Emotionale Versteinerung in Stonehenge

Endlich habe ich es wie viele andere vor mir geschafft, einen Kapitalgrundstock anzusparen. Um unabhängiger von den Menschen da draußen zu werden, ist es Zeit, sich ein eigenes Heim zu schaffen. Es zeigt sich schnell, dass es im Rhein-Main-Gebiet leider kein unseren Vorstellungen entsprechendes Haus mit Garten gibt: entweder zu teuer, zu laut, zu alt, schlecht geschnitten, falsch ausgerichtet oder zu klein. Am liebsten würde ich ja selber bauen, aber das ist in dieser Gegend erst recht unbezahlbar. Da aber der Gemüsegarten in Andorra State genügend Platz bietet, entschließen wir uns, dort ein Hausprojekt nach eigenen Vorstellungen umzusetzen.

Der Sommer 2003 entpuppt sich als afrikanischer Sommer mit Temperaturen bis nahezu 40 Grad. Wir beschließen daher, für uns eher unüblich, zur Abkühlung nach England zu fahren. Fernreisen kommen im Moment ja nicht in Frage, da für das Haus gespart wird.

Am 12. August 2003, einem sonnengebleichten, weißrotblauen Tag, besucht die ganze Familie, die RaRas, die Mau und ich, Stonehenge. Zeit, mal wieder die Omaopas anzurufen. Als ich dann ein mitgenommenes Nothandy ans Ohr halte, das nur eingeschaltet ist, wenn dies dringend erforderlich scheint, um nicht immer und überall gestört zu werden, erreichen mich als Erstes gleißend helle, stechende Worte der Locken: »Peeeeter, zwei Tage haben wir nach euch gesucht, sogar im Verkehrsfunk seid ihr gewesen, überall, aber wir haben euch nicht gefunden!« Nach einer kurzen Atempause ergänzt sie knapp und schattig: »Peter, der Opa ist tot!«

Dann herrscht Stille, während ich auf die mächtigen Megalithen starre. Es ist der Moment, in dem ich versteinere, der Moment, in dem Stonehenge so einen weiteren Megalithen erhält: mich. Nichts Irdisches erreicht mich mehr. Ich starre himmelwärts. Der braune Brummelbär hat es geschafft, dem körperlichen Kerker zu entkommen. Er wird nie wieder in seinem braunen Ledersessel sitzen.

Wenn ich nach Hause komme, dann ist da kein Opa mehr, der sich nach den RaRas erkundigt. Wenn ich nach Hause komme, dann ist es dort endgültig nicht mehr so, wie es mein ganzes bisheriges Leben war. Eine Zäsur. Das Ende einer Ära. Es gibt keine Papamamas mehr. Eine Situation, die mich völlig unvorbereitet trifft.

Der braune Brummelbär war zwar schon lange sehr krank, aber für mich war es dennoch unvorstellbar, dass er auf einmal nicht mehr da sein könnte.

So ist es nun für mich unbegreiflich, wie es zu Hause aussehen soll, wenn dort der Opa nicht mehr abends in seinem braunledernen Fernsehsessel sitzt. Dann kippt der Megalith aus Fleisch und Blut. Er fällt ins Gras. Das Gras kitzelt meine Arme, weil ich hier im ärmellosen T-Shirt bin, weil es so heiß ist. Ungewöhnlich heiß, auch in Stonehenge!

Ganz allmählich verflüssigt sich meine Versteinerung. Augenregen kitzelt sich über mein Gesicht ins Gras. »Was sollen denn die Leute denken?«, fragt die Mau. »Was die Leute denken, das ist mir fast immer egal gewesen. Die wundern sich sowieso nur. Lass mich in Ruhe!«

In vielen Situationen hilft nur eines: mich in Ruhe lassen. Und mich ganz von selbst den Weg aus der Situation finden lassen, den ich gehen muss, um mich wieder wohlzufühlen. Als ich mich nach einer Stunde wieder gefunden habe, als mich wieder die Dinge erreichen, die direkt um mich herum liegen und passieren, greife ich still zum Handy.

Denn die Oma wünscht sich doch so sehr, dass wir bei der Beerdigung dabei sind. Sie haben es schon aufgeschoben, getragen von der Hoffnung, wir könnten es noch schaffen, rechtzeitig nach Hause zu kommen. Wir vollenden die Besichtigung von Stonehenge und fahren anschließend direkt nach Deutschland.

Still steuere ich uns Richtung Gadenstedt. Wir nehmen entgegen aller meiner Gewohnheiten den schnellsten und kürzesten Weg. Das geht nur in Trance. Im Vergessen dessen, was um mich herum ist. Tief unter dem Ärmelkanal starre ich auf die Gleise, auf dem Hinweg waren wir mit der Fähre nach England gekommen. Ein Platzregen geht in meinem Gesicht nieder.

Noch ein kurzer Stopp bei einem Schnellrestaurant in Calais, dann geht es in die dunkle Nacht. Als der nächste Morgen graut, sind wir fast da. Dann stehe ich vor dem Schlafzimmerfenster der Papamamas, aus dem dann die Locken schaut. Eine andere Zeit ist angebrochen. Stille unter der hohen dreiarmigen Birke, dem Wahrzeichen von Andorra State.

Die Beerdigung selbst ist für mich ein sehr emotionales Ereignis. Aber nicht so, wie es die anderen erwarten. Sondern ganz anders. Mein innerer Wutvulkan bricht aus. Weil alle was von mir wollen. Weil alle mir sagen wollen, was ich zu tun und zu lassen habe. Weil sehr viel Stress verbreitet wird. Der Tag, an dem der Körper des braunen Brummelbären in die Erde des Friedhofs von Gadenstedt kommen soll, ist für mich kein Tag, an dem ich in Ruhe und Frieden gelassen werde, um die neue Situation zu verarbeiten, sondern ein Kampftag. Ein Tag, an dem ich tilte.

Dabei geht es doch lediglich darum, den Umzug eines Körpers, dem die Seele, das die Welt Wahrnehmende, entschwunden ist, durchzuführen. Vielleicht wäre es für mich doch besser gewesen, dass wir nicht extra aus England gekommen wären, meint die Locken, als ich im Stress erst einmal die ganzen Bilder der Ahnengalerie neben der Treppe runterreiße.

Entgleisung nennen es die einen, Vulkanausbruch die anderen. Überforderung die Dritten. Womit sie alle irgendwie recht haben. Weil ich nun einmal nicht alles auf einmal machen kann. Mit mir geht das nicht.

Nach einem Kapellengottesdienst heißt es endgültig Abschied von Opa zu nehmen. Sein Körper zieht schließlich in eine Zweizimmerwohnung, die sich unter der Erde befindet. Das zweite Zimmer ist für die Locken vorgesehen. Die Tapeten dieser Wohnung sehen nur diejenigen, die die Zeit im Raum wahrnehmen können: Wir sogenannten Hinterbliebenen. Auch der Opa ist also jetzt ein Erblasser. Er ist steif geworden erblasst.

Nach der Beerdigung gehe ich noch einmal zu einem anderen Grab auf dem Friedhof. Es ist das Grab eines Menschen, der mir sehr ähnlich gewesen sein soll. Er desertierte im Zweiten Weltkrieg und wanderte zu Fuß sich durchklauend immer nachts etwa siebenhundert Kilometer nach Hause. Ich war sieben, als sein Körper in seine Einzimmerwohnung hier unter der Erde zog.

Onkel Hermann war früher immer der dumme Schlaue. »Der Junge kommt genau nach Onkel Hermann!« Oh, wie oft habe ich das gehört, vor allem immer dann, wenn ich zu doof, zu wütend oder zu schlau für etwas war. Onkel Hermann war arbeitslos und es hieß, er sei krank. Da seine Was-auch-immer-Krankheit auch kein Arzt kannte, war es für alle einfach die »Onkel-Hermann-Krankheit«.

Es macht mir heute zu schaffen, dass ich wohl aus Sicht anderer auch diese eigenartige »Krankheit« haben könnte. Dass diese Sache daran schuld sein könnte, dass ich so viele Dinge anders begreife als meine Mitmenschen. Aber wenn es wirklich so sein sollte, warum fühle ich es dann nicht als Krankheit? Seit meiner Kindheit weiß ich, dass ich einfach anders gepolt bin. Und um Onkel Hermann zu verstehen, war ich doch noch zu klein damals.

Später kehre ich noch einmal mit der Mau zurück zum Grab des braunen Brummelbären. Diesmal sind wir dort ganz allein. Unter uns. So probiere ich etwas Neues aus. Ich stelle mich vor den gehügelten Blumenhaufen, unter dem nun der körperlich gefüllte, hölzerne Sarg liegt. Es kostet mich einige Zeit, die innere Mauer zu durchbrechen. Schließlich gelingt es mir. Ich beginne zu singen, ob gerade oder schief, egal, ich weiß es nicht: I am sailing, weil ich das kenne und es irgendwie passt, und Hohe Tannen. Vor allem das zweite Lied hätte wohl das Gesicht des braunen Brummelbären zu Lebzeiten einfeuchten lassen, hat er doch seine schlesische Heimat immer im Herzen getragen.

Kaktus zum Valentinstag
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