Wendhausen – wo das BÜS nie kam
Der Kalender zeigt den 24. Oktober 2006, ein rostrotgrüner Tag. Die Mau und ich fahren mit unseren RaRas nach Wendhausen. Dort wollen wir uns einen neuen Kamin aussuchen. Nachdem wir uns entschieden haben, sage ich zur Mau und den RaRas: »Ich möchte noch einmal dahin fahren, wo ich früher immer Autonummern aufgeschrieben habe, da wo die Sehnsucht nach Ferne mich packte.«
»Muss das sein?«, fragt die Mau.
»Ja!«, antworte ich.
Still lenke ich unseren blauen Bus nach rechts. Durch den Ort Wendhausen, vorbei an alten Fachwerkhäusern. Zur B 6. Darauf ein wenig Richtung Hildesheim, und dann nach links, in den Wald, Richtung Bad Salzdetfurth. Kurze Zeit später fahren wir unter der Betonklotzbrücke durch, die wie ein Fremdkörper im Wald thront. Darüber düsen bunte Blechblasen und graue Kästen. Wie damals in den längst vergangenen siebziger Jahren.
Der Waldrand lückt für uns eine Parkung, genau da, wo vor mehr als dreißig Jahren der kleine Tomai immer in den Wald ging. Ich lasse die Mau und die RaRas im Auto zurück. Sie wollen nicht mit. Ich bin darüber auch froh. Ich will jetzt lieber wieder allein sein. So geht Dr. Peter Schmidt jetzt den gleichen Weg wie damals der kleine Tomai.
Steil bergan, dann auf eine Lichtung und von dort nach rechts unten um die Ecke. Jaaaaah, da ist er noch, der Platz, der viele Jahre meine Welt bedeutete. Ich sehe den kleinen Tomai, wie er juchzte, als er hier das erste Mal SÄK sah, ein Kennzeichen mit einem Ä drinnen. Und wie er vergebens wartete. Auf das Kennzeichen BÜS, das nie kam.
Und wie die vielen bunten Autos vorbeizischten und die Laster vorbeibrummten. Dr. Peter Schmidt wird der kleine Tomai. Es packt mich wieder. Ich juchze, flattere und zappele immer noch genauso wie der kleine Junge von einst. Nichts hat sich im Innersten von mir geändert. Noch heute könnte ich hier stundenlang stehen, wäre ich allein.
Nur mein Autonummernbuch von damals, das habe ich nicht dabei. Aber alles andere ist noch genauso wie früher. Halt, nicht ganz. Da sind mehr Fahrspuren auf der Autobahn. Man hat sie breiter gemacht, ausgebaut! Aber mein Autonummernplatz, der ist noch genauso da, wie zu der Zeit, als ich acht bis zehn Jahre alt war.
Ich träumte davon, wie es da aussehen mag, wo die Autobahn herkommt und wo sie hingeht. Heute weiß ich es: vom Nordkap bis zum Kap der Guten Hoffnung. Die große Nord-Süd-Verbindung. In Deutschland heißt sie A 7. Ich bin mittlerweile fast die gesamte Strecke selber abgefahren.
Norwegen, Schweden, Dänemark, Deutschland, Österreich, Italien, Tunesien, Algerien, Niger. In der Sahara war die Straße 2002 südlich von Tamanrasset nur noch Sand. Durch die Savannen Afrikas, in Namibia, durch die Karroo bis nach Kapstadt, Südafrika.
Die kühnsten Träume des kleinen Tomai wurden wahr. Er hat mit eigenen Augen gesehen, wo die Autobahn herkommt und wo sie hingeht. Ich finde Befriedigung in mir selbst. Obwohl ich mich riesig flatternd freue, dass einer meiner Kinderträume tatsächlich in Erfüllung ging, beginnen meine Augen zu regnen.
Ich denke derweil wieder an die Autonummern. Ich lasse meinen Gefühlen freien Lauf, ich setze mich nieder und lausche dem Konzert der Autos und Laster. Ich versinke in die Welt des kleinen Tomai, der hier alles notierte und sortierte, was zu sehen war. Der auf eine Autoschlangung hoffte, die nie kam. Kein Umfall, ja, damals dachte ich, das heißt wirklich »Umfall«, weil Autos umfallen können, wenn sie zusammenstoßen.
Nichts passiert, nur die monotone Musik der Motoren und Reifen schiut vorbei: »Schiu –schiu –schiu«, »bruuuuhhhm«, ein Laster, – »schschschiiiuuu« und wieder etliche schnelle Autos hinterher. Ich zeite mich ins Jahr 1974 – und regne mich ein. Ich sehe, wie sich das Autonummernbuch füllt und füllt – und doch fehlt irgendetwas. Warum kann bis heute niemand diese Freude mit mir teilen? Die Menschen waren und sind so anders.
Ich beginne final zu begreifen, dass es etwas Grundlegendes gibt, das auf Entdeckung harrt. Das mich tatsächlich fundamental von allen unterscheidet. Ich spüre, dass aus Sicht der anderen irgendwas nicht stimmt. Irgendwas trennt mich von den anderen. Wie Wasser eine Insel vom Rest der Welt trennt. Das spüre ich.
Ich sehe immer Dinge, die andere nicht sehen und umgekehrt – das hat Vorteile und Nachteile – mein Gesicht regnet noch mehr, als ich an die Nachteile denke. Ich habe meine eigene Familie wie erträumt letztendlich gegen alle unsichtbaren Mauern und Kräfte bekommen und fühle mich doch in meinem Innersten irgendwie einsam. Denn niemand versteht mich. Niemand will mich wirklich verstehen. Ich bin T-T-T, total, total traurig.
Die Gedanken holen mich schließlich zurück nach 2006. »Charlie, die warten ja da unten im Auto auf dich!« Es ist wie damals, ich kann mich nicht verabschieden, ich könnte mich stundenlang ergötzen an diesem Vorbeirauschen der Autos. Immer wieder gehe ich los und wieder zurück. Jetzt, wenn das nächste Auto die Brücke passiert, dann ist Schluss mit Kucken. Und wieder doch nicht. Irgendwann schaffe ich es, der Anziehungskraft dieser Stelle zu entkommen.
»Wo warst du denn bloß so lange? Wir warten hier und warten und warten. Du wolltest doch bloß mal kucken?!«
»Bloß mal kucken, ihr habt keine Ahnung, welche Bedeutung diese Stelle in meinem Leben einmal hatte – und immer haben wird!« Den kleinen Tomai, den kennt die Mau bis heute nicht, denn davon habe ich ihr, glaube ich, noch nie etwas erzählt. Das kann sie gar nicht verstehen – will sie vermutlich hier und jetzt auch gar nicht verstehen. Ich glaube, sie hat auch noch nie meine autonummernvollen Hefte gesehen, die bei der Locken noch irgendwo auf dem Boden herumliegen müssen.
»Da sind doch nur stinkende Autobahnabgase und viel Lärm, sonst nichts!«, sagt sie.
»Da ist viel mehr, aber ihr seht das ja alles nie! Lasst mich in Ruhe. Fahren wir nach Hause, okay?«, kontere ich.
»Ja, bitte! Wir wollen endlich los!«
Auf dem Weg nach Obersilencia hänge ich den Gedanken nach, der kleine Tomai – der kleine Tomai – der kleine Tomai. Es gibt ihn nicht mehr – und es gibt ihn doch noch.
»Was ist denn los?«, fragt die Mau.
»Was los ist, ich bin T-T-T!«
»Warum?«
»Keiner versteht mich! – Ich darf nicht mehr der sein, der ich eigentlich bin, das ist Ä-B!«
»Äußerst bedenklich? Wie meinst du das?«
»Als kleiner Junge war ich so fröhlich und interessiert an allem. Heutzutage ist das immer öfter ganz anders, weil ich im Laufe meines Lebens feststellen musste, dass Erfolg damit steht oder fällt, ob man mit den Menschen blöden Small Talk machen kann. Was hatte damals der Seminarleiter gesagt? ›Sie sind ein hervorragender Stratege, Sie haben offenbar einen hohen IQ, aber es gibt Dinge, das sind Basics, Herr Dr. Schmidt, BASICS, die jedes Grundschulkind bereits beherrscht, wo Sie riesige Lücken haben.‹«
»Und das macht dich T-T-T?«
»Ja, weil diese Lücken so sind wie bei einer Autobahn, die nicht zu Ende gebaut ist. Die ganze Verbindung ist wertlos, mein ganzes Streben, weil ich irgendetwas nicht sehe oder habe, was ihr alle habt und ich offenbar niemals – NIEMALS – haben werde.« Ich platzregne. Dann fahre ich fort: »Ich weiß nicht, ob ich 2008 noch da bin. Meine Visionen zerbrechen gerade an diesem Problem. So wie eine Autobahn, die um die entscheidenden Engpässe ewige Baulücken hat, so dass sich dort die Staus bilden, so dass damit die ganzen bereits gebauten Autobahnteile für den Durchgangsverkehr entwertet sind. Wie beispielsweise bei der A 66 in und um Frankfurt.«
»Freu dich doch über das, was du bauen konntest! Stattdessen siehst du immer mehr das, was du nicht bauen kannst!«
»Wenn man mir das vorher gesagt hätte, hätte ich auch das Gebaute gar nicht erst gebaut. Wozu? Es macht erst bei Vollendung des Gesamtwerks Sinn, so wie ein Puzzlespiel erst fertig ist, wenn die letzten Lückungen zugepuzzelt sind!«
»Vielleicht solltest du dir einen anderen Job suchen?«
»Nein, dieses Problem scheint fundamental zu sein, es war immer da, ob ich Schüler war, Student, Wissenschaftler, Projektleiter oder was auch immer. Dafür brauche ich keinen neuen Job, bestimmt nicht! Außerdem weiß ich, was ich an dem Job habe – leider auch, was nicht! Aber die Bilanz sieht woanders vermutlich auch nicht viel besser aus!
Denn es gibt keinen Job, bei dem ich unter fremder Führung für andere arbeiten muss, der mir gefallen könnte. Das kann es gar nicht geben. Dafür bin ich nicht geschaffen. Und das wird mich vielleicht früher oder später fertigmachen.
Mich hochdienen, das kann ich nicht! Die wollen, dass ich erst schießen lerne, bevor sie mich zum General befördern. Ich kann aber nicht schießen. Aber ein General beziehungsweise ein Professor, der ohne das ganze tierisch-menschliche Hierarchiengehabe forscht, könnte ich sehr wohl sein. Aber so ein Professor bekommt überhaupt keine Chance. Weil nicht IQ, sondern EQ regiert. Warum soll ich noch leben?«
Stille im Wagen. Nur das Rauschen der Fahrgeräusche begleitet uns.
Ab 2008 würde die hausrettende Lebensversicherung auch bei Selbstmord zahlen. Daher ist diese Zahl zum Synonym dafür geworden, dass ich zeitweise fühle, bereit zu sein, um zu sterben. Ich möchte einfach durchgreifenden Erfolg haben oder nicht mehr weiterleben.
Ich habe mir mühsam rational erarbeitet, wie diese Spielregeln im Berufsleben funktionieren. Und ich habe es begriffen. Aber ich kann sie nicht selber spielen, da fehlen mir die entscheidenen Skills. So muss man zum Beispiel in der Lage sein zu erkennen, ob jemand gelangweilt oder interessiert ist, um dementsprechend mit seinem Werk fortzufahren. Bei mir scheitert es daran, dies nicht zu sehen.
Das Jahr, das über Leben und Tod entscheiden soll, 2008, es ist noch so weit in der Zukunft. Aber ich spüre, es ist das Jahr, in dem du begreifen wirst. Das Jahr der Gran Tournante. In dem endlich mal etwas anderes hinter dem nächsten Gebirgsrücken auftaucht. Das Jahr, in dem du noch mehr und vor allem anders als jetzt zurückblicken wirst. Aber von wo? Und warum? Was ist das bloß für ein eigenartiges Gefühl? Irgendwas stimmt nicht. Irgendwas liegt in der Luft. Irgendwas ist da, was ich wissen muss und soll, um zu verstehen.