28
Torys Zelle hätte ohne Weiteres als eine Hotelsuite durchgehen können. Außer einem Schlafzimmer und Badezimmer gab es noch ein kleines Wohnzimmer mit einem Unterhaltungsbildschirm. Nur das fehlende Telefon offenbarte die wahre Natur der Einrichtung - und natürlich der Umstand, dass ihr Implantat sich beharrlich dem Befehl widersetzte, sich mit dem Stadtcomputer zu synchronisieren. Zweifellos waren Kameras in der Decke versteckt, die - um einen Selbstmord zu verhindern - jede ihrer Bewegungen verfolgte. Zweimal hatten biologische Zwänge sie bereits ins Badezimmer getrieben, und beide Male war sie dem Ruf der Natur mit zusammengebissenen Zähnen und einer Schamhaftigkeit gefolgt, die sie seit dem zweiten Schuljahr nicht mehr empfunden hatte.
Die Plüschmöbel waren eher ein Hindernis denn eine Annehmlichkeit, als sie in einem schiefen Dreieck durchs Wohnzimmer stapfte. Sie wurde schon seit Stunden hier festgehalten - Stunden, in denen sie von den Phelanern abgeschnitten war. Sie befanden sich vielleicht in den angrenzenden Zellen, irgendwo in der Stadt oder auch auf der anderen Seite des Planeten. Es war die Ungewissheit, die an ihren Nerven zerrte.
Sie hatte anfangs den Fehler gemacht, den Bildschirm einzuschalten. Der Äther war mit Nachrichten über die Sonnenfinsternis und seine Nachwirkungen überfüllt. Sie hatte wieder ausgeschaltet, nachdem sie sich zum dritten Mal angeschaut hatte, wie sie und die Phelaner von dem großen Marine-Offizier verhaftet worden waren. Ihr wurde ganz elend beim Gedanken, dass diese Bilder auch zur außerirdischen Flotte gelangten. Sie konnte sich die Reaktion ein paar Monate später vorstellen, wenn die phelanischen Kommandanten sahen, wie man ihre Gesandten behandelt hatte. In Torys Phantasie fuhren sechsfingrige Hände bereits Neutrino-Generatoren an und richteten sie auf die Sonne aus.
Zum tausendsten Mal hatte Tory eine Vision, wie das Feuer der Sonne die entsetzte Menschheit ergriff, als das Licht die Segel der Phelaner füllte. Die Vision hatte nun eine neue, furchterregende Wahrscheinlichkeit erlangt. Die ganze Zeit konnte sie davon ausgehen, dass es nie so weit kommen würde. Doch nicht mehr. Seit ein paar Tagen schien die Zerstörung von Sol fast vorherbestimmt.
Und das war alles so verdammt sinnlos!
Eine unbändige und atavistische Wut stieg in Tory auf, als sie sich der ganzen Tragweite der Katastrophe bewusst wurde. Der emotionale Sturm war wie ein körperlicher Schlag, als sie langsam auf den Teppichboden sank und sich zu einer embryonalen Kugel zusammenrollte.
Der Zorn war ungerichtet und alles verzehrend. Diese verdammten Narren von Boerk Hoffenzoller und dem System-Rat! Begriffen sie denn nicht, dass die Phelaner gar keine andere Wahl hatten, als Zuflucht bei Sol zu suchen? Und wie konnten die verdammten Phelaner nur glauben, dass sie mit einer Lüge die Gunst der Menschheit gewinnen würden! Welcher Idiot hatte sich das überhaupt ausgedacht? Diese verdammten phelanischen Usurpatoren, ohne die das gar nicht erst geschehen wäre! Aber am allermeisten: die verdammte Tory Bronson, weil sie zu dämlich gewesen war, einen Ausweg aus diesem Schlamassel zu finden!
Die Erkenntnis, dass die menschliche Rasse nur wegen ihr untergehen würde, nagte an Tory. Ihre Eltern, ihre Schwester, ihre Freunde, ihre Verwandten, sogar dieser picklige Jüngling, in den sie während der Schulzeit verknallt war — alle waren zum Untergang verurteilt. Sie wollte kaum wahrhaben, dass jeder, den sie jemals geliebt, gehasst oder der ihr gleichgültig gewesen war, jeder, dem sie noch begegnet wäre und dem sie nun nie begegnen würde — dass überhaupt alle in ein paar Jahre tot wären. Selbst die Babys in den Armen ihrer Mütter würden sterben.
Das war einfach nicht fair!
Mit dieser sinnlosesten aller Beschwerden bekam Tory ihre Gefühle langsam wieder in den Griff. Sie konzentrierte sich darauf, ruhig zu atmen und den Herzschlag zu verlangsamen. Als sie das Pochen in den Schläfen nicht mehr spürte, streckte sie sich und stand auf. Die Nachwirkungen des Sturms waren eine starke Lethargie, und es bedurfte ihrer vollen Konzentration, um den Weg zum Badezimmer zu finden und sich das Gesicht mit kaltem Wasser zu benetzen. Beim flüchtigen Blick in den Spiegel sah sie rot geränderte, verquollene Augen und wünschte sich ihr Schminktäschchen herbei.
Ihre Selbstinspektion wurde durch ein leises Läuten aus dem Wohnzimmer unterbrochen. Es dauerte einen Moment, die Unvereinbarkeit von einer Türklingel und einer Gefängniszelle mental zu überbrücken. Mit einem bitteren Lächeln ging sie zur Tür und erteilte laut die Erlaubnis, den Besuch zu empfangen.
»Hallo, Ben«, sagte sie, als Tallen über die Schwelle trat. Die Tür schloss sich mit einem leisen Zischen hinter ihm. Sie musste das Klicken gar nicht erst hören, um zu wissen, dass sie für sie verschlossen war.
»Tory«, entgegnete Tallen mit einem Nicken.
»Was kann ich für dich tun?«
»Ich sagte mir, dass wir uns mal sprechen sollten. Wird es nicht langsam Zeit, dass du mir sagst, was zum Teufel da los war?«
»Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst.«
»Das weißt du verdammt genau! Die ganzen letzten Monate hat dich irgendetwas bedrückt. Ich will wissen, was es ist. Was haben die Aliens gegen dich in der Hand, dass du deine eigenen Leute verraten würdest?«
»Ich habe sie nicht verraten.«
»Das kannst du sehen, wie du willst. Was hatten die Außerirdischen sich von dieser irren Aktion mit dem Lichtsegel überhaupt versprochen?«
Tory zuckte die Achseln. »Wie Faslorn schon sagte, sie wollten ihre Macht demonstrieren, falls die Frage von Frieden und Krieg sich stellte.«
»Falls sie wirklich geglaubt haben, die Menschen damit für ihre Sache zu gewinnen, waren sie auf dem Holzweg. Allein in den letzten Stunden hat es Hunderte von Morddrohungen gegen euch fünf gegeben. Wir haben die Sicherheitsmaßnahmen verstärken müssen, um den Lynchmob abzuschrecken. Übrigens scheinen die Leute sich besonders über deine Rolle bei der ganzen Sache zu empören. Sie halten dich für eine Verräterin.«
Diese Information war ein Schlag für sie, obwohl sie damit schon gerechnet hatte. Sie erwiderte nichts darauf.
Ben fuhr fort, als ob er das plötzliche Zittern ihrer Unterlippe nicht bemerkt hätte. »Wir zählen noch immer die Toten.«
»Es gab Tote?«
Er nickte. »Mindestens fünfzehnhundert Herzanfälle, eine ähnliche Anzahl von Selbstmorden, unzählige Verkehrsunfälle, mehr als hunderttausend Brandstiftungen und weiß Gott noch welch andere Schäden. Warum zum Teufel hast du uns nicht gewarnt? Meinst du nicht, dass du uns das als Mitmensch geschuldet hättest?«
Torys plötzliches Gelächter klang hysterisch — sogar in ihren Ohren.
»Was ist denn so komisch?«
»Wenn ich euch gewarnt hätte, Ben, hättet ihr das unterbunden.«
»Verdammt richtig, wir hätten das verhindert.«
»Dann hätten wir unseren Standpunkt aber nie klarzumachen vermocht. Ich konnte euch nicht warnen, Ben, weil die Sonnenfinsternis nämlich meine Idee war.«
»Was?«
»Wir müssten etwas tun. Die Leute hatten ihren Verstand ausgeschaltet. Der Rat war entschlossen, die Phelaner wegen der Täuschung abzustrafen, die Mitglieder übertrumpften sich gegenseitig mit kriegerischen Reden, und die Öffentlichkeit wollte Blut sehen. Ich wollte die Leute mit der Sonnenfinsternis so erschrecken, dass sie wieder zu Verstand kämen. Anscheinend war ich zu optimistisch.«
»Das mit dem Erschrecken hat jedenfalls funktioniert. Du hast uns gezeigt, was für eine gefährliche Waffe ein Lichtsegel sein kann. Also verlangen die Leute jetzt von der Marine, die Far Horizons zu zerstören, bevor sie mit ihrem Lichtsegel unsere Meere verdampft.«
Das Herz stockte ihr bei dieser Nachricht. »Das dürfen sie nicht!«
Tallen schüttelte bedauernd den Kopf. »Im Moment führen kühlere Köpfe Regie. Der Erste Rat hat fürs Erste angeordnet, das Sternenschiff zu entern. Aber wer weiß, wie die Marine reagieren wird, wenn die Phelaner Widerstand leisten.«
»Du musst sie aufhalten, Ben. Sag dem Ersten Rat, er solle den Befehl widerrufen.«
»Wieso sollte ich das tun?«
Tory unterdrückte einen erneuten Anflug von Panik. Sie öffnete den Mund zu einer Erwiderung und klappte ihn dann wieder so fest zu, dass die Zähne klackten. Eine eiskalte Ruhe ergriff von ihr Besitz, als der analytische Teil ihres Gehirns übernahm. Das Dilemma, in dem sie sich nun befand, war das gleiche, das sie seit diesem schrecklichen Tag im Kontrollraum der Far Horizons geplagt hatte. Die ganze Arbeit, die Lügen, die politischen Manöver waren umsonst gewesen. Die Frage, ob sie mit der Gefahr herausplatzen oder es für sich behalten sollte, stellte sich nach wie vor. So oder so, die Katastrophe schien unvermeidlich. Wenn die Sonnenfinsternis den Zorn der Menschen nur noch gesteigert hatte, was würde dann erst die Nachricht bewirken, dass die Phelaner die Sonne vernichten konnten? Vielleicht wäre ein Kompromiss noch möglich, wenn die Nachricht nur dem inneren Zirkel des Rats zugänglich gemacht und unter Verschluss gehalten wurde. Wenn aber der Mann und die Frau auf der Straße erfuhren, dass sie in Gefahr waren - was dann? Sobald die Nachricht publik wurde, wäre nur noch eins stärker als die Wucht der Forderung nach Zerstörung der Far Horizons - die Nova, die darauf folgen würde.
Andererseits war sie mit der Sonnenfinsternis vielleicht doch auf dem richtigen Weg gewesen und hatte nur nicht konsequent genug gehandelt. Sicherlich würde die Nachricht über die drohende Zerstörung der Sonne die Menschen wieder zur Besinnung bringen. Waren die Phelaner wirklich so schlimm, dass die Menschheit lieber unterging, als sie aufzunehmen? Man musste eigentlich nur dafür sorgen, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen glaubte, die Phelaner würden ihre Drohung wahr machen.
Aber wenn sie es doch nicht glaubten? Das war die große Unbekannte in der Kalkulation. Und wenn sie mit der Drohung der Phelaner an die Öffentlichkeit ging und man ihr auch nicht glaubte? Was dann? Wenn sie die Wahrheit sagte, lief sie Gefahr, ihre derzeitige Zelle gegen eine in einer Nervenklinik einzutauschen.
Torys Magen verkrampfte sich, und sie hatte einen ekligen Geschmack von Galle im Mund, als sie über die wohl wichtigste Entscheidung ihres Lebens nachdachte. Sie wurde sich bewusst, dass der Blick von Ben auf ihr ruhte, und fragte sich, wie viele Augenpaare sie noch beobachteten. Der Gedanke hatte die Wirkung von kaltem Stahl, der ihr in den Leib gerammt wurde. Das war der heilsame Schock, den sie gebraucht hatte. Wenn sie ihr Wissen schon offenbarte, wollte sie zumindest wissen, wem sie es sagte!
Tory schob den Unterkiefer vor und schaute Ben direkt in die Augen. »Ich werde sprechen, aber nur mit Boerk Hoffenzoller und nur in Gegenwart der Phelaner.«
»Du bist nicht in der Position, Bedingungen zu stellen, Tory.«
»Das ist mein Preis, Ben.«
Tallen schien für eine Weile tief in Gedanken versunken, kommunizierte aber wohl mit seinem Implantat. Schließlich nickte er. »In Ordnung. Ich werde die Vorbereitungen treffen.«
»Sag dem Ersten Rat, dass er die Situation umso leichter handhaben kann, je weniger Leute Bescheid wissen.«
»Ich werde es ihm sagen.«
»Außerdem muss er die Entermannschaft zurückrufen.«
»Tut mir leid, aber das ist nicht mehr aufzuhalten. Soweit ich weiß, entert die Marine das Sternenschiff bereits.«
Tory blinzelte. Die Ereignisse entwickelten eine unkontrollierbare Eigendynamik. Sie hatte das Gefühl, in einen Fluss gefallen zu sein und von der Strömung mitgerissen zu werden. Sie fröstelte bei dem Gedanken - zumal sie eine Tochter des Mars war -, aber er bestärkte sie auch in ihrer Entschlossenheit. Nachdem sie drei lange Jahre nach einer Antwort gesucht hatte, wusste sie endlich, was zu tun war.
»Triff die Vorbereitungen aber schnell. Du hast ja keine Ahnung von der Gefahr!«
Garth Van Zandt schaute auf die taktische Anzeige auf dem Bildschirm und fluchte stumm in seinem engen Druckanzug. Die Korvetten Xenia und Haver schlossen mit hoher Geschwindigkeit zur Far Horizons auf, während die Aurora und zwei Zerstörer, die Battie und Evanston, in gemächlicherem Tempo folgten. Das Ziel der zwei Korvetten war die Sphäre, die sich einen Kilometer vor dem Haupthabitat-Zylinder befand und den Ionisationslaser enthielt. Jenseits des Pluto hatte Van Zandt befürchtet, versehentlich in den Laserstrahl zu geraten. Hier, wo die Erde und Luna groß auf dem Heckbildschirm standen, befürchtete er eher, abgeschossen zu werden.
Der Ionisationslaser war eine überaus mächtige Waffe. Die Energie, die einmal die Elektronen aus Wasserstoffatomen herausgeschlagen hatte, würde bei Schiffen und Menschen eine ähnliche Wirkung entfalten. Jeden Moment konnte der violette Lichtstrahl aufzucken und die fünf Kriegsschiffe pulverisieren. Garth bezweifelte nicht, dass die Phelaner in der Lage waren, sein ganzes Kommando zu zerstören. Die einzige Frage war, ob die Menschen noch Zeit hätten, ihre Waffen einzusetzen, bevor sie in eine Wolke aus glühendem Gas verwandelt wurden.
Er sog den Geruch seiner eigenen Angst ein, während die zwei Korvetten sich ihrem Ziel auf konvergierenden Bahnen näherten. Wenn alles gut ging, würden sie ihre eigenen Laser benutzen, um den Ionisationslaser vom Mutterschiff zu trennen und den Weg für die Aurora und ihre Schwesterschiffe freizumachen.
»Kapitän Perlman meldet, dass er auf Schussweite herangekommen sei, Sir«, sagte der Funkoffizier über die Wechselsprechanlage. »Kapitän Savimbe meldet ebenfalls Feuerbereitschaft.«
»Sagen Sie ihnen »Feuer frei««
»Aye, Aye, Sir.«
Van Zandt hörte, wie der Befehl rausging und die Korvetten ihre Batterien von Röntgenstrahlen-Lasern hochfuhren. Zwei schier endlose Minuten folgten, als die Angreifer auf die optimale Schussdistanz aufschlossen. Dann wurde, ohne dass man mehr als einen kleinen Blitz gesehen hätte, das Kabel durchtrennt und der Laser driftete ab.
»Beide Kapitäne melden »Auftrag ausgeführt«, Sir. Keine Kollateralschäden am außerirdischen Schiff. Sie haben den Punkt der dichtesten Annäherung passiert und entfernen sich wieder.«
»Senden Sie ihnen »Gut gemacht!« und »Zurück nach Luna«.«
Ein Raumkampf hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den choreographierten Luftkämpfen. Die Orbitalmechanik gab einen starren Ablauf auf der Basis von Trägheitsmoment,
Beschleunigung und Vektoren vor. Die Xenia und Haver hatten allein schon Stunden gebraucht, um eine Angriffsposition zu beziehen. Nach dem einen Durchgang hatten sie keinen Brennstoff mehr, um auf Gegenkurs zu gehen. In Bezug auf die Geschwindigkeit stand der dreihunderttausend Kilometer entfernte Mond ihnen näher als das Schiff, das sie gerade angegriffen hatten.
Garth' Mund war trocken, als er den nächsten Befehl erteilte. »Anweisung an Battie und Evanston, ihren Angriff zu starten. Erster Offizier, bringen Sie uns rein.«
Er sah auf dem Bildschirm, wie die Triebwerke der zwei anderen Schiffe aufloderten und sie in Richtung des Alien beschleunigten. Van Zandt sank auf seine Beschleunigungsliege, als das dumpfe Brüllen der Motoren der Aurora die Hülle zum Vibrieren brachte. Zehn Minuten später drehten die drei Schiffe sich um hundertachtzig Grad, um das Bremsmanöver einzuleiten.
»Marines bereit, Sir«, meldete der Kommandant der Entermannschaft über die Gefechtsverbindung.
»Bereit halten, Major.«
»Aye, Aye, Sir.«
Wie zuvor füllte die Far Horizons den Bildschirm aus. Der Kreuzer peilte einen Punkt mittschiffs direkt über dem Rumpf des Sternenschiffs an und hatte seine Geschwindigkeit präzise an die Rotationsgeschwindigkeit des Sternenschiffs angeglichen. In den Startbuchten wurden vier stark bewaffnete Raumkapseln mit Soldaten bemannt. Die zwei Zerstörer näherten sich anderen Abschnitten an der Außenhülle des Sternenschiffs.
Als der riesige rotierende Zylinder zu einer Wand im schwarzen Himmel geworden war, wurden die Kampfkapseln über den hundert Meter breiten Abgrund katapultiert.
»Alle Kapseln melden Kontakt, Kapitän«, sagte der Funker. »Die Battie meldet alle Schoten gestartet und angedockt. Die Evanston musste den Anflug wegen des Schutts auf seiner Bahn abbrechen.«
»Welcher Schutt?«
»Fetzen vom Kabel, das die Xenia und Haver gekappt hatten.«
»In Ordnung. Sagen Sie der Evanston, dass sie zum hinteren Verschlussdeckel fliegen soll. Die Marines sollen jetzt entern.«
Der Befehl wurde an die beiden Korvetten übermittelt, die nun - unsichtbar — hinter dem Rumpf des Sternenschiffs als Relaisstation für Mannschaften und Gerät dienten. Als die Rotation der Far Horizons seine Entermannschaft in Sicht brachte, sah Garth Männer an Seilen hängen, die am Rumpf des Sternenschiffs befestigt waren, und Sprengladungen anbringen. Die Einstiegspunkte waren sorgfältig ausgewählt worden, um die Schäden am Sternenschiff zu minimieren. Nach wenigen Sekunden waren sie durch die Drehung des Sternenschiffs wieder außer Sicht.
Für Garth war das Warten auf ihr neuerliches Erscheinen nervenaufreibend. Als die Kapseln wieder über dem Horizont des Zylinders auftauchten, waren die Marinesoldaten bereits durch ein kleines dunkles Loch verschwunden, das sie in die Hülle des Sternenschiffs gesprengt hatten.
Eine halbe Stunde später meldeten die Marinesoldaten, dass die Far Horizons gesichert sei. Es hatte auf beiden Seiten keine Toten gegeben.
Eine Wache eskortierte Tory durch eine große Halle zu einem Konferenzraum. Seit ihrem Gespräch mit Ben Tallen waren vier Stunden vergangen — aber ihr kam es wie vier Jahrhunderte vor. Im Konferenzraum hatte man Faslorn, Maratel, Neirton und Raalwin auf für Menschen gemachten Stühlen am Kopfende eines langen Tischs platziert. Von den Außerirdischen durch ein halbes Dutzend freier Plätze getrennt saßen Boerk Hoffenzoller, Jesus de Pasqual, Praesert Sadibayan und Joshua Kravatz. Ben Tallen hatte sich über Sadibayan gebeugt und flüsterte seinem Chef etwas ins Ohr. Dann richtete er sich auf und kam Tory entgegen, während die Wache ihr die Handschellen abnahm, die sie auf den fünfzig Metern durch die Halle getragen hatte. Ben wies mit einer ausladenden Geste auf den Konferenzraum.
»Die gewünschten Maßnahmen wurden ausnahmslos getroffen.«
»Darf ich noch einmal mit Faslorn sprechen, bevor wir anfangen?«
»Sicher.«
Tory ging zum Kopfende des Tischs, wo die Phelaner saßen und nahm rechts neben Faslorn Platz. Sie und die vier Aliens steckten die Köpfe zusammen, und sie erläuterte ihnen in einem atemlosen Flüstern den Anlass für die Besprechung.
»Ich dachte, wir hätten das schon vor drei Tagen in der Botschaft geklärt, Victoria«, sagte Faslorn, als sie fertig war. »Unser Geheimnis zu offenbaren wird nur in einer Katastrophe enden.«
»Die Dinge treiben bereits auf eine Katastrophe zu. Die Marine hat den Auftrag, die Far Horizons zu entern.«
Bei dieser Nachricht ließ Faslorn die Ohren hängen. »Dann spielt es kaum noch eine Rolle, was wir ihnen sagen. Die Flotte wird Vorbereitungen für eine neue Reise treffen, sobald diese Nachricht sie erreicht.«
»Nicht wenn wir den Ersten Rat überzeugen, die Entermannschaft zurückzurufen. Dazu muss er aber wissen, was wirklich auf dem Spiel steht. Er wird es eher glauben, wenn Sie es ihm erzählen.«
Faslorn zögerte und »nickte« dann. »Also gut. Es wird zwar keinen Unterschied machen, aber vielleicht werde ich dann das Vergnügen haben, ihre Gesichter zu sehen, wenn sie begreifen, was sie getan haben.«
Tory nickte und drehte sich zu Boerk Hoffenzoller um, während die vier Phelaner sich auf ihren Sitzen strafften. »Sir, ich habe Sie hierhergebeten, damit Faslorn Ihnen ein paar Dinge erläutern kann.«
»Sie haben das Wort, Miss Bronson«, sagte der Erste Rat. »Ich muss Sie aber darauf hinweisen, dass niemand von uns geneigt sein wird, den Worten eines Phelaners noch Glauben zu schenken.«
»Es wird keine weiteren Lügen mehr geben, Herr Erster Rat«, erwiderte Faslorn. »Weil Tory uns so gut gedient hat, werde ich ihrer Bitte entsprechen. Es wird zwar keinen Unterschied für das Schicksal der Menschheit machen, aber Sie werden dann zumindest wissen, welchen Dienst sie Ihrer Spezies erweisen wollte.«
Faslorn erklärte, wie Neutrinos, die flüchtigsten aller subatomaren Teilchen, in eine Wechselwirkung mit dem Feuer zu treten vermochten, das im Herzen jedes Sterns loderte. Seine Zuhörer lauschten mit einem verwirrten Gesichtsausdruck der Geschichte von den Usurpatoren und wie ihre Fehlkalkulation schließlich zur Tau-Ceti-Nova eskaliert war.
»Ergibt das irgendeinen Sinn?«, wollte Hoffenzoller von seinem Wissenschaftsminister wissen.
De Pasqual kaute auf der Unterlippe herum und zuckte die Achseln. »Wir wissen zwar seit dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, dass bei einer Supernova Neutrinos entstehen, aber dass sie auch eine Nova auslösen können, höre ich jetzt zum ersten Mal.«
»Der Prozess beruht auf einer bestimmten quantenmechanischen Resonanz bei stellaren Reaktionen, die Ihren Wissenschaftlern noch unbekannt sind, Herr Minister«, erklärte Faslorn. »Oder haben Sie eine andere Erklärung dafür, wie ein Hauptreihenstern zur Nova wird?«
»Keine plausible.«
Hoffenzoller ließ seine Ungeduld erkennen. »Das ist ja alles sehr faszinierend, Faslorn, aber was hat das nun mit uns zu tun?«
»Alles, Herr Erster Minister. Um einen anderen Stern zu erreichen, benötigen wir eine neue Nova. Dieses Mal wird es Ihre Sonne sein, die unseren Lichtsegeln einen Impuls verleiht.«
Für eine Weile hatte Tory den Eindruck, dass Boerk Hoffenzoller gleich der Schlag treffen würde. Sie kannte die Sprache zwar nicht, in der er fluchte, aber es bestand kein Zweifel am emotionalen Gehalt der Worte. Faslorn wartete teilnahmslos, bis er und die anderen sich wieder beruhigt hatten, bevor er fortfuhr.
»Meine Herren, damit hier völlige Klarheit herrscht: Meine Spezies verfugt über die Mittel, Ihren Stern zu zerstören. Wir würden diese Mittel nur höchst ungern einsetzen, weil wir nämlich schon unseren eigenen Stern auf dem Gewissen haben. Aber Sie sollten aus diesem Widerwillen keine falschen Schlüsse ziehen. Wir vernichten die Sonne, wenn Sie uns dazu zwingen. Wenn wir uns hier nicht niederlassen können, müssen wir ein anderes System finden. Wir sind schon viel zu weit gekommen, um kampflos abzutreten!«
»Wieso zum Teufel haben Sie uns das nicht schon früher gesagt?«, fragte Hoffenzoller barsch.
Faslorn erklärte ihm, weshalb die Phelaner mit der ganzen Wahrheit hinter dem Berg gehalten hatten, auch als alles schon verloren schien.
»Sadibayan?«, fragte der Erste Rat, als Faslorn geendet hatte.
Der Botschafter bei den Phelanern zuckte die Achseln. »Er hat schon recht damit, dass die Hölle ausbricht, wenn das herauskommt.«
Tory meldete sich zu Wort. »Deshalb darf es auch nie herauskommen. Es muss ein Geheimnis unter den in diesem Raum Anwesenden bleiben.«
Hoffenzoller warf einen finsteren Blick in ihre Richtung. »Diese Nachricht ist verdammt noch mal zu wichtig, um sie den Leuten vorzuenthalten.«
»Ich wiederhole mich, Herr Erster Rat. Ihr Leben hängt von der Geheimhaltung ab.«
»Was würden Sie uns also raten?«, fragte der Erste Rat.
»Die Phelaner aufzunehmen, was sonst?«
»Ich bezweifle, dass es möglich ist, sie aufzunehmen, Miss Bronson. Man kann ihnen nicht trauen.«
»Mit der gleichen Begründung werden die Kommandanten der Dritten Flotte die Sonne vernichten. Sie ziehen das Gespräch doch sicherlich dem Tod vor!«
»Ich wüsste aber nicht, was es noch zu besprechen gibt«, sagte er. »Wir können nicht noch zwei Komma acht Milliarden Mäuler auf diesem Planeten stopfen. Wir würden alle verhungern.«
»Das ist wohl ein Problem, aber vielleicht kein so unlösbares, wie Sie glauben.« Sie versuchte möglichst rational zu klingen, wusste aber nicht, ob ihr das auch gelang.
Dann meldete Joshua Kravatz sich zum ersten Mal zu Wort. »Woher wissen wir überhaupt, dass sie ihre Drohung auch wahr machen können?«
»Die Tau-Ceti-Nova«, erinnerte Tory ihn. »Möchten Sie das Leben Ihrer Wähler darauf verwetten, dass sie nur bluffen?«
»Wir haben doch immer noch die Marine, die uns beschützen wird.«
»Die Sternenschiffe werden die Sonne von jenseits der Plutobahn beschießen. Bis auch nur ein einziges Lichtsegel in Schussweite der Marine kommt, wird es zu spät sein.«
»Es ist bereits zu spät«, sagte Faslorn neben ihr. »Falls Marinesoldaten die Far Horizons geentert haben, werden die Flottenkommandanten die sofortige Umgruppierung anordnen.«
»Haben sie das Schiff geentert, Herr Erster Minister?«
Er wich ihrem Blick aus. »Die Marine hat vor zwei Stunden die Kontrolle über die Far Horizons übernommen.«
Ein leises Wimmern ertönte am Ende des Tischs, wo die Phelaner saßen. Es war Maratel. »Es ist alles verloren! Das Kapern oder die Zerstörung des Scoutschiffs wird die Flotte davon überzeugen, dass man den Menschen nicht vertrauen kann.«
Tory riss den Kopf so schnell herum, dass sie den Zug in den Wirbeln spürte. »Dann sagen Sie es ihnen nicht!«
Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte Tory den Eindruck, dass sie Faslorn wirklich überrascht hatte. Sein erstauntes Blinzeln war fast menschlich. »Was?«
»Wenn die Nachricht von der Kaperung eine solche Reaktion bei ihnen auslöst, dann erzählen Sie es ihnen einfach nicht«, wiederholte sie mit bemüht rationaler Stimme. »Die Kommunikationsanlage Ihres Schiffes ist defekt. Also können sie noch keine Warnung erhalten haben. Außerdem ist die Operation noch nicht in unseren Medien bekannt gegeben worden. Wie sollen sie es dann herausfinden?«
»Es wird einen solchen Bericht geben.«
»Nicht wenn der Erste Rat schnell handelt und es mit dem Siegel der Geheimhaltung versieht. Wir sind durchaus imstande, ein Geheimnis zu bewahren, wenn es sein muss.«
»Sie verlangen von mir, meinen Kommandanten zu belügen.«
»Sie haben auch von mir verlangt, meine Leute für drei lange Jahre zu belügen. Jetzt müssen Sie eben einmal in den sauren Apfel beißen. Wo das Schicksal unserer beiden Spezies auf dem Spiel steht, meinen Sie nicht auch, dass eine kleine Notlüge in Ordnung geht?«
Tory spürte die Verzweiflung in sich aufwallen, als Faslorn nicht antwortete. Doch verwandelte dieses Gefühl sich dann in einen sprudelnden Quell der Hoffnung, als der Anführer der Phelaner sich an die anderen wandte und in einem außerirdischen Stakkato auf sie einredete. Das ging ein paar Minuten so weiter, wobei alle vier Phelaner sich daran beteiligten. Als es zu Ende war, wandte Faslorn sich an seine menschlichen Zuhörer.
»Herr Erster Rat. Glauben Sie, dass Sie den Angriff vor Ihren Medien geheim halten können?«
»Ich kann's versuchen.«
»Glauben Sie, dass es noch etwas zu verhandeln gibt?«
»Ich schätze es überhaupt nicht, mich unter Druck setzen zu lassen, Faslorn, aber in Anbetracht dessen, was auf dem Spiel steht, bin ich dazu bereit, wenn Sie es auch sind.«
»Dann versuchen wir es. Langfristig wird es wahrscheinlich nichts fruchten, aber wir beide sind unseren Spezies den Versuch schuldig. Lassen Sie uns die Verhandlungen bitte fortführen.«
»Wann und wo?«, fragte Tory.
Diesmal war es an den Menschen, die Köpfe zusammenzustecken. Als sie die engagierte Beratung beendet hatten, ergriff der Erste Rat wieder das Wort. »Da noch Vorbereitungen für die Stabilisierung der Situation zu treffen sind, schlage ich vor, dass wir uns für vierundzwanzig Stunden vertagen.«
»Und die Marinesoldaten an Bord meines Schiffes?«, fragte Faslorn.
»Ich werde ihnen nicht befehlen, sich zurückzuziehen, aber ich werde ihnen befehlen, Ihre Leute korrekt zu behandeln. Solange kein Versuch unternommen wird, Ihr Lichtsegel als Waffe zu verwenden, werden von unserer Seite aus keine feindseligen Handlungen erfolgen. Ich werde auch einen sicheren Kommunikationskanal zu Ihrem Schiff bereitstellen, damit Sie Ihre eigenen Anweisungen geben können.«
Faslorn wandte sich an Tory. »Stellen die Maßnahmen Sie zufrieden, Victoria?«
Sie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. »Sie sind zwar nicht perfekt, aber um Längen besser als die Sonne in die Luft zu blasen.«
Niemand sagte etwas dazu, aber der Körpersprache und dem Gesichtsausdruck der Anwesenden nach zu urteilen war es offensichtlich, dass Phelaner und Menschen sich zum ersten Mal einig waren.