Am Tor zum Ich

Paris, Aéroport Charles-de-Gaulle. Draußen dunkelt es. Es ist Januar, seit einigen Tagen schreibt man das Jahr 2007. Ich bin dienstlich unterwegs. Mein Air-France-Flug ist zum Einsteigen bereit. Auf dem Weg zum Flieger erblicke ich in der milchig buntenden Abenddämmerung des Westhorizontes den in den Nachrichten angekündigten Kometen McNaught. Erinnerungen an März 1976 werden wach. Damals beobachtete ich im Morgengrauen den Kometen West am Osthimmel.

Leider grüßt mich McNaught nur wenige Minuten, bevor ich »das Borden completen« muss, um nicht vergessen zu werden. Dieser Komet erscheint eigenartigerweise wie ein Zeichen, das zu mir sprechen will. Sehr bald würde sich in meinem Leben etwas ändern, sagt mir eine innere Stimme. Aber was? Finde ich bald einen anderen Job, der endlich mal wieder meine Stärken nachfragt? Oder gibt es Schwierigkeiten mit der Gesundheit? Oder wird mich die Mau doch noch verlassen wegen meines merkwürdigen Verhaltens? Oder werde ich doch wieder ins gute Wetter ziehen? So ein Quatsch, ich bin doch nicht abergläubisch! Und dennoch. Es gefühlt sich sonderbar. Schließlich borde ich den Flieger. Die Linien der Taxiways ziehen am Fenster vorbei. Die gläsernen Randbefeuerungen an der Startbahn jagen sich immer schneller, bis sie nach unten wegfallen. Abgehoben.

In Frankfurt wolkt der Himmel, und als ich einen Tag später endlich wieder in Silencia bin, entwolkt sich endlich der Himmel wieder. Gegen Abend himmelt es blau. Ich gehe ins Feld, vorbei am rotrunden Durchfahrtverboten des Asphaltweges. Und starre gen Südwesten. Kein Kometkucken mehr möglich, der war schon in Australien und Neuseeland zu Besuch, jenseits des Horizonts, irgendwo unter mir. So soll ich wie damals den Kometen West auch McNaught kein zweites Mal sehen. Auch diesmal ist die Begrüßung gleich der Abschied.

Im weiteren Verlauf meines Lebens wird alles nur noch schwieriger. Manchmal starre ich stundenlang auf das Niederschlagsradar im Internet. Es ist himmelhoch ergötzend zu beobachten, wie sich Regengebiete und Gewitter über Deutschland entwickeln und weiterziehen. Schon immer faszinierte mich, wie sich etwas fortbewegt. So wie mich früher die vorbeizischenden Autos an der Autobahn oder das Wachsen von Wasserflüssen aus einer umgekippten Gießkanne glückten.

Nun sitze ich am Abend wieder einmal im Fernseh- und Musikzimmer unserer Wohngemeinschaft, um Abwechslung zu finden. Dieses Mal bin ich dort alleine. Ich schalte den Fernseher ein, um Nachrichten zu schauen. Es erscheint das Programm von RTL.

Dann fällt mein Blick auf das Klavier. So setze ich mich mal wieder davor, beginne zu singen und klaviere einhändig Noten als Stützräder zu meinem Gesinge, um den richtigen Ton zu treffen. »Manchmal geh ich meine Straße ohne Blick …«, singe ich, das Lied mit den »sieben Brücken« hat es mir angetan. Derweil zwischelfernsehert es leise im Hintergrund weiter.

Dann pausiere ich mit dem Gesinge und setze mich vor die alte Glotze. Ich will gerade weiterzappen, als ich eine chemische Versuchsapparatur sehe, die zunächst mein Interesse erregt. Sie steht im Zimmer eines etwa achtzehnjährigen Jungen, dessen dargestelltes Verhalten mich ganz eigenartig an mich selbst erinnert. So wie ich ordnet er Hefte und Stifte akkurat auf dem Schreibtisch an.

Arbeitet da einer beim Fernsehen, der mich kennt, zum Vorbild einer Rolle gemacht und dann entfremdet hat? Das frage ich mich, so auffällig ist das. Er ist zwar ein anderer Mensch als ich, aber subtil ist er genauso wie ich, das spüre ich. Daher zappe ich zunächst noch nicht weg. Denn das muss ich mir genauer ansehen.

Er scheint genauso subtil Schwierigkeiten zu haben, Menschen zu verstehen wie ich. Zum Beispiel darf auch bei ihm niemand etwas in seiner Ordnung verändern, sonst rastet er aus. Das alles ist äußerst interessant! Denn in letzter Zeit studiere ich ja gerne das Verhalten der Menschen, um das Unverstandene zu verstehen. Bisher vergebens.

Der Junge sitzt mit seiner Freundin an einem Gewässer, als die Polizei auftaucht. Es stellt sich heraus, dass er offenbar seit seiner Kindheit panische Angst davor hat, in ein Heim eingewiesen zu werden. Lieber wäre er tot. Das trifft mich tief. Ein Gefühl, das mir so sehr vertraut ist.

Szenenwechsel. Man sieht das Sekretariat irgendeiner Schule. Ich schnappe beiläufig einen Satz auf: »… er hat das Aspirga-Syndrom …« Was soll das denn sein?, frage ich mich. Der schien doch ganz gesund zu sein! Leider wurde ich aus dem Film, was das angeht, nicht schlau.

Kaktus zum Valentinstag
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