Wasserweiten unter dem Kreuz des Südens
Der schwierige, herzzerreißende Aufbruch ins Ungewisse, getragen von der Hoffnung, dass unsere junge Liebe nicht an Skorbut stirbt, sondern ihre Früchte erst noch tragen wird, liegt hinter mir. Vor mir nur noch Wasser – Wasser – Wasser und teils stürmische See. So fühle ich die Situation, in der ich mich jetzt befinde.
Nach einer durchflogenen Nacht blicke ich auf winterlich kahle, langastige Bäume. Das macht depressiv. Die warmen Erlebnisse erster, echter, ernst gemeinter Liebe bleiben nur noch Erinnerung. Wieso tue ich mir das an, nein, wieso tue ich uns das an? Es ist eine rhetorische Frage, denn die Antwort ist lange genug auf der Waage gewesen. Geplant ist geplant.
Ich bin auf dem Flughafen von Buenos Aires, Argentinien. Warum habe ich all die frisch duftend blühenden Landschaften des Sommers zurückgelassen? Wollte ich wirklich winterliche Leblosigkeit sehen? Ich werde unsicher. Die ersten emotionalen Stürme der Reise ins Ungewisse ziehen auf. Mich überkommt ein Gefühl, das ich noch nie im Leben hatte. Heimweh!
Und dabei bin ich gerade erst losgefahren! Es geht weiter nach Santiago de Chile, von dort mit dem Bus nach Valparaiso. Im Hafen von Valparaiso wartet das Forschungsschiff »Sonne« darauf, mit mir an Bord in den weiten Stillen Ozean zu stechen. Doch bevor es so weit ist, schlafen wir, die Wissenschaftlercrew, noch einige Tage im Hotel.
Keine Sonne in Sicht. Stattdessen regnet es in Strömen. Und es ist richtig kalt hier. Für mich sind es Tränen der Trennung, die sich über die Stadt ergießen.
Ich hoffe, dass ich Martina genug Erinnerungen geschenkt habe, die sie untrennbar mit mir verbinden. Wenn die Entscheidung richtig war, dann habe ich meinen Weg gefunden, wieder einmal ohne Wegweiser. Wieder einmal folge ich dem, was mich zeitlebens weitergeführt hat. Und das ist wie so oft genau das Gegenteil von dem, was mir alle geraten haben. Warum nutzen mir die Ratschläge der anderen meistens nichts?
Nach einigen Tagen geht es endlich los. Das Forschungsschiff »Sonne« legt ab. Wir stechen in Ozean!
Ganz allmählich komme ich darüber hinweg, dass ich nicht bei Martina in Kiel, sondern auf diesem Schiff bin. Das Kreuz des Südens weist den Weg über das Wasser. Das Schiff ist ein Fremdkörper im endlosen Meer.
Bizarre Felszacken tauchen am Horizont auf. Land in Sicht! Es ist die Robinson-Crusoe-Insel. Wir passieren sie in genau 11,4 Seemeilen Abstand. Ich muss daran denken, wie das wohl wäre, wenn ich hier jetzt leben würde. Nein, ich möchte niemals einsam sein!
Es ist Abend, als das letzte Licht auf die Zackensilhouette am Horizont fällt. Das Schiff bewegt sich weiter westwärts. Die Dunkelheit der Nacht überzieht das weite Meer.
Im Morgengrauen des nächsten Tages bin ich wieder an Deck. Wieder Land in Sicht. Diesmal passieren wir in genau 4,4 Seemeilen Abstand die spektakuläre Kulisse der Alexander-Selkirk-Insel. Lange schaue ich zurück, bis uns hier an Bord nur noch die Wasser eines stillen Ozeans umgeben.
Der Platz achtern an der Reling ist mein Lieblingsplatz. Hier hänge ich meinen Gedanken nach. Fern aller Menschen. Und damit auch fern von Martina. Was mag sie wohl gerade machen? Was denkt sie? Liebt sie mich überhaupt noch? Und was macht sie aus der neuen Wohnung?
Ich habe Nachtwache an Deck. Das Schiff wogt langsam auf und nieder. Ich stehe an der Reling. Achtern. Wie immer. Mit Blick auf die Schaumspur im Salzwasser. Sie markiert die frisch zurückgelegte Strecke. Wie eine abgefahrene Autobahn über das endlose Meer. Sie wachsen zu sehen, freut mich. Ich muss mich abzappeln, Wissenschaftler und Besatzungsmitglieder sehen auf einmal jene stereotypen Bewegungen, die Martina an mir noch nie gesehen hat. Meine Art, Freude auszuleben, ist für viele bizarr.
Die einzige Verbindung zu Martina ist via Satellit. So muss unsere Freundschaft und Liebe aus Kostengründen zunächst mit spärlichster Fax-Kommunikation überleben:
»Hallo, mein Gnubbelchen, nun kommt endlich das erste Fax für meine Martina! Wir sind gerade bei Position 103 Grad westlicher Länge und 27 Grad südlicher Breite. Ich vermisse dich hier so. Mir ging es die erste Woche an Bord nicht so gut. Jetzt ist wieder alles klar. Wenn du aufstehst, gehe ich hier gerade ins Bett. Oder ich beobachte den wunderbaren südlichen Sternenhimmel und die farbenprächtigen Sonnenuntergänge. Ansonsten ist da nur Wasser. Es wird noch dauern, bis wir endlich wieder Paso Doble, Walzer und Cha-Cha-Cha tanzen können. Ich muss immer daran denken, was einem doch auf See alles verloren geht. Ich erwarte schon jetzt den Moment des Wiedersehens, unsere Wohnung und ganz doll dich. Bis zum nächsten Fax ganz, ganz viele Küsschen von mir für dich. In Liebe, dein Peter.«
Die Antwort folgt prompt:
»Liebster Peter! Ich habe mich riesig über das Fax gefreut. Danke! Mir geht es einigermaßen gut. Die erste Zeit ohne dich war recht schwer, aber ich habe mich jetzt wieder gefangen und warte, bis du wieder da bist. Der Teppich im Wohnzimmer ist verlegt, habe einen Stubenschrank gekauft. Sieht toll aus, du wirst dich freuen. Ich mag nicht spazieren gehen, weil ich dann zu sehr an dich denken muss. Einen Jahrhundertsommer nennen die Medien das Wetter. Die Sonne lacht, aber mein Herz weint. Wie gern wäre ich da, wo du bist. Du fehlst mir so. Ich liebe dich so. Die Telefonnummer unserer neuen Wohnung ist übrigens 0431 673714. Vergiss mich nicht und lass wieder was von dir hören. Ich liebe dich über alles. Deine Martina.«
Die Telefonnummer ist ein Glücksgriff. Da sind alle farbwichtigen Ziffern drin. Diese Nummer will einfach angerufen werden. So rufe ich Martina direkt via Satellit an. Doch das ist sehr, sehr teuer. Aber es ist gut, wieder ihre Stimme zu hören, auch wenn sie rauschig-drahtig-blechern verfälscht ist.
Mittlerweile bin ich seit fast einem Monat auf See. Wir sind im landfernsten Gebiet der Erde. Inmitten des Pazifischen Ozeans zwischen Osterinsel und Pitcairn. Ein Bildschirm im Labordeck zeigt die aktuellen Koordinaten, unsere augenblickliche Position in geographischer Länge und Breite. Und die »distance to waypoint« steht da, die verbleibende Strecke bis zum nächsten Etappenziel. Oft starre ich diese sich ständig ändernden Zahlenwerte an. Vielleicht zu oft. Derweil spielen die anderen unter Deck Tischtennis.
Oder ich bin wieder draußen an Deck. Das Meer ist ruhig. Nur die Sterne begleiten mich. Sie glitzern und funkeln genauso wie das Meer in der dunklen Nacht. Skorpion und Schütze sind zu sehen. Ein toller Sternenhimmel, nie zuvor konnte ich so oft das Zodiakallicht sehen, das Kreuz des Südens anschauen, die Strukturen der Milchstraße im Skorpion und Schützen studieren. Die Bezeichnung »Teepott« für Schütze passt eigentlich viel besser.
Oft starre ich auf den Bildschirm mit den spannenden Meeresbodentopographien, die das Echolotsystem immer weiter wandernd großflächig aufzeichnet. Vor der Echolotanlage, die ich manchmal zu beaufsichtigen habe, beginne ich, alle Tanzfiguren zu tanzen, die ich kenne. Erschreckt stelle ich fest, dass ich leider nicht mehr weiß, wie zum Beispiel die »Cuban Breaks« aus einer Cha-Cha-Cha-Folge gehen. Alle verzweifelten Versuche helfen nichts, es will mir einfach nicht mehr einfallen. Die erste Figur, die dem Vergessen im Meer der Vergänglichkeit geopfert wurde. Still, heimlich und leise. Schade. Alles ist vergänglich. Ob die frische Liebe auch vergänglich ist?
Am 16.7.1992 erreicht mich dann ein Fax von meinem Gnubbelchen:
»Gut neun Wochen noch, bis du wieder da bist. Ich bin nervlich im Augenblick ziemlich kaputt. Seit einer Woche habe ich jetzt schon chronische leichte Bauchschmerzen, vermutlich psychosomatisch. Ich gehe langsam aber sicher ein wie eine Blume, die nur im Dunkeln steht. Sonntag hat mich meine Freundin besucht, war lustig, hat sehr gutgetan. Aber keine Angst, ich werde mich nicht verändern. Ich bin jetzt noch dieselbe und werde es auch bleiben. Ich bin endgültig formatiert. Ich liebe dich. Komm bitte wieder gesund nach Hause, mein Liebster. Ich werde auf dich warten. Deine Martina.«
Ich weiß gar nicht, ob ich mich freuen oder weinen soll. Ich habe es offenbar geschafft, sie trotz aller Widrigkeiten meiner geheimnisvollen Mauer an mich zu binden. Ja, mir scheint es gelungen, sie wie eine neu bespielbare Festplatte zu formatieren. Trotzdem macht es mir zu schaffen, dass sie so traurig ist. Vielleicht habe ich überzogen, unser Leben als kitschigen Liebesfilm zu inszenieren?
So antworte ich am 24.7.1992:
»Meine liebste Martina! 48 Tage sind vorbei, 57 müssen wir noch aushalten. Schon sehr, sehr lange habe ich einen bestimmten Tag nicht mehr so herbeigesehnt wie den 19. September. Ich glaube, Weihnachten in der Kinderzeit, da war das zuletzt so. Erinnerst du dich an Dänisch-Nienhof, die Sonne über dem jenseitigen Ufer?
Die Weiten des Wassers gilt es noch zu überwinden. Bitte halte durch. Es ist eine harte Probe, aber sie wird uns beide firm machen. Der landfernste Punkt ist nun bald überschritten. Um 8 Uhr am 26.7. werden wir die Osterinsel erreichen. Wenn ich dort am 30.7. abfliege, liegt unser Wiedersehen näher als der Abschied. Das Licht nimmt langsam wieder zu, wie die Sonne, die im Winter den tiefsten Punkt überstrichen hat. Bitte gehe nicht ein! Keine Entfernung und keine noch so lange Zeit kann eine einmal gewachsene wahre Liebe wieder brechen. Auch wenn wir räumlich getrennt sind, zeitlich und geistig sind wir es nicht! So mancher Tränenfluss, der meinen Augen entsprang, mündete in die unendlichen, weiten Wasser des Stillen Ozeans, wenn ich abends allein auf dem Achterdeck stand, dem ewig gleichen Rauschen des Fahrtwassers lauschend, am Himmel das Kreuz des Südens anstarrend.
Ich liebe dich sehr, und mit jedem Tag den wir getrennt sind, wird es damit nicht weniger, sondern mehr! Denn erst hier habe ich wirklich gemerkt, was ich zu Hause im Stich gelassen habe. Jawohl, ich bin für dich, was Pater Ralph in ›Dornenvögel‹ für seine Maggie war, nur mit dem Unterschied, dass wir ab dem 19.9. untrennbar zusammengehören wollen. In wahrer Liebe mit vielen Küsschen bis zum nächsten Brief, dein Peter.«
Wie in der Adventszeit vor Weihnachten führe ich eine Strichliste. Soundsoviel Tage Wasser liegen hinter dir, soundso viel Tage Wasser liegen noch vor dir. Das habe ich auf einer Route visualisiert, die über den Ozean führt. Jeder Tag entspricht einem Teil der zu überwindenden Strecke. Darauf streiche ich alle Teile ab, die hinter mir liegen, und zähle den Countdown der noch vor mir liegenden Tage.
Nach zwei Monaten erreichen wir unter dem Kreuz des Südens das Land der Moai – Rapa Nui, die Osterinsel. Irgendetwas verbindet mich mit dieser geheimnisvollen Insel. Sie liegt völlig isoliert in den Weiten des Ozeans. Fern der großen Kontinente, auf denen die Gesellschaften der Welt mit- oder gegeneinander leben. Und sie ist vulkanisch. Auch wenn derzeitig keiner der Vulkane tätig ist.
Auf der Osterinsel endet die Forschungsseereise. Direkt nach der Ausschiffung finde ich mich allein wieder. Die anderen gehen andere Wege als ich.
Im tropisch anmutenden Hanga Roa finde ich eine nette Pension. Der Eigentümer stellt mir seinen schönen weißen Geländewagen zur Verfügung, um alle Straßen von Rapa Nui abzufahren. Mehrere Tage habe ich Zeit, die gesamte Insel zu entdecken, mit dem Jeep und vor allem auch zu Fuß.
Vom Inselinnern blicke ich zurück auf das weiß-orangefarbene Schiff. Es liegt auf Reede, zwischen mir und dem Schiff ein Ahu, eine rituelle Stätte, mit sieben Moais. Eine Mauer aus Moais. Es sind die einzigen Moais, die im Inselinnern stehen, sonst befinden sich diese geheimnisvollen Figuren an der gesamten Küste der Insel. Sie werden zum symbolischen Grenz- und Gedenkstein inmitten des Ozeans, der meine vergangene Zeit als Single von der kommenden Zeit in Partnerschaft und Liebe trennt.
Der Ozean im echten Leben endet mit dem Abflug von der Osterinsel. Der Ozean in meiner Lebenslandschaft dauert jedoch noch fast weitere zwei Monate. Denn nun möchte ich die Gelegenheit nutzen, die Wüsten und Vulkane Südamerikas gleich mit zu entdecken. Und natürlich weitere Etappen der Panamericana, der legendären Traumstraße der Welt, erleben.