13

Nach dem Bankett geleiteten die Phelaner die menschlichen Gäste zu ihren Unterkünften. Die Gästequartiere befanden sich auf derselben Ebene im Verschlussdeckel wie der Bankettsaal, wobei jedem Besatzungsmitglied ein eigenes Apartment - mit einem gemeinsamen Wohnbereich — zugeteilt wurde. Am anderen Ende wurde der Gemeinschaftsbereich von einer transparenten Wand abgeschlossen, durch die man einen Blick über das ganze Habitat des Schiffs hatte. Nur dass die Szenerie im Vergleich zur letzten Besichtigung sich deutlich verändert hatte. Die Sonnenröhre strahlte nicht mehr in einem hellen Orangeweiß. Sie leuchtete nun in einem weichen blauen Licht, das sich wie ein dünner Nebel vom Himmel herabsenkte. Nur die verzerrten Lichter einiger Dörfer befanden sich scheinbar direkt unter ihrer Warte.

»Es regnet!«, rief Kit. Sie erhob sich und trat ans Fenster.

»Natürlich«, sagte Rolan, Kits Mentorin.

»Aber warum?«

»Der Sturm steht regelmäßig auf dem Plan. Es reinigt das Innere, erfrischt die Luft und gestaltet das Leben auch in anderer Hinsicht interessanter. Freuen die Menschen sich denn nicht, wenn das Wetter sich mal ändert?«

Für Tory, die ihr ganzes Leben unter den künstlichen Kuppeln des Mars verbracht hatte, war Regen ein unbekanntes Phänomen. Für sie beschränkte sich »Wetter« auf Staubstürme. Selbst auf den niedrigsten Erhebungen war die Marsatmosphäre so dünn, dass die dortigen Winde kaum mehr waren als ein sanfter Hauch. Und auf dem Gipfel von Olympus Mons war die Atmosphäre kaum dichter als ein Grobvakuum. Als sie sah, wie die kleinen Sturzbäche auf ihren sanft gekrümmten Coriolis-Bahnen am Fenster herunterliefen, vermochte Tory die irdische Vorliebe für Wetter erstmals nachzuvollziehen.

Als niemand antwortete, fuhr Rolan mit ihrer Erklärung fort. »Den Einbruch der Nacht und den Ausbruch dieses Sturms haben wir bewusst verzögert, damit Sie das Schiff noch vor dem Bankett sehen konnten. Wir haben jetzt wieder auf unser normales Wetterprogramm umgeschaltet.«

Faslorn schlug vor, dass die Mentoren ihre »Mündel« zu den Unterkünften führten. Maratel geleitete Tory zur ersten Tür rechts neben dem Fenster. Als sie das Apartment betrat, entdeckte Tory, dass es auch eine transparente Wand in einem Raum gab, den sie für das Wohnzimmer hielt. Die anderen drei Räume in der kleinen Suite waren ein Schlafzimmer, Badezimmer und ein Arbeitszimmer. Die Räume waren im »modernen« Renaissancestil eingerichtet, der — obwohl er auf der Erde gerade in Mode war - Tory ausgesprochen hässlich anmutete. Maratel führte sie durch ihre neue Unterkunft und zeigte ihr die verborgene Technik, mit der das Quartier förmlich gespickt zu sein schien.

Das Badezimmer hatte die gleiche Niedergravitations-Architektur, wie man sie auch auf Luna und Mars vorfand. Die Dusche war vollständig gekapselt und hatte einen Schichtströmungsabfluss in der Wanne, der das Wasser genauso schnell absaugte, wie es vom Sprühkopf an der Decke eingespritzt wurde. Die Toilette entsprach ebenfalls dem herkömmlichen Badezimmer-Design.

Im Arbeitszimmer fand Tory einen Schreibtisch und eine komplette Büromaschinenausstattung. Der Computer hatte laut Maratel eine Standleitung zum Bordcomputer der Austria. Er würde Torys Ansprüchen genügen, bis die phelanischen Techniker die Funkverbindung wieder hergestellt hatten.

»Sie können sich mit diesem Computer auch in die Bibliothek der Far Horizons einloggen«, sagte Maratel. Sie zeigte Tory, wie man auf die Datenbank Zugriff. Der Bildschirm teilte sich plötzlich asymmetrisch. Auf der linken Seite des Schirms liefen Reihen von Punkten langsam nach oben. Auf der größeren rechten Seite wurden Sätze und ganze Absätze aus leuchtenden Buchstaben dargestellt.

Tory ignorierte die Wörter und wies auf die wandernden Punktmuster. »Ist das die Schrift der Phelaner?«

»Das ist sie. Der Übersetzer verwendet einen Direktäquivalenz-Algorithmus. Das heißt, er wandelt spezifische phelanische Ausdrücke in die treffendste menschliche Entsprechung um.«

»Dann ist das also alles, was wir für Ihr Studium benötigen!«

»Ich bedaure, aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Der Äquivalenz-Algorithmus vermag weder das sogenannte Weltwissen zu transportieren noch den jeweiligen Kontext zu erfassen, die den Daten zugrunde liegen. Die meisten Bildschirminhalte werden zwar in vollständigen Standardsätzen dargestellt, dürften aber trotzdem keinen Sinn für Sie ergeben.«

Tory lachte. »Ich hatte das gleiche Problem, als ich damals mit dem Informatik-Studium begann.«

»Wir haben auch Schwierigkeiten mit menschlichen Sendungen, weil wir die Mentalität des Publikums nicht kennen. Zum Beispiel entgehen den meisten von uns die feineren Nuancen bestimmter Spielarten des Humors, der spät im Nachtzyklus der Sender übertragen wird.«

Tory fragte sich, wie sie Maratel begreiflich machen sollte, dass ein großer Teil des menschlichen Humors — vielleicht sogar der größte — auf Sex basierte. Nicht, dass sie Maratel in dieser Hinsicht für unwissend gehalten hätte. Die Phelaner hatten bereits ein zu großes Verständnis der Menschen demonstriert, um nicht »aufgeklärt« zu sein. Dennoch - wie stark war das Vorstellungsvermögen eines Außerirdischen in dieser Hinsicht ausgeprägt? Anstatt zu versuchen, es ihr zu erklären, deutete sie auf den Bildschirm. »Wie werden die Punkte interpretiert?«

»Die Verbalsymbole der Phelaner werden in einer Fünf-mal-fünf-Punktmatrix dargestellt. Jeder Wort-Ausdruck hat ein ganz bestimmtes Punktmuster, das wir dann in multiplen Matrizen aneinanderreihen, um zusammenhängende Gedanken zu artikulieren.«

»So wie wir Buchstaben verwenden, um Wörter zu bilden?«

»Nein, es entspricht eher den chinesischen Schriftzeichen. Die komplette Matrix ermöglicht zwei hoch fünfundzwanzig Permutationen - mehr als genug. Für die Allgemeinsprache verwenden wir eine Vier-mal-vier-Teilmenge der Matrix. In Ihrem Zahlensystem auf der Basis zehn sind das insgesamt fünfundsechzigtausendfünfhundertfünfünddreißig Symbole, die Null-Matrix noch nicht mitgerechnet.«

»Wie können Sie sich das alles überhaupt merken?«

Maratel stieß das bellende Lachen der Phelaner aus.

»Wie merken Sie sich den Unterschied zwischen >das<, >dass< und >Tass<?«

Tory stimmte in ihr Gelächter ein. »Ja, da ist was Wahres dran.«

Sie setzten die Begehung der Unterkunft fort. Im Wohnzimmer gab es einen Getränkeautomaten, wie er auch im Gemeinschaftsbereich aufgestellt war. Mit einem Sprachbefehl konnte man alkoholfreie und alkoholische Getränke ordern und auch solche, die mit einem milden Euphorikum angereichert waren.

Das Schlafzimmer war die letzte Station. Das flauschig weiche Bett hatte die Größe einer Spielwiese und schien aus der Requisite eines Rotlicht-Filmstudios zu stammen.

»Und wo schlafen Sie?«

»Unsere Unterkunft befindet sich in der Nähe«, erwiderte Maratel. »Nach unserem Verständnis des menschlichen Bedürfnisses nach Privatsphäre bevorzugen Sie einen Raum für sich selbst. Oder sind Sie mit Kapitän Van Zandt oder Professor Guttieriz liiert?«

Tory zögerte und fragte sich, wie sie ihr die einschlägigen Arrangements an Bord der Austria erklären sollte. Dann entschied sie sich, nicht weiter darauf einzugehen. Weil die Phelaner zweifellos jede ihrer Handlungen überwachen würden, hatte sie auch nicht vor, zu Garth ins Bett zu steigen, solange sie sich an Bord des Sternenschiffs befand. Wenn die Phelaner die menschliche Sexualität studieren wollten, würden sie sich wie alle anderen mit Büchern und Anschauungsmaterial behelfen müssen. »Nein, wir ... sind nicht liiert.«

»Dann haben Sie jemanden zu Hause.«

»Vielleicht«, erwiderte sie. Zu ihrem Erstaunen wurde sie sich bewusst, dass sie schon seit Wochen nicht mehr an Ben gedacht hatte. Sie fragte sich, ob er wohl an sie gedacht hatte.

»Wenn Sie meiner Hilfe bedürfen, müssen Sie es nur laut sagen, und ich bin sofort bei Ihnen.«

Diese Aussage bestätigte, was Tory bereits vermutet hatte - dass nämlich jeder Quadratzentimeter der Wohnung überwacht wurde. Und sie fragte sich, wie viele Phelaner wohl »spannen« würden, wenn sie ins Badezimmer ging und verdrängte diesen Gedanken sofort wieder. Wenn sie sich da hineingesteigert hätte, hätte sie womöglich noch eine Verstopfung bekommen.

»Ist die Unterkunft zufriedenstellend?«

»Sie ist geradezu luxuriös!«

»Faslorn war der Ansicht, dass Sie und Ihre Freunde nun schlafen wollen.«

Tory schaute auf ihren Ärmel-Chronometer, obwohl das eigentlich unnötig war, solange das Implantat aktiv war. Zu ihrer Überraschung ging es bereits auf Mitternacht zu. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und während des langen Anflugs hatten sie auch nur Zeit für ein paar Nickerchen gehabt. Sie streckte sich und gähnte herzhaft. »Jetzt, wo Sie es sagen, bin ich doch ziemlich müde.«

»Wenn Sie Schlafzeug brauchen, finden Sie es im Schrank hinter Ihnen.«

Tory drehte sich um und entdeckte eine verkleidete Tür im Schott. Sie öffnete sie und schaute in einen begehbaren Kleiderschrank. An drei Seiten hing Kleidung aller Art, und es dauerte auch nicht lange, bis sie festgestellt hatte, dass die Kleidungsstücke alle in ihrer exakten Größe waren. Wie sie das wohl angestellt hatten?, fragte sie sich.

Sie entkleidete sich schnell und streifte sich ein Nachthemd über, das sich nach Seide anfühlte. Normalerweise schlief sie an Bord eines Schiffs immer nackt - einmal als Vorsichtsmaßnahme, falls sie sich bei einem Alarm schnell anziehen musste, und zum anderen, weil es einfach angenehmer für sie war.

Sie legte sich ins Bett und war nach weniger als einer Minute eingeschlafen.

Tory wurde von einer leisen Musik geweckt, die von irgendwo ertönte. Sie lag einfach nur da und ließ die Ereignisse des letzten Tages Revue passieren. Ihr genereller Eindruck von den Phelanern war der eines sanftmütigen Völkchens, das bestrebt war, ihnen alle Fürsorge angedeihen zu lassen. Natürlich war das genau der Eindruck, den sie bei ihr hervorrufen wollten. Sie erinnerte sich an Garth' Bemerkung, dass sie sich den Blick eines Skeptikers bewahren müssten. Aber sie musste auch gestehen, dass — falls Faslorn und seine Leute sie weiterhin so bemutterten wie bisher - es schwierig würde, sie mit der gebotenen Objektivität zu betrachten.

Als sie gerade aufstehen wollte, öffnete sich die Tür und Maratel trat mit einem Tablett ein, auf dem ein paar dampfende Teller standen.

»Guten Morgen. Haben Sie gut geschlafen?«

Tory streckte sich, um den Kreislauf anzuregen. »So gut wie seit Monaten nicht.«

»Fein. Hier, ich habe Ihnen Frühstück mitgebracht.« Maratel stellte das Tablett auf Torys Schoß ab und schüttelte das Kissen hinter ihr auf, damit sie es als Rückenlehne nutzen konnte. Tory griff nach einem Stück von etwas, das wie mit Butter bestrichenes Toastbrot aussah. Der Geschmack wies auch eine große Ähnlichkeit mit dem Original auf, wie sie dann feststellte. Sie trug Maratel auf, dem Küchenchef ein Lob auszusprechen.

»Er wird sich freuen. Aber wir haben natürlich geschummelt.«

»Wie das?«

»Kapitän Van Zandt hat uns die Erlaubnis erteilt, Ihre Lebensmittelvorräte an Bord der Austria unter die Lupe zu nehmen. Unseren Chemikern fällt es viel leichter, Ihre Nahrung zu kopieren, wenn wir eine Arbeitsprobe haben. Ist das Bett auch bequem?«

»Sehr. Die Rotationsschwerkraft trägt aber auch dazu bei. Ich bin zwar noch nie auf der Erde gewesen, aber ich habe das obligatorische Zentrifugentraining absolviert. Die vollen neun Komma acht Meter pro Sekundenquadrat sorgen wirklich für Bodenhaftung!«

»In dieser Hinsicht bin ich wohl besser dran als Sie. Die Schwerkraft von Phela betrug siebenundachtzig Prozent des Werts auf der Erde. Dann werde ich wenigstens keine Plattfuße bekommen, wenn wir die Heimatwelt der Menschheit besuchen.« Maratel ging zum Wandschrank und suchte einen schwarz-silbernen Overall nach der neuesten irdischen Mode heraus.

Tory zeigte darauf. »Diese Kleidung. Das Essen. Wie viele Leute haben Sie nur dazu abgestellt, für unser Wohlergehen zu sorgen?«

»Ein paar hundert.«

»Es ist doch nicht nötig, uns von vorn bis hinten zu bedienen. Wir werden Ihr Anliegen wohlwollend prüfen, selbst wenn wir uns mit der normalen Bordverpflegung begnügen müssten.«

»Indem wir Sie mit diesen Dingen versorgen, stellen wir unsere Leistungsfähigkeit unter Beweis. Sie könnten natürlich auch an Bord Ihres Schiffs leben und an Führungen durch die Far Horizons teilnehmen. Aber was würde wohl den größeren Eindruck auf Sie machen: Faslorn zuzuhören, während Sie Arbeiter bei der Verrichtung von Tätigkeiten beobachten, von denen Sie nicht die geringste Ahnung haben, oder in einen warmen, knusprigen Toast zu beißen, von dem Sie wissen, dass er erst vor ein paar Stunden synthetisiert wurde?«

»Das hat etwas für sich. Vielleicht habt ihr Leute wirklich einen Plan.«

Maratel schenkte ihr ein »menschliches« Lächeln. »Wir haben uns seit über zweihundert Jahren mit der Frage befasst, wie man sich den Menschen am besten nähert. Ich glaube, dass es Spezialisten an Bord dieses Schiffs gibt, die jederzeit eine Praxis als Humanpsychologe eröffnen könnten. Wer weiß? Vielleicht werden sie es sogar einmal tun.«

Tory nahm einen Schluck »Tee«. Sein Geschmack kam aber nicht annähernd so nah ans Original heran wie der Toast. Die Flüssigkeit schmeckte zwar nicht schlecht, hatte aber einen leicht öligen Nachgeschmack. »Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass es vielleicht unklug wäre, uns wissen zu lassen, wie viel Sie über uns wissen?«

Maratel schaute konsterniert - worauf Tory wiederum darüber staunte, dass es ihr gelungen war, diesen Eindruck zu erwecken, wo ihre Augenbraue zum Wölben doch offensichtlich ungeeignet war.

»Wieso denn?«, fragte die Mentorin.

»Es vermittelt uns ein Gefühl der Unsicherheit, wenn wir glauben, dass jemand uns zu gut kennt.«

»Aber nicht annähernd so unsicher, wie Sie sich fühlen würden, wenn Sie uns bei einer Lüge ertappen. Wie Faslorn gestern Abend bereits darlegte, >ist Ehrlichkeit die beste Politik.«

»Das ist eine dieser Redensarten, die eher durch ihre Missachtung als durch ihre Befolgung auffällt.« Es trat ein langes Schweigen ein, während Tory das Frühstück beendete. Nachdem sie den Tee runtergekippt hatte, fragte sie: »Schläft Kapitän Van Zandt noch?«

»Er ist schon seit mehreren Stunden wach. Er wollte unsere Techniker beaufsichtigen, wenn sie Ihre Antriebseinheit ins Schlepptau nehmen.«

»Ist die Starhopper nun mit diesem Schiff gekoppelt?«

»Mit dem Lichtsegel«, erklärte Maratel, wobei ihr Kopf auf dem langen Hals auf und nieder hüpfte.

»Aber wie ist das überhaupt möglich? Das Lichtsegel rotiert doch!«

»Die Takelage ist ziemlich komplex. Es genügt, wenn ich Ihnen sage, dass wir Abschleppseile an Ihrer Antriebseinheit befestigt haben und den Antrieb wiederum mit Befestigungsleinen des Segels verbunden haben. Durch die aktive, mit der Rotation des Segels synchronisierte Längenänderung der Abschleppseile erhalten wir eine konstante Spannung auf Starhopper aufrecht.«

»Das muss ich sehen.«

»Wir haben die ganze Operation aufgezeichnet. Sie können sie sich in Ihrer Freizeit anschauen.«

»Was steht für heute auf dem Plan?«

»Faslorn sagte sich, dass Sie vielleicht noch erschöpft seien. Er hat deshalb eine Besichtigung der Habitat-Ebene vorgeschlagen, damit Sie etwas über unser Volk und unser Schiff erfahren. Ihre Formalausbildung beginnt morgen.«

»Formalausbildung?«

»Wir haben ein volles Programm für Sie entwickelt. Wir möchten Ihnen Kenntnisse unserer Kultur, Geschichte und Wissenschaft vermitteln, damit Sie Ihren Leuten eine Interpretationsgrundlage bieten können, wenn Sie Ihre Berichte vorlegen. Sie müssen aber nicht teilnehmen, wenn Sie das nicht wünschen.«

»Was sagen denn die anderen?«

»Professor Guttieriz ist mit Corwin und Raal unterwegs. Dr. Claridge besichtigt ein Krankenhaus.«

»Sie meinen, dass ich die Einzige bin, die noch im Bett liegt?«

Maratel zuckte vielsagend die Achseln. Es war eine Geste, die alle vier Arme umfasste. »Wir hielten es für das Beste, Sie schlafen zu lassen.«

Tory stellte das Tablett beiseite und schwang die bloßen Füße auf das mit einem Teppichboden ausgelegte Deck. »Ich kann später immer noch schlafen. Kommen Sie, schauen wir uns das Schiff an!«

Garth Van Zandt war irgendwo in der Nähe der Drehachse auf einem Stuhl festgeschnallt. Die Abteilung um ihn war verschwunden, und er hatte die Illusion, dass er und Faslorn im schwarzen All schwebten. Wie die Phelaner diese Illusion erzeugten, war ihm freilich ein Rätsel. Das schmälerte aber nicht sein Vergnügen.

Er bewegte den Joystick in der Armlehne seines Stuhls und vergrößerte die Darstellung, bis Starhopper im Mittelpunkt stand. Die Leinen, die die Phelaner an der Boosterrakete seines Schiffs vertäut hatten, waren zu dünn, als dass er sie vor dem Hintergrund des Raums gesehen hätte. Aber sie waren da und verhinderten, dass die Steuertriebwerke alle paar Minuten feuerten, um die Geschwindigkeit an das immer langsamer werdende Sternenschiff anzugleichen. Starhopper baumelte nun am Ende einer etliche tausend Kilometer langen Leine - wie ein Fisch an der Angel.

»Ein erstaunliches Schiff, das Sie da haben, Faslorn«, sagte Garth und setzte seine Videotour fort. Er schwenkte über den Rumpf der Far Horizons und holte die Ankerkugel der Steuerleitung heran — die tausend Leinen, die von ihr fortstrebten, verliehen ihr die Anmutung eines Stachelschweins. Jede Leine steckte in einer surrealistischen violetten Hülle aus glühendem Plasma.

»Schauen Sie das Glühen!«, rief Garth. Das war etwas ganz anderes als das sporadische Elmsfeuer, das er während des Anflugs gesehen hatte. Es war, als ob die Phelaner das Plasmafeld zielgerichtet um die Steuerleitungen konzentrierten. Kein Wunder, dass sie auf dem Radar so deutlich hervortraten!

»Die Steuerleitungen sind Supraleiter«, erklärte Faslorn. »Mit ihnen saugen wir Elektronen vom Lichtsegel ab. Das elektrische Feld zieht nämlich die freien Protonen im Plasmawind an.«

»Man sollte meinen, dass Ihnen die Elektronen irgendwann ausgehen würden.«

Faslorn lachte. »Da irren Sie sich, Kapitän. In dieser Entfernung von der Sonne wird eins von fünf Wasserstoffatomen auf natürlichem Weg ionisiert. Auf unserer Flugbahn werden freie Elektronen durch die positive Ladung des Segels angezogen. Sie konzentrieren sich in einem ständigen Fluss auf der Rückseite und müssen kontinuierlich abgesaugt werden. Wir verwenden sie als Energiequelle für den Ionisationslaser.«

»Wir hatten uns schon während des Anflugs gefragt, womit Sie ihn wohl betreiben. Erzählen Sie mir mehr davon ...«

Der Lift war nur mit Tory und Maratel besetzt. Maratel hatte sie durch ein Labyrinth aus Gängen zu einem anderen Aufzug geführt — zu dem, der sie schon zum Bankett befördert hatte. Der Verschlussdeckel des Zylinders war eine Wabenstruktur aus Korridoren und Wohnbereichen. Erst jetzt erfasste Tory den Raum, den das Sternenschiff umschloss, in seiner ganzen Dimension.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte Maratel, als die Gravitation aufs Doppelte der normalen Marsschwerkraft anstieg.

Torys Antwort klang etwas unsicher. »So la la.« Die Corioliskraft störte ihren Gleichgewichtssinn.

Die Tür öffnete sich in einen richtigen Wald mit echtem Holz und Laub. Tory blinzelte, als Maratel sie dort hineinschob; sie stand nun auf einem gepflasterten Pfad unter einem Pflanzenbaldachin. Die Pflanzen hatten weder eine Ähnlichkeit mit allem, was sie auf dem Mars gesehen hatte noch mit der irdischen Flora, die sie in der Schule kennengelernt hatte. Phelanische Bäume hatten Kugelform, wobei die Äste radial aus einem Ausgangspunkt in der Nähe des Bodens sprossen. Am Ende jedes Asts hing ein einzelnes sechseckiges Blatt, das sich mit den benachbarten Blättern wie ein 3-D-Puzzle zu einer geschlossenen grünen Halbschale zusammenfügte. Der optische Effekt war der, als ob jemand vor ein paar Millisekunden eine Bombe in einem Laubhaufen gezündet hätte.

Der Pfad führte direkt in einen Tunnel, den man durch die Kugel eines Baums getrieben hatte. Es dauerte einen Moment, bis Torys Augen sich an die Dunkelheit unter der Kuppel angepasst hatten, und sie stellte zu ihrer Überraschung fest, dass mehr als ein Augenpaar sich auf sie richtete. Die Augen gehörten etlichen kleinen sechsbeinigen Tieren, die — von den zwei zusätzlichen Beinen abgesehen — Klammeraffen ähnelten.

Tory deutete auf eins dieser Tierchen. »Die Exobiologen auf der Erde werden sich die Haare raufen, wenn sie das sehen. Sie haben nämlich jenseits aller Zweifel bewiesen, dass die Evolution die Anzahl der Beine bei einem Tier grundsätzlich auf vier beschränkt.«

Maratel lachte. »Unsere Zoologen könnten genauso gut die Vorteile von sechs Beinen darlegen. Es wird interessant sein zu sehen, welchen Regeln der nächste bewohnte Planet folgt, den wir entdecken.«

»Sie werden wahrscheinlich fünf haben.«

»Vielleicht ist alles möglich, und allein der Zufall - den es nicht gibt - steckt den Pfad der Evolution auf jeder Welt ab.«

»Da könnten Sie recht haben«, erwiderte Tory und beobachtete ein kleines Tier, das von ihr fasziniert schien. »Sind sie intelligent?«

»Nicht intelligenter als die Affen bei Ihnen zu Hause. Wir haben ihnen die Standardbezeichnung Hexa-Affen verliehen.«

»Sind denn alle phelanischen Lebensformen sechsgliedrig?«

»Viele zumindest. Ein paar niedere Tiere — die Entsprechung irdischer Kerbtiere - haben acht beziehungsweise zwölf Beine. Und wir haben auch eine Gattung ganz ohne Beine. Sie ähneln den irdischen Schlangen, besetzen aber eine andere ökologische Nische.«

»Sie werden mir mal eine zeigen müssen. Ich habe nämlich noch nie eine Schlange gesehen. Das einzige Exemplar im Zoo von Olymp ist eingegangen, bevor ich alt genug war, um mich an Besuche im Zoo zu erinnern.«

Maratel flanierte mit ihr auf dem Pfad, und dann traten sie aus dem Kugelbaum heraus ins warme, pastellorange Licht der Sonnenröhre. Der Spaziergang führte sie durch ein Blumenmeer. Manche Blüten muteten wirklich sonderbar an, doch andere wirkten fast vertraut. Tory machte eine Bemerkung über eine Blume, die bei schlechtem Licht als Rose hätte durchgehen können.

»Die Ähnlichkeit ist rein zufällig«, erklärte ihre Mentorin. »Innerlich unterscheidet die ardt sich von jeder irdischen Pflanze.«

»Eine ardt unter einem anderen Namen würde genauso lieblich duften?«

»William Shakespeare!«, sagte Maratel lachend. »Romeo und Julia, glaube ich.«

»Ich bin beeindruckt.«

Maratel deutete auf die Blume. »Schnuppern Sie ruhig einmal daran.«

Tory roch daran und hätte sich beinahe übergeben beim Gestank nach ranzigem Speck.

»Wahnsinn!«

»Die unterschiedliche Biochemie, die Faslorn Ihnen gegenüber erwähnte.«

»Das wird's wohl sein.«

Nachdem sie langsam weitere zweihundert Meter zurückgelegt hatten, standen Tory bereits die ersten Schweißperlen auf der Stirn. Maratel bemerkte das und führte sie zu einer Bank am Wegesrand. Die musste man auch eigens für sie aufgestellt haben, sagte sie sich. Die Proportionen entsprachen nämlich nicht den kurzen Beinen der Phelaner.

Tory verschnaufte, legte den Kopf zurück und schaute nach oben auf den vorderen Verschlussdeckel. Sie keuchte, als ihre Augen die Dimensionen der Klippe zu erfassen versuchten, die sich scheinbar über ihr auftürmte. Aus dieser Perspektive schien der Verschlussdeckel aus massivem Gestein zu bestehen, von dem aus Tausende konzentrischer Kreise aus Fenstern himmelwärts strebten, bis sie im grellen Schein der Sonnenröhre verschwanden.

Es wuchsen sogar Pflanzen aus dem Fels, und nach dem Platzregen der letzten Nacht strömten noch immer Sturzbäche zur Basis. Tory verbrachte ein paar Minuten mit der Suche nach der Ebene, wo die Unterkünfte der Menschen sich befanden.

»Haben Sie sich wieder erholt?«, fragte Maratel schließlich.

Tory nickte. »Lassen Sie uns weitergehen.«

»Ich habe mir gesagt, dass Sie unseren Kindern vielleicht einmal beim Spielen zuschauen möchten.«

»Unbedingt. Wie viel Nachwuchs gibt es denn hier im Schiff?«

»Immer ein paar tausend. Die Jugend der Phelaner dauert annähernd so lange wie bei den Menschen. Natürlich sind wir sehr darauf bedacht, dass Geburtenrate und Sterblichkeitsrate sich die Waage halten.«

»Bringen Sie mich in eine Schule?«

»So etwas in der Art. Unsere Lehrpläne sehen vor, dass unser Nachwuchs einen Teil seines Lebens im Habitat verbringt, damit er eine Vorstellung vom Leben auf einem Planeten bekommt.«

»So eine Art Pfadfinderlager?«

»Quasi.«

Die beiden gingen noch hundert Meter auf dem Steinpfad entlang und überquerten dann eine Brücke im japanischen Stil über einen Bach. Der Pfad führte an einer Hecke aus gelbbraunen Pflanzen vorbei. Auf der anderen Seite befand sich eins der sechseckigen Dörfer mit diesen Bienenkorb-Gebäuden, die Tory von oben erspäht hatte.

Wie bei den Menschenkindern, so waren auch phelanische Jugendliche kleinere Ausgaben ihrer Eltern und schienen die gleiche natürliche Neugier zu besitzen wie jedes andere Jungtier. Maratel und Tory hatten das Schuldorf kaum betreten, als sie auch schon von einer schnatternden Kinderschar umringt wurden. Kleine Hände zupften an Torys Kleidung und Haar, bis Maratel etwas auf Phelanisch sagte. Die taktile Untersuchung wurde beendet, doch das Interesse an ihr war ungebrochen.

Beim Anblick eines Kleinkinds, das direkt vor ihr stand, bekam Tory glänzende Augen. Er — oder sie — war kaum einen halben Meter groß. Tory holte durch Blickkontakt die Erlaubnis von Maratel ein, kniete sich hin und streichelte das Baby. Sie wurde mit einem leisen Brummen belohnt.

»Das bedeutet, dass sie es mag«, sagte Maratel.

»Wie alt ist das Kind denn?«

»Ungefähr drei Ihrer Jahre. Aber Standardjahre, keine Marsjahre.«

»Ist das nicht noch etwas zu früh für eine Trennung von den Eltern?«

»Wir erziehen unsere Kinder gemeinschaftlich. Die menschliche Kernfamilie ist uns fremd, obwohl wir natürlich damit experimentiert haben.«

»Mit welchem Erfolg?«, fragte Tory und stand wieder auf.

»Mit wechselndem Erfolg. Manche Ihrer sozialen Parameter sind bei unsrer Art leider nicht anwendbar.«

»Ich würde gern mehr darüber erfahren.«

»Das werden Sie auch. Morgen geht es los. Heute machen wir nur eine ... wie heißt es bei Ihnen? Sightseeingtour.«

»Sightseeingtour ist richtig«, pflichtete Tory ihr bei. Dies war das erste Mal, dass ein Phelaner nach einem Wort suchte, stellte sie fest.

»Möchten Sie die Besichtigungstour fortsetzen oder wieder zurückgehen und sich etwas hinlegen?«

»Weitermachen. Ich werde morgen sowieso einen Muskelkater haben. Aber das ist es mir wert.«

»Na gut. Es gibt eine Farm direkt hinter dieser Baumgruppe. Vielleicht interessiert es Sie zu sehen, wie wir unsere Nahrungsmittel erzeugen.«

»Aber sicher.«