Einblick in eine fremde, emotionale Welt
Das Formatieren wird in der nächsten Auto-Session fortgesetzt. Die meisten Sektoren sind bereits zu meiner Zufriedenheit geklärt.
»Bis auf die Reise- und Tropentauglichkeit, die natürlich erfüllt sein muss, damit wir auch viele Reisen in alle Welt zusammen machen können, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass wir trotz oder gerade wegen der ganzen klärenden Auto-Sessions, die unsere Wahrnehmungsunterschiede zusammenbringen sollen, gut zusammenpassen. Aber ich weiß bis heute nicht, ob du das genauso siehst?«
Stille.
Dann sagt sie auf einmal: »Ich schreibe Tagebuch. Dort habe ich auch über uns bereits viel notiert. Ich habe den Eindruck, dass du mich nicht verstehst. Wenn du möchtest, bringe ich es morgen mal mit. Und dann darfst du es mal lesen. Vielleicht verstehst du dann, was mich bewegt und warum. Du scheinst nicht zu wissen, wie die Dinge, die du machst und sagst, auf andere wirken.«
Als wir uns das nächste Mal wieder bei Frau Vogt in Gettorf treffen, gibt mir Martina ihr Tagebuch. Ein rotes, stoffchinesisches Büchlein mit blumig eingerahmten Segelschiffen auf der einen und Fischen auf der anderen Seite. Wie Wasserzeichen im Papier. In diesem Buch lese ich für mich ganz, ganz merkwürdige Dinge.
»Das Einzige, was mich an ihm stört, ist seine ewige Angst, dass ich nicht die Richtige für ihn sein könnte. Bei allem, was ich sage und was für ihn auf den ersten Blick unverständlich erscheint oder was er auch einfach missverstanden hat, ist er gleich erschreckt und ich muss ihn erst mal beruhigen! Ständig lebe ich in der Angst, dass ich irgendetwas an mir haben könnte, was ihn vielleicht doch so erschreckt, dass er mich fortschickt.«
Das ist ja interessant, sie hat also Angst, dass ich sie in die Prärie schicke, während ich Angst haben soll, dass sie nicht die Richtige für mich ist. Aber kann man das Angst nennen, wenn ich Bedenken habe? Skepsis würde ich das eher nennen. Natürlich bin ich erschreckt, wenn wieder etwas kommt, was ich so nicht geplant habe. Sind denn andere Menschen nicht so? Ist das Angst? Für mich ist es eher Frust, Wut, Verzweiflung, aber unter Angst verstehe ich etwas anderes. Wenn ich früher als kleiner Junge vor dem Unbeherrschbaren, dem Gewitter Angst hatte, so große Angst, dass ich schrie, dass ich mich unter der Bettdecke verkroch, weil ich dem nicht ausweichen konnte. Aber das, was Martina hier beschreibt, ist für mich keine Angst, weil ich doch jederzeit der Situation aus dem Wege gehen könnte.
»Im Endeffekt ließ er durchblicken, dass er momentan daran zweifle, ob ich die Richtige für ihn wäre. Das machte mich alles sehr traurig!«
Traurig, wieso traurig? Das hat sie mir nicht ein einziges Mal erzählt. Wieso steht das jetzt in diesem dusseligen Tagebuch? Also frage ich Martina sofort:
»Du schreibst hier, dass du traurig warst, dass du immer wieder Angst hattest, dass ich dich verlassen könnte. Warum erzählst du mir nicht, dass du traurig bist?«
»Ach, Peter, das merkt man doch. So was sieht man doch!«
»Hä? Woran soll ich das denn merken?«
Sie versucht mir zu erklären, dass man das am Gesichtsausdruck erkennen könne. Am Gesicht kann man meiner Meinung nach nur sehen, wenn jemand traurig ist, wenn er auch regnet, wenn Flüsse die Gesichtshaut hinabfließen, die den Augenhöhlen entspringen. Sonst ist niemand traurig, das glaube ich nicht.
Einige Seiten später lese ich dann Folgendes in ihrem Tagebuch:
»Ich wollte ja nicht, dass er sagt: ›Schwamm drüber, vergessen wir die Sache‹, und die Angelegenheit mit einem Kuss zudeckt, im Gegenteil, die Sache musste genau besprochen werden. Ich wollte nur, dass er nicht mehr so kalt und lieblos zu mir ist. Er strahlte so eine Kälte aus, dass ich richtig fröstelte, er wirkte, als ob er eine Mauer vor mir runtergelassen hatte, unüberwindlich, völlig verschlossen vor mir, und da kam ich nicht ran.«
Das Lesen ihres Tagebuches ist anders, als irgendein Buch zu lesen. Denn hierbei handelt es sich um »stories behind the scenery«, die mir so noch nie klar geworden sind. Eine völlig fremde, andere Welt des Erlebens. Oh wie schrecklich muss das Leben sein, wenn man immer Angst hat, immer gleich traurig ist, nur weil es unangemessen wörtert! Dagegen bin ich anscheinend völlig immun. Und wirke deswegen also oft herzlos, gefühllos, obwohl ich alle Gefühle haben kann, die ich als Wort kenne.
Das alles sind Dinge, die meine bisherige Weltsicht über die Menschen in ihren Grundfesten erschüttern. Dinge, die mir auf eine nie vorher da gewesene Art offenbaren, was im Kopf von Martina vorgeht, dazu viele Dinge über mich und meine Wirkung auf sie, die mir so noch niemand im Leben gesagt hat. Dinge, die Martina bewegen, ja förmlich um ihren Verstand bringen, sind Dinge, die ich für völlig unwichtig und irrelevant hielt.
Ich erstarre innerlich. Dann bin ich kein Mensch wie die anderen. Nur ein Wesen in einem menschlichen Körper. Ein getarnter Außerirdischer sozusagen. Wie ich mich ja kurioserweise, ohne zu begreifen, warum, seit frühester Kindheit auch fühle. Seltsam. Alles sehr, sehr seltsam.
Ich ahne, dass ich soeben begriffen habe, warum viele Menschen mit mir ein Problem haben. Menschen, die allesamt offensichtlich gänzlich anders funktionieren als ich. Ja, nicht einmal von den Papamamas habe ich das erfahren. Die haben sich auch nur gewundert und sich dabei vieles zusammengedacht, was dann falsch war. Die Diskussion der Tagebucheinträge mit Martina zeigt, dass ich nicht nur etwas anders bin, so wie jeder Mensch ein Individuum ist, sondern auf irgendeine einzigartige Weise eine gänzlich andere Emotionsverarbeitung habe.
Um mit Martina dauerhaft glücklich zusammen sein zu können, so wie das eben in all diesen Liebesfilmen im Fernsehen immer gezeigt wird, muss ich verstehen, wie sie tickt und wie alle anderen Menschen ticken. Mir ist, als hätte ich soeben eine ganz, ganz wichtige Passstraße in meinem Leben erklommen. In meinen Ohren erklingen die Winnetou-Melodien von Martin Böttcher. Musik, die in mir immer dann ertönt, wenn ich mich irgendwo auf einem Pass befinde und sich eine ferne Sicht auf das weite Land bietet, auf unbekanntes Land.