Ozeanische Trennung
Ich blicke in der horizontenen Ferne auf sehr viel Wasser, das grell glitzert. Bis zum fernen Horizont. Sonniges Wasser. Strahlendes Wasser. Wogendes Wasser. Ein Ozean voller Ungewissheit kündigt sich an. Ein unermesslicher Ozean auf der Route meines Lebens. Unendliche Weiten wogenden Wassers wollen nun überwunden werden, um dahin zu kommen, wohin meine Sehnsucht mich zieht.
Das Leben will offenbar, dass ich diesen Ozean spüre. Dass ich ganzheitlich verarbeiten kann, was mir bevorsteht. Der Ozean markiert den Wechsel von einer Lebenswirklichkeit in eine andere. Da wartet jenseits des glitzernden Wassers ein ganz anderer Kontinent auf mich. Ein Leben in Gemeinschaft. Aber nur dann, wenn die lange, ungewisse Seereise gelingt.
Nicht wenige Menschen prognostizieren uns, dass meine lange Reise das Ende unserer noch viel zu jungen Liebe bedeutet. Eine so lange Zeit der Trennung am Beginn einer Liebe könne nicht gut gehen. Wie so oft im Leben sehe ich das ganz anders, sonst würde ich es nicht riskieren.
Als ich darüber mit meiner Vermieterin rede, sagt sie folgenden Satz: »Herr Schmidt, es gibt eine Lebensweisheit, die geht so: ›Was du liebst, lass frei. Kommt es zurück, gehört es dir – für immer.‹ Lassen Sie also los, fahren Sie nach Südamerika! Wenn diese Frau Sie aufrichtig liebt, dann wartet sie auf Sie! Wenn nicht, würden Sie sie sowieso irgendwann einmal ganz schnell verlieren. Ich habe eine gute Menschenkenntnis, Herr Schmidt, ich glaube, sie wartet auf Sie!«
Dennoch fällt es mir schwer, nun in See zu stechen. Aber der Strom der Zeit, der mich seit meinem gefühlten Dasein körpernd mitreißt, will, dass ich jetzt und hier diesen Ozean quere. Dass ich die Ungewissheit wage, um Gewissheit zu bekommen.
Der 6. Juni 1992 ist ein glasrosafarbener Samstag. Er beginnt fröhlich und sattsonnig. Wochenlang ist bereits tollstes Sommerwetter in Schleswig-Holstein. Eine meteorologische Steilvorlage für unsere reifende Beziehung.
Martina und ich sitzen frühstückend in unserer Loggia. Draußen blüht der Flieder noch immer lilafarben. Im Flur steht mein gepackter Rucksack. Unserer jungen Liebe steht die härteste aller Proben bevor. Eine Trennung auf Zeit!
Denn ich muss dem Lockruf des in mir steckenden Entdeckers folgen, es ist der kleine Tomai, der alles sehen will, bis er versteht. Der Tag ist gekommen, an dem ich Martina in unserer frisch bezogenen Wohnung allein zurücklasse.
Seit dem 1. Juni wohne ich nicht mehr bei der Vermieterin, sondern in einer WG mit Martina. Wirklich eingerichtet ist unsere gemeinsame Wohnung noch nicht, wir machen quasi Camping darin. Luftmatratzen und Plastikgeschirr sind die erste Einrichtung.
Ich werde heute am 6. Juni vom diesseitigen Ufer in See stechen und dann auf das offene Wasser hinausziehen. Wenn alles gut geht, dann werde ich am 19. September das ferne, jenseitige Ufer erreichen.
Das Parlament hat das so entschieden. Ein erbitterter Kampf zwischen meiner Intuition gegen meine Ratio. Die Sehnsucht nach Entdeckung der Welt, sie gewinnt. Die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Verlässlichkeit, nach heimatlicher Wärme und Liebe, sie verliert. Knappe Entscheidung: Mit 51:49 wird der Kampf zugunsten der geheimnisvollen Kraft der Intuition entschieden.
Es muss so sein. Denn der Plan zur Erforschung des Ozeans wurde bereits aufgestellt, lange bevor ich Martina kennen lernte. Zum einen kann ich es nur schwer ertragen, Pläne zu ändern, vor allem dann, wenn ich mich bereits auf deren Durchführung eingestellt habe. Zum anderen kann Martina leider nicht mit, denn sie würde für eine so lange Zeit keinen Urlaub bekommen.
Und außerdem muss ich die Überquerung des Ozeans ganz alleine schaffen. Sie findet nicht nur in Gedanken statt, nein, sie wird bildgewaltig im echten Leben erfolgen. So braut sich in mir ein seltsamer Emotionscocktail aus Trauer und Freude zusammen.
Da fällt mir der alte Kassettenrekorder ein. Die richtige Musik zur richtigen Zeit wirkt wie eine Entschleierung des Zugangs zu eigenen Gefühlen. Musik ist nach wie vor der ideale Trigger und Verstärker für Emotionen. Passend zur Situation wähle ich Musik von John Denver aus: »All my bags are packed, I’m ready to go …«
Es dauert nur wenige Minuten, bis unsere Gesichter regnen. Der Film, zu dem diese Musik spielt, ist unser Film, er ist echt. Wir sind mittendrin. Während ich der John-Denver-Musik lausche, spulen in mir im Schnelldurchlauf die vergangenen Monate ab. Monate, in denen ich über Menschen mehr gelernt habe als in zwei ganzen Jahrzehnten davor.
Als das Lied Calypso aus dem Rekorder dudelt, überblendet sich vor meinem geistigen Auge Jacques-Yves Cousteaus Forschungsschiff »Calypso« mit dem Forschungsschiff »Sonne«, das mit mir an Bord in die unendlichen Weiten des Pazifischen Ozeans stechen wird. Ohne Martina. Ohne Liebe. Ohne Sommer, denn auf der Südhalbkugel wird es früh dunkel, da ist jetzt Winter!
Bei diesen Gedanken gibt es Starkregen im Gesicht. Tränenflüsse, die zwei Gesichtern entspringen, vereinen sich zu einem. So wie Breg und Brigach zur Donau werden, so wie Werra und Fulda zur Weser werden. Es ist der stärkste Regen in meinem Gesicht, seit ich Gesa an dem Weg mit den rauschenden Tannen ziehen lassen musste.
So findet der emotionale Abschied von Martina noch in der Wohnung statt. Dann ist es so weit. Zeit, um auf Wiedersehen zu sagen. Zeit, zu gehen.
»Ich warte auf dich, ich verspreche es. Du kannst mir vertrauen. Ganz bestimmt!«, sagt sie, noch ein Blick auf unser Türschild, das uns als Tanzpärchen zeigt, dann gehen wir zusammen die hölzernen Treppen runter zur Straße.
Wir fahren mit dem Bus zum Flughafen nach Hamburg. Noch einmal küssen wir uns, beide gesichtsregnend. Ich will die Forschungsfahrt machen und Südamerika erleben. Und ich will nicht von ihr weg. Die Zeiger der Uhren rücken unaufhaltsam weiter. Es reißt mich durch die Absperrung fort. Noch einmal schaue ich zu ihr rüber, durch die uns nun trennende Glasscheibe, dann drehe ich mich um und folge traurig meinem inneren Ruf nach Ferne.
Ich bin in See gestochen. Noch ein kleiner Zwischenstopp in Frankfurt. Die allerletzte Chance, billig und problemlos mit meinem Gnubbelchen zu reden. Ich rufe sie noch einmal an, nur um ihr noch ein allerletztes Mal vor dem großen Wasser, unserer ozeanischen Trennung, zu sagen:
»Ich liebe dich so. Vergiss mich nicht. Bis September!« Dann lege ich auf. Klack.