem Grund für die obendrein rätselhaften Spielregeln des Berufsalltags nicht gemacht zu sein scheine.
Ich empfinde den Job als extrem anstrengend. Und dabei halten sich die Überstunden in Grenzen. Daran liegt es also nicht. Und die Inhalte sind es auch nicht. Bleiben die Menschen, die merkwürdige Verhaltensweisen zeigen, die ich überhaupt nicht nachvollziehen kann.
Man sagte mir an der Uni einmal, dass man nicht so genau wisse, ob ich nun die Kapazität oder der Widerstand im System sei. Das hänge von der Frequenz ab, sagte ich damals. Ich wollte damit deutlich machen, dass es von den Bedingungen abhängt, ob ich kapazitiv wirken kann.
Damit ich wieder auf andere Gedanken komme, holen die Mau und ich erst mal die lange geplante und noch nie angegangene Namibia-Reise nach. Während ich volle Freude empfinde, weil ich erstmalig im Süden Afrikas Straßen und Gegenden sammeln kann, ist Martina immer wieder mit ihren Gedanken woanders. Nämlich zu Hause. Dort wohnt Oma Anita, die Mutter der Mau, bei unserem mittlerweile neun Monate jungen Sohn, während wir unterwegs sind.
Die Mau hat Raphael gestillt. Und ursprünglich sollte er mit auf Reisen gehen, aber die Mau hat ihn dann doch lieber abgestöpselt. Jetzt bekommt er von Oma Anita die Flasche. Kaum eine Stunde vergeht, in der sie mich nicht daran erinnert, wie sehr sie es bedauert, dass Raphael nicht bei uns ist. Irgendwie scheint sie nicht ganz bei der Sache in Namibia zu sein. Schade. Diesmal erlebe ich nicht, dass geteilte Freude doppelte Freude ist.
Seitdem ich die körperliche Unabhängigkeit von der Locken erhielt, das war am 3. Januar 1966, einem azurblauen Tag, hat die Erde mittlerweile dreißig Runden um die Sonne vollendet. Heute, zu meinem dreißigsten Geburtstag, erhalte ich von meiner Dienststelle eine Karte. Auf ihr ist eine zerlegte Kugel abgebildet, die das Innere der Erde darstellend preisgeben soll. Aus der so zerhackten symbolischen grauen Erde, die als Plastik auf dem Innenhof des Gebäudekomplexes meines Arbeitgebers steht, sprießt auf der Karte frisches Grün. Darunter steht: »Das Wissen über die Innenstruktur allein reicht nicht aus, um das Leben auf der Erde zu gestalten.«
Als ich diese Karte so in meinen Händen halte, frage ich mich, ob meine Kollegen diese Karte gerade für mich ausgewählt haben oder ob jeder so eine bekommt? Wie auch immer, ich fühle mich persönlich angesprochen. Denn es ist möglicherweise wieder einmal so ein Hinweis darauf, dass die Gestaltung des zwischenmenschlichen Lebens auf der Erde Vorfahrt vor allen genialen Fachkenntnissen und Ideen hat und haben wird.
Und dass die für diese Gestaltung genutzte Sprache der ungeschriebenen Gesetze für mich weiterhin nicht unmittelbar erschließbar ist, wie das offensichtlich für alle anderen um mich herum der Fall ist. Das Berufsleben bleibt für mich ein unauflösbar verknoteter Schnürsenkel.
Vor Ablauf der Befristung meiner ersten Stelle hängt am internen Schwarzen Brett eine Ausschreibung für eine Tätigkeit in Papua-Neuguinea. Ich bekunde mein Interesse. Ich komme auf die Liste der Interessenten, ich möge mir aber nicht allzu viel Hoffnung machen, sagt man mir. Doch einige Wochen später kontaktiert man mich, weil niemand anderes bereit sei oder sich traue. »Take your chance!«, sage ich mir.
So fliege ich am 1. September 1996, einem blassorangen Tag, nach Port Moresby. Zur Arbeit in der Südsee. In der Hitze. Unter Palmen. Im Dschungel. In einem kleinen, ärmlich eingerichteten Büro des staatlichen geophysikalischen Dienstes von Papua-Neuguinea. Dort bin ich Alien per Pass!
Man nimmt mich so, wie ich bin. Ich bin Berater für das Erstellen von Datenmodellen. Die Arbeit macht mir Spaß. Aber abends bin ich allein. Denn die Mau und mein Sohn Raphael sind zu Hause geblieben. So wie damals bei den Forschungsfahrten bin ich wieder allein und einsam.
Erst jetzt fällt mir auf, was ich in den letzten Jahren gehabt habe. Aber ich hatte wohl leider keine Energie mehr übrig, um es auch wahrzunehmen. Ich beschließe, mein Gnubbelchen und meinen kleinen Sohn, der nun fast zwei Jahre alt ist, hierher nachzuholen. Und suche mir dafür statt des Zimmers im Luxushotel eine möblierte Wohnung für Expatriates, wie die Ausländer hier heißen.
Die Wohnung liegt herrlich. Allabendlich springe ich in den Pool der Anlage. Wenn ich aus dem Fenster schaue, schweift mein Blick in die Weite auf die Owen Stanley Ranges, dem verdschungelten Hochland von Papua. Oft brauen sich darüber tolle Gewitterwolken zusammen, die viele Abende mit einem fern grummelnden Blitzlichtgewitter enden lassen. Es ist ein Teil der innertropischen Konvergenz, ein Begriff aus dem Erdkundeunterricht. So sieht sie aus!
Im Rahmen meiner Tätigkeit lerne ich auch einen Computerladen kennen, der ein interessantes Bild am Eingangsportal angebracht hat. Ein großer blauer Fluss, auf der einen Seite arbeiten die Menschen in modernen Büros, auf der anderen Seite gehen sie ihrer traditionellen Lebensweise im Dschungel nach. Da wird mir eine Komponente meiner Aufgabe klar: Ich bin hier, um eine weitere Brücke über diesen Fluss zu bauen. Es ist etwas, das ich kann. Weil ich eigentlich beide Welten, die ich verbinden soll, nicht verstehe, nicht wirklich kenne. Ich bin losgelöst von aller Voreingenommenheit. Das scheint mich in diesem Job stark zu machen. Ich bin keiner von denen, die der hiesigen Gesellschaft westliche Werte und Normen überstülpen wollen. Ich bin einer von denen, die den Menschen einen unter ihren Rahmenbedingungen gangbaren Weg zeigen sollen. Für mich ist es eine besondere Freude, Menschen, die im Dschungel ohne Strom und Wasser aufgewachsen sind, an moderne Computertechnologie heranzuführen. Ich bin derjenige, der in ihnen die Sehnsucht wecken soll, diesen Weg zu beschreiten. Aber das funktioniert nur, wenn man das, was da ist, akzeptiert.
Im Rahmen von sogenannten Weekend-Getaways lerne ich das Land punktuell kennen. Ich bin der einzige Ausländer, der sich traut, kreuz und quer durch das ganze Land der vermeintlichen Kannibalen zu reisen. Und überall, wo ich hinkomme, erlebe ich Gastfreundschaft, wie sie im Bilderbuch steht. Keine Spur von all den Konflikten, die in der Zeitung stehen. Nichts.
Am meisten beeindruckt mich Rabaul. Dort höre ich nachts das tiefe Bassgrollen des ausbrechenden Vulkans Tavurvur, nur wenige Kilometer von meinem Hotel entfernt, das inmitten einer Apokalypse liegt. Rabaul liegt nämlich im wahrsten Sinne des Wortes in Schutt und Asche, zusammengebrochen unter der tonnenschweren Last aus Vulkanasche. Die Spuren menschlichen Lebens, die mancherorts aus der meterhohen Schicht aus Vulkanasche ragen, zeigen, dass die Natur sich ihre Vorfahrt erzwingt.
Am liebsten würden die Menschen Vulkanausbrüche und Erdbeben abschalten. Weil es ihre sesshafte Schaffenskraft bedroht und immer wieder zerstört. Auch mich würden manche am liebsten abschaffen, weil ich anders bin, auch ich breche manchmal aus wie ein Vulkan, ohne Vorwarnung. Weil in mir etwas passiert ist, das andere nicht verstehen. Und dennoch siedeln die Menschen gerade hier. Weil Vulkane fruchtbares Land schaffen. So wie ich auch der Mau viele fruchtbare Dinge bieten kann.
Mit meinem Fahrzeug besuche ich auch die Dörfer, in denen die Mitarbeiter, die ich in diesem Land trainieren soll, aufgewachsen sind. Das ist für mich besonders eindrucksvoll. Echte Dschungeldörfer. Wie aus einem der Abenteuerfilme, wie ich sie in der Kindheit sah, um die exotischen Landschaften darin zu bestaunen. Auch hier wie überall im Land bin ich der Exot, der anerkannte Exot, im Gegensatz zu daheim in Deutschland.
Im November kommt endlich mein Gnubbelchen mit Raphael im Schlepptau am Flughafen von Port Moresby an. Endlich ist wieder Leben im Haus. Jeden Abend sind wir zusammen am Pool. Für mich die perfekte Abspannung. Und der Job, der macht hier jetzt erst recht weiterhin Spaß. Und abends am Pool habe ich endlich auch mal Zeit für Raphael. Es ist hochinteressant zu sehen, wie er beschwimmflügelt systematisch die Wassertiefen im Pool erforscht. So wie ich es auch getan hätte. Wobei er anfangs der Tragfähigkeit seiner Schwimmflügel misstraut!
Der Job in Papua-Neuguinea endet mit einem Familienurlaub in Australien. Auf dem Weg dorthin muss ich erstmalig in meinem Leben den Fensterplatz im Flieger einem anderen Familienmitglied überlassen, meinem Sohn. »Hoch – hoch – hochhoch!«, juchzt er, als die Maschine in Port Moresby Richtung Cairns mit einem letzten Blick auf unsere zeitweilige Heimat abhebt.
Kaum sind wir angekommen, geht es in die herrlichen Weiten des Outbacks. Ayers Rock und die Kata Tjuta fordern unsere Wanderkünste. Der Buggy versagt, meine Schultern müssen als Transportmittel herhalten. Raphael lernt das Leben im „Stoffhaus« kennen, wie er unser Zelt nennt. Das erste gemeinsame Abenteuer meiner jungen Familie ist ein voller Erfolg.