Kirche nach der Feuerzangenbowle

Ich bin weiterhin fleißig dabei, Martina Erinnerungen zu schenken. So fahren wir kurz vor Beginn der Vorweihnachtszeit in den Harz. Dort findet um diese Zeit die traditionelle Feuerzangenbowle statt, gefolgt vom traditionellen Hasenessen am nächsten Tag. Beides gehört zum alljährlich wiederkehrenden Stiftungsfest der Ascania Halle-Clausthal.

Zum Festakt der Feuerzangenbowle treffen sich »Alte Herren« mit dem studentischen Nachwuchs, um gemeinsam zu feiern und zu singen. Wenn das Präsidium »Silentium Ex! Colloquium!« ruft, dann wird im Schein der brennenden Zuckerhüte über die Zeit von damals und die Probleme von heute diskutiert. Nostalgie, aktuelle Alltagserlebnisse und anstehende Herausforderungen liefern genug smalltalkfreien Gesprächsstoff!

Und wenn die Gespräche drohen, wieder einmal in Richtung Small Talk abzudriften, dann fordert das Präsidium die Corona, das sind die versammelten Gäste, mit einem strengen »Silennnnnntium!« zum Einstellen der Gespräche auf, damit eine Biermimik, das ist ein Sketch oder etwas anderes Lustiges, vorgetragen oder ein Lied, Cantus genannt, gemeinsam gesungen werden kann.

Die ganze Veranstaltung geht mit dem »Clausthaler Mitternachtsschrei« zur Neige. Pünktlich zur mitternächtlichen Stunde verlischt das Licht, um den nächsten Tag mit dem Bergmannslied gebührend zu begrüßen. Dort wartete damals, bei meiner ersten Teilnahme, die härteste Probe, das Vorsingen!

Auf einem Bierdeckel dichtete ich damals in aller Eile die bis heute gesungene und verbreitete Strophe:

»Wir Geophysiker seins

Seins kreuzbrave Leut’

Denn wir sorgen, dass die Reben überleben das Erdbeben

und saufen’s auch, und saufen’s auch!«

Auch in dieser Verbindung zerrten an mir immer konkurrierende Bedürfnisse. Einerseits wollte ich immer dazugehören, andererseits war, bin und bleibe ich ein Mensch, den es in solchen Gemeinschaften normalerweise nicht gibt. Warum? Ich spüre aber, dass diese Gemeinschaft mir guttut, obwohl es sehr anstrengend ist. Wie Sport!

Nach der Veranstaltung tanzen Martina und ich uns die Straße entlang. Mitten auf der Bundesstraße, die geradewegs durchs Zentrum von Goslar nach Osterode führt. Dort, wo mich zu Studentenzeiten einmal ein Erstsemesterstudent ansprach und fragte, wo denn hier der Weg zum Zentrum sei und ich antwortete: »Du stehst mitten drin!« Da stand er vor dem Haus, das in der ganzen Stadt als einziges eine Rolltreppe hatte.

Mit dieser Feuerzangenbowle beginnt für mich seither traditionell die Vorweihnachtszeit. Wenn wir schon einmal im Harz sind, muss ich Martina auch noch die Umgebung zeigen. So fahren wir unter anderem noch zur Stabkirche nach Hahnenklee. Nur zögernd übertritt sie dort die Schwelle, um ins Innere dieser wunderschönen Holzkirche im norwegischen Stil zu gelangen.

Am Horizont zeichnen sich auf einmal Probleme ab, die ich so nie erwartet hätte und die mir zu schaffen machen. Denn Martina will mit mir nicht wirklich in diese Kirche gehen. Weil sie genug habe von all diesen Glaubenslügen, die die Menschen verbreiten.

Ihre Vergangenheit mit den Zeugen Jehovas hat sie wohl doch in einer Weise geprägt, die noch zum Stolperstein auf dem Weg zu einer Ehe mit ihr werden könnte. Denn eine Frau, die mit mir zu Weihnachten nicht in die Kirche gehen will, kann ich nicht gebrauchen. Mehr noch, mit Blick auf eine mögliche Hochzeit in ferner Zukunft frage ich sie:

»Und wie sollen wir dann bitte einmal eine weiße Hochzeit feiern? Ich meine, da musst du doch auch in eine Kirche gehen!«

Da stellt sie doch glatt diese Form des Heiratens in Frage:

»Ob ich eine weiße Hochzeit haben will, das weiß ich nicht!«

»Das finde ich Ä-B!«, antworte ich erstarrend. Krise. Ganz große Krise!

Äußerst bedenklich. Dann wird das wohl nichts mit uns, denn eine kirchliche Trauung ist mir sehr wichtig. Schade. Sehr, sehr schade. Ich erstarre weiter. Still stur starre ich vor mich hin. Und mit Weihnachtsliedern kann sie dann wohl auch nichts anfangen.

Früher, als Kind, da habe ich einen Weihnachtsliedersingplan gebastelt. Das war eine Tabelle, da stand genau drin, an welchem Tag im Dezember welches Lied gesungen werden kann, darf und sogar muss. So zum Beispiel durfte und musste das Lied Morgen Kinder wird’s was geben nur genau am 23. Dezember gesungen werden! Ansonsten wurde ich sehr wütend. Weil es eine Verletzung der Regel dargestellt hätte.

Und jetzt soll es auf einmal gar keine Weihnachtslieder mehr geben? Das ist einerseits faszinierend, andererseits sehr beunruhigend für mich. Wie kann ein Mensch bloß nur keine Weihnachtslieder mögen? Lieder, die Liebe und Geborgenheit, gelbe Wärme und grüne Wonne ausstrahlen. Wie kann ein Mensch so entweihnachtet worden sein?

Ich liebe Martina doch! Aber diese Sache, nein, nein und nochmals nein! Und alles nur wegen dieser Geschichte mit den Zeugen Jehovas. Da muss ich gegensteuern! Jeder soll glauben können, was er will und wie er will, aber wenn zwei Menschen zusammen sein wollen, muss es Regeln geben, die für beide gleichermaßen gelten.

Letztendlich gelingt es mir, Martina doch noch vollständig in die Kirche zu lotsen. Aber sehr, sehr widerwillig. Deshalb sage ich ihr:

»Martina, ich glaube, du brauchst eine Therapie. Eine Weihnachts- und Kirchentherapie! Denn wenn wir für immer zusammenbleiben wollen, möchte ich mit dir zusammen an die fröhlichen Weihnachtszeiten meiner Kindheit zurückdenken können, und außerdem will ich dich ja mal in einem weißen Brautkleid heiraten und mit dir zusammen aus einer Kirche kommen!«

Sie sagt erst mal gar nichts. Heute haben wir zur Abwechslung mal vertauschte Rollen im Anschweigen:

»Was ist los?«, will ich wissen.

»Peter, du verlangst für mich derzeit unmögliche Dinge!«

»Das finde ich Ä-B! Ä-Ä-B! Das ist nicht unmöglich, es ist das Leben. Das Leben außerhalb dessen, was du in den letzten Jahren erlebt hast. Ich verstehe Weihnachten als das Fest der Ruhe, der Liebe, des Lichts und des Lebens. Als ich klein war, hing in unserer Kirche immer ein riesiger, gelber, leuchtender, spitzzackiger Stern an der Decke.

Der Stern, das Licht, das den Weg ins Leben zeigen soll. Das war und ist für mich die Botschaft. Wenn ich zu diesem Stern ohne dich gehen soll, dann brauche ich keine Freundin. Entweder gehen wir den Weg dorthin zusammen oder wir müssen uns jetzt trennen.«

»Warum drohst du mir immer wieder mit Trennung?«, fleht mich Martina an.

In mir toben wieder mal die ewig konkurrierenden Sehnsüchte, die sich nun zu einer sehr turbulenten Strömung vermischen. Ich will Martina, aber ich will auch das behalten, was ich brauche, um zu leben. Ich will, dass sie die Bedeutung dieser Dinge erkennt, sonst geht es einfach nicht. Es gibt Dinge, die sind nicht verhandelbar, wie die Sache mit der Kirche. Da muss sie mit rein.

»Damit du später mal wieder problemlos und unbefangen in eine Kirche gehen kannst, wäre ich jetzt dafür, dass ich endlich mal ›del *.*‹ mache, also alles bei dir lösche, und so die Sache mit den Zeugen Jehovas endlich mal ins Archiv wandert!«

»Was meinst du mit del *.*

»Na ja, mit diesem DOS-Befehl löscht man alles auf dem Computer! Weil du mit deiner Vergangenheit bei den Zeugen Jehovas eigentlich abgeschlossen hast, bist du für mich wie eine neu bespielbare Festplatte. Dich kann man sozusagen neu formatieren, wobei der Bootsektor natürlich erhalten bleibt, da stehen nämlich deine grundlegenden Eigenschaften drin, die ich so doll an dir liebe, mein süßes Gnubbelchen!«

Mit Computern kenne ich mich besser aus als mit Menschen. Die Reformatierung meines Gnubbelchens wird wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

Kaktus zum Valentinstag
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