El Condor Pasa und das faszinierende Nichts
Ich bin auf dem Weg nach San Pedro de Atacama im lebensfeindlichen Nordchile. Durch das Busfenster starre ich auf die beeindruckende Landschaft eines fremdartigen Planeten. Eines Planeten, der kein Leben hat. Denn draußen zieht eine völlig vegetationslose Gegend vorbei. Ich fühle mich, als säße ich in einem Bus, der unterwegs ist auf der Marsoberfläche.
Was draußen an Leben fehlt, ist im Bus zu viel vorhanden. Denn hier läuft ein Busfilm, so nenne ich diese charakteristische Art von Gewaltactionfilmen, die immer nur in Bussen zu sehen sind. Der Ton ist viel zu laut gestellt, und die Akteure im Film kämpfen ums Überleben, und ich auch, gegen den Lärm und die Vorhänge. Denn die Leute im Bus interessieren sich viel mehr für diese gewaltvolle Fiktion als für die ganzen tollen Strukturen in der Wüste, die da draußen am Bus vorbeiziehen.
Es passiert etwas in mir, das ich so noch nie vorher erlebt habe. Ich werde unter dem Einfluss der Busfilmmusik depressiv, wenn ich nach draußen schaue. Denn die völlig vegetationslose Atacamawüste sorgt plötzlich in mir für ein turbulentes emotionales Umkippen. Die übersichtliche Herrlichkeit, die phantastischen Farben und Formenspiele weichen einer ganz anderen Sichtweise: Das ist totes Land. Kein Leben. Keine Liebe. Kein Tanzen. Keine Martina.
Haben deswegen die Passagiere die Vorhänge zugezogen? Sehen sie nicht die Faszination einer außerirdisch anmutenden, klaren und übersichtlichen Welt, sondern einfach nur das menschliche Nichts? Ich bekomme einen gedanklichen Screw-up. Warum bedeuten mir genau jene Dinge viel, die für die anderen das Nichts sind? Und warum sehe ich auf einmal noch etwas ganz anderes? So als wenn Licht durch eine unsichtbare Mauer fällt.
Als schließlich der knall- und kugelhagelreiche Gewaltfilm im Bus zu Ende ist, stellt der Busfahrer endlich friedliche, sanfte Musik an. Erst erklingen südamerikanische Takte, die Freude verbreiten und meine Stimmung heben. Sie untermalen auf wundersame Weise das Wüstenerlebnis. Wie Filmmusik, die der Gegend Kultur gibt.
Später wechselt der Fahrer die Kassette. Nun erreichen englischsprachige Balladen mein Ohr. Kuschelrock, der nicht zur Gegend passen will. Als aber dann auf einmal das Lied Oceans apart ertönt, kommt es erneut zu einer extremen emotionalen Verstärkung. Noch nie habe ich dem Text so intensiv zugehört wie in diesem Moment.
Ich fühle mich, als sei das Ganze ein Film, den ich träume. So kneife ich mich, doch ein Erwachen aus einem Traum findet nicht statt. Der Film, in dem ich meine Rolle spiele, der ist echt – es ist der eigene Lebensfilm – aufgenommen von der Kamera Gottes. Das echte, eigene Leben. Das hat nur ein »Take«.
Ein weiterer emotionaler Höhepunkt auf dem langen, teilweise stürmischen Weg ins jenseitige Land erwartet mich in Peru. In den letzten Jahren machte dort laut Medienberichten der »Sendero Luminoso« die Gegend unsicher, eine maoistische Organisation, die bürgerkriegsartige Zustände verbreitete. Trotzdem breche ich auf, um Cuzco, die einstige Hauptstadt der Inkas im peruanischen Andenhochland, mit dem Zug zu erreichen.
Ob ich denn keine Angst haben würde, angegriffen und überfallen zu werden, fragt man mich, als ich mir in Puno am Titicaca-See das Zugticket besorge. Ich hätte so einen eigenartigen Blick und Leuten, die Angst haben, könne man die Strecke nicht empfehlen. Komisch. Ich weiß nicht, woran man erkennen könnte, ob jemand Angst hat. Kann man das? Ich habe keine! Also los, auf nach Cuzco!
So genieße ich das Holpern, Ruckeln und Klackern des Zuges. Und die tollen Berge der Anden. Die Landschaft ist überwältigend. Die anderen Menschen im Zug nehme ich nur als Kulisse wahr. Meistens papageienbunte, fassrunde, gezopfte Indios. So erreiche ich Cuzco, die Stadt der dicksteinigen Mauern und der regenbogenbunten Fahne, ohne irgendwelche Probleme.
Cuzco wirkt menschenleer. Herrlich. Ein paar wenige weitere Weltenbummler haben sich auch hierher gewagt. Man trifft sich zu einem Informationsaustausch im »Chez Maggy« – der wohl besten Pizzeria in ganz Cuzco.
Es scheint problemlos möglich zu sein, auch noch bis nach Machu Picchu, jener sagenhaften Inkastadt im gebirgigen Dschungel der Anden, weiterzufahren. So erreiche ich gemeinsam mit wenigen anderen Globetrottern und vielen rockbunten Indios das Dorf Aguas Calientes im tiefschluchtigen Dschungeltal des Rio Urubamba.
Von dort geht es gleich weiter mit einem Minibus eine schön serpentinige Straße rauf nach Machu Picchu. Nachdem ich mir einen ersten Eindruck verschafft habe, gehe ich den Inkaweg ein Stück weit rauf, um einen Überblick über die gesamte Anlage zu bekommen.
Es sind nur ganz wenige Touristen da. Und als auch diese schließlich mit einem kleinen Bus wieder den Serpentinenweg runter ins Urubamba-Tal fahren, verbleibe ich gefühlt ganz allein in der Anlage.
Wo ich auch immer hingehe, ich sehe keinen einzigen Menschen mehr hier oben in Machu Picchu. Auf einmal höre ich ganz leise und von Ferne, dann immer näher kommend Panflötenklänge. Ein magischer Moment! Dann biegt plötzlich ein panflötender Indio um eine Mauerecke. Als er immer weiter auf mich zukommt, spielt er das weltbekannte Lied El Condor Pasa für mich. Ich muss an Martina denken!
Wieder einmal liefert mir das Universum die geradezu perfekt passende Musik zum eigenen Erleben. El Condor Pasa, es ist zudem eines meiner Lieblingslieder. Es ist emotional durchdringend wie kaum ein anderes Lied.
El Condor Pasa und der Indio mit der Panflöte in der erhabenen Stille von Machu Picchu werden zum Botschafter eines Landes, dessen Existenz viele Menschen nicht für möglich gehalten haben. Denn es gebe kein Land hinter so viel Wasser – weil keine Liebe eine solche Trennung überstehen würde. Ich spüre, dass es bei mir anders ist.
Ich lasse die Sonne noch untergehen, dann erst laufe ich den serpentinigen Weg durch den Dschungel talwärts nach Aguas Calientes, um mir eine Bleibe zu suchen. Zwei Tage später verabschieden mich die Einwohner des kleinen Dorfes im Urubamba-Tal mit einem mehrfachen: »Muchas Gracias. Thank you for visiting Peru!«
Und für mich ist es die Stelle, an der ich erstmalig den Wind vom jenseitigen Ufer des Ozeans spüre. Denn ich bewege mich fortan in Richtung Heimat. So gelingt es mir schließlich, die Sehnsucht des in mir steckenden Entdeckers vollständig sättigend zu befriedigen. Die ganze Panamericana zwischen Rio de Janeiro und Südperu kann ich einsammeln, bevor das Ende des unermesslichen Ozeans sich durch die Reise zum Flughafen in Santiago de Chile ankündigt.