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In den darauf folgenden Wochen waren alle ziemlich beschäftigt. Wie versprochen führten die Phelaner ein Schulungsprogramm für ihre menschlichen Besucher durch. Und wie es sich für eine Unternehmung geziemte, die seit Jahrhunderten in der Planung war, stellten sich auch schnelle Fortschritte ein. Tory hätte es nicht für möglich gehalten, ohne die Hilfe ihres Implantats in so kurzer Zeit so viele Informationen zu verarbeiten.

Die Unterweisung begann mit einer Einführung in die Geschichte der Phelaner. Wie die Menschen stammten auch die Phelaner von Jägern und Sammlern ab, hatten die Landwirtschaft aber schon etwas früher entdeckt als die Menschheit. Wie auf der Erde hatte der Ackerbau Bewässerung nach sich gezogen, Städte und die komplexen sozialen Strukturen, die beides erforderte. So hatten beide Spezies ihren langen Aufstieg zu einer technologischen Zivilisation begonnen.

Und doch waren die Ähnlichkeiten zwischen Phelanern und Menschen irreführend. Eine Welt ist ein großer Ort mit verschlungenen Pfaden und abrupten Wendungen, und das Geflecht der Geschichte von Phela war genauso kunstvoll verwoben wie das der Erde. Zu dem Zeitpunkt, als die menschliche Kultur die Azteken und Römer, Wikinger und Sioux, Han und Zulu hervorgebracht hatte, hatte auch Phela schon den Aufstieg und Fall von Zivilisationen gesehen. Die Phelaner waren genauso wenig ein monolithisches Volk wie die Menschen. Sie hatten auch eine jahrhundertealte Galerie von Heiligen und Sündern, Helden und Schurken, Freiheitskämpfern und Tyrannen. Wie die Menschen wurden sie weniger durch die Zivilisation gebändigt als vielmehr durch die schiere Notwendigkeit, miteinander zu kooperieren.

Dennoch gab es auch ein paar allgemeine Feststellungen, die man in Bezug auf die Phelaner zu treffen vermochte. Sie wirkten etwas besonnener und nicht so emotional wie Homo Sapiens. Ihre Geschichte wurde weniger durch Krieg und Zwist geprägt. Infolgedessen hatten sie die Leiter der Zivilisation etwas schneller erklommen. Aber nicht, dass die frühen Phelaner nun Pazifisten gewesen wären. Die paar Kriege, die sie ausgetragen hatten, waren grausame Gemetzel gewesen, wobei auf den Sieger eher die Bezeichnung »Überlebender« als »Gewinner« zutraf.

Die Phelaner hatten sich dann kurz nach dem Eintritt ins Raumfahrtzeitalter vom Kriegshandwerk verabschiedet. Das erste phelanische Raumschiff hatte im Jahr 1625 menschlicher Zeitrechnung abgehoben, und zur Zeit der amerikanischen Revolution hatten die Phelaner bereits große Teile des Tau-Ceti-Systems kolonisiert. Die Zukunft war ihnen als ein stetiger Strom des Fortschritts erschienen, und die Wissenschaftler der Phelaner visierten bereits die große Dunkelheit an, die außerhalb von ihrem kleinen Stern lag.

Dann war es in einem Zeitraum von mehreren Jahren zu Wetteranomalien gekommen. Der Grund für diese Veränderung war schnell ermittelt: Die von Tau Ceti ausgesandte Strahlungsenergie schwankte plötzlich erratisch. Die Schwankungen waren allerdings nicht stark, im Gegenteil — es war schwierig, sie überhaupt zu entdecken. Und sie verletzten jede bekannte Theorie bezüglich des Verhaltens von Sternen der Hauptreihe. Es hatte mehrere Jahre gedauert, bis die Astronomen schließlich herausfanden, dass die Oberflächenschwingungen Symptom eines tiefer liegenden Problems im Innern des Sterns waren. Aus unerfindlichen Gründen wandelte der Kern plötzlich größere Mengen Helium in Kohlenstoff um, als es für einen Stern in der Wasserstoff-Brennphase normal gewesen wäre. Diese extreme Energieerzeugung beeinträchtigte die Stabilität des Kerns, und wenn es den Wissenschaftlern nicht irgendwie gelang, den Kern zu stabilisieren, würden die Schwingungen sich langsam aufschaukeln, bis Tau Ceti zur Nova wurde.

Ein kleines Geschöpf namens Delwin war ihr Lehrer in phelanischer Geschichte. Als Delwin an den Punkt gelangte, wo die Astronomen sich bewusst wurden, dass ihre Welt unrettbar verloren war, sprang Faslorn als Referent ein. Weil nämlich, wie Faslorn mit bekümmerter Stimme erklärte, ein Zeitalter der Schande gefolgt sei. Bei dieser Nachricht waren die doch so vernünftigen und friedfertigen Phelaner zu Berserkern geworden. Eine Kultur, die dem Krieg seit einem halben Jahrtausend abgeschworen hatte, war in unzählige zerstrittene Splittergruppen zerfallen. Und jede versuchte, die Kontrolle über die Ressourcen zu erlangen, die für den Bau von Evakuierungsraumschiffen benötigt wurden, mit denen man der Zerstörung ihres Sterns zu entkommen vermochte.

Der Krieg hatte fast zwanzig Jahre getobt. Die Phelaner nannten ihn die Zeit der Fährnisse. Als er schließlich zu Ende war, lag der größte Teil des Heimatplaneten und der Kolonialwelten in Schutt und Asche; und die Sieger mussten erkennen, dass ein Großteil dessen, was sie für die Flucht benötigt hätten, bei den Kämpfen zerstört worden war. Als die Oberflächenschwingungen des Sterns sich schließlich derart verstärkt hatten, dass Phela praktisch unbewohnbar war, hatte man erst vier Fluchtschiffe fertig gestellt. Jedes dieser Schiffe war von den Phelanern mit einer handverlesenen Besatzung aus hunderttausend Personen bemannt worden. Die Schiffe waren unter großen Feierlichkeiten verabschiedet worden und hatten sich dann so positioniert, dass die bald ausbrechende Nova sie zu den Sternen katapultieren würde.

Vier Schiffe waren auf der Schockwelle der Nova zu vier verschiedenen Sternen geritten und hatten Milliarden Tote hinter sich gelassen.

»Sie hatten für den größten Teil ihrer Geschichte doch einen so vernünftigen Eindruck gemacht«, sagte Tory. »Was glaubt ihr, wodurch dieser totale Zusammenbruch verursacht wurde?«

Sie und die anderen Menschen hatten sich um den Esstisch im Gemeinschaftsbereich versammelt. Diesmal waren sie allein, aber das hieß noch nicht, dass sie nicht beobachtet wurden. Sie alle setzten voraus, dass sie unter ständiger Observierung der Phelaner standen.

Die Mahlzeit war ausgezeichnet gewesen. Doch die Stimmung war gedrückt, nachdem sie einen Tag lang mit diesen chaotischen Impressionen konfrontiert worden waren.

Eli Guttieriz stellte die Tasse ab und schnappte sich das letzte Brötchen. Die gute Küche der Phelaner manifestierte sich bereits in den vollen Wangen und den »Rettungsringen« um die Hüfte des Linguisten, und Tory hatte auch schon bemerkt, dass ihre Schiffsanzüge an manchen Stellen etwas zwickten. Eli, der das Brötchen gerade dick mit Butter bestreichen wollte, schaute auf.

»Wir hätten wahrscheinlich genauso gehandelt, wenn wir festgestellt hätten, dass Sol sich in eine Nova verwandeln würde.«

»Aber es war so sinnlos! Sie hätten doch nur zusammenarbeiten müssen, um vielleicht Millionen zu retten.«

Guttieriz zuckte die Achseln. »Was immer noch ein vernachlässigbarer Prozentsatz der Gesamtbevölkerung gewesen wäre.«

»Sei doch nicht so herzlos, Eli!«, rügte Kit ihn.

Er grinste und zuckte die Achseln. »Wenn sie einen ausreichend großen Genpool für einen Neuanfang gespeichert hatten - welchen Unterschied hätte es da noch gemacht, wie viele Personen gerettet wurden?«

»Zumindest wissen wir nun, dass die Phelaner nichts vor uns verheimlichen.«

»Woher wollen wir das denn wissen?«, fragte Garth. Er hatte während des ganzen Essens einen verdrießlichen Eindruck gemacht. Tory hatte es auf den »Geschichtsunterricht« zurückgeführt.

»Weil, wenn sie uns etwas verheimlichen wollten, die Zeit der Fährnisse ein verdammter guter Ort wäre.«

»Ach, ich weiß nicht.«

»Ob es dir etwas ausmachen würde, das näher zu erläutern, Kapitän?«

»Es ist nichts Handfestes. Aber kommt es euch nicht auch irgendwie sonderbar vor, dass die Phelaner uns so ähnlich sind? Wie ist es möglich, dass zwei Rassen, die durch zwölf Lichtjahre Vakuum voneinander getrennt sind, sich so ähnlich sind?«

Eli zuckte wieder die Achseln. »Ähnliche Umgebungen bringen ähnliche Lösungen hervor.«

»Bis zu einem fast deckungsgleichen Sinn für Humor?«

»Wie meinst du das?«

»Gestern Abend haben Faslorn und ich uns schmutzige Witze erzählt. Ich habe den von der Mutter Oberin und dem Blinden gebracht. Und er hat ihn verstanden!«

»Er hat das Amüsement natürlich nur geheuchelt«, sagte Eli. »Die Phelaner haben nämlich einen ganz anderen Sinn für Humor als wir.«

»Woher willst du das denn wissen?«

»Wegen ihrer Sprache. Ich bekomme allmählich einen Einblick in die zugrunde liegende Struktur. Faslorn hat recht — es ist eine ziemlich schwere Sprache. Sie hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit den irdischen Sprachen, die ich jemals studiert habe.«

»Und was hat das nun mit ihrem Sinn für Humor zu tun?«

»Sprache ist das Fenster zum Gehirn. Alle menschlichen Sprachen haben bestimmte Eigenschaften gemeinsam, weil das menschliche Gehirn nämlich identisch strukturiert ist. Wenn das Gehirn der Phelaner ähnlich strukturiert wäre wie das unsere, dann würde ihre Sprache zumindest im grundlegenden Aufbau auch eine Ähnlichkeit mit den irdischen Sprachen aufweisen.«

»Warum erscheinen sie dann so menschlich?«, fragte Tory.

»Weil sie diesen Eindruck mit einem großen Aufwand erwecken. Zu diesem Zweck bedienen sie sich auch der menschlichen Gesten und der umgangssprachlichen Ausdrücke, mit denen sie ihre Rede würzen. Sie wissen, dass wir eine starke Tendenz haben, alles zu vermenschlichen — sogar leblose Objekte. Sie nutzen diese Schwachstelle im menschlichen Charakter, um unsere Akzeptanz zu erschleichen. Ihre Motive sind offensichtlich.«

»Das hast du in nur ein paar Tagen herausgefunden?«, fragte Garth.

Der Linguist zuckte die Achseln. »Das ist mein Job. Außerdem stehen die meisten Schlussfolgerungen unter dem Vorbehalt der Revision. Ich könnte schon morgen zu ganz anderen Erkenntnissen gelangen.«

»Dann bleib an der Sache dran. Es könnte relevant sein, wenn wir eine Empfehlung abgeben, ob wir ihnen Kolonien zugestehen sollen.«

»Wie können wir es ihnen nicht erlauben?«, platzte Tory heraus. »Wohin sollten sie sonst gehen?«

»Eine Frage, mit der die Politiker sich ebenfalls befassen. Sie löchern mich schon die ganze Zeit mit Anfragen nach weiteren Informationen über die militärischen Fähigkeiten der Phelaner.«

»Heißt das, dass sie das Gesuch der Phelaner vielleicht ablehnen?«, fragte Kit.

»Nein, es heißt nur, dass sie vorsichtig sind. Je mehr wir erfahren, desto besser für uns alle. Das gilt auch mit Blick auf die Phelaner. Wir brauchen mehr Informationen — und wenn nur aus dem Grund, um einen angemessenen Preis für unsere Dienste zu erzielen.«

Garth wandte sich an Tory. »Wie geht die Arbeit am Implantat voran?«

»Langsam. Aber es ist ihnen immerhin gelungen, eine Trägerfrequenz zu erzeugen, wie ich bei ihrem letzten Versuch festgestellt habe. Als ich dann eine Synchronisierung versuchte, habe ich mir höllische Kopfschmerzen eingehandelt.«

»Es ist gut zu wissen, dass es ein paar Dinge gibt, in denen wir besser sind. Ich stand schon kurz davor, einen Minderwertigkeitskomplex zu entwickeln.«

»Ich weiß, was du meinst. Ich glaubte auch, dass sie eine Verbindung herstellen würden, sobald ich ihnen die Spezifizierungen übermittelte.«

»Gut, dann versuche es weiter. Es wäre ein verdammter Aufwand, wenn du jedes Mal in den Hangar hinuntergehen müsstest, sobald du den Computer benutzen willst.«

»Was du nicht sagst.«

»Gibt es sonst noch etwas, das wir besprechen müssen?« Als niemand etwas sagte, schlug Garth vor, dass sie für heute Schluss machten. Die Phelaner ließen ihnen kaum Luft zwischen Schulung und Unterhaltungsprogramm. Einer nach dem andern verzogen sie sich in ihre Quartiere. Morgen würde wieder ein anstrengender Tag.

In den nächsten Wochen verlor die Schulung immer mehr den Charakter einer »Formalausbildung« und geriet eher zu einem Einzelunterricht. Wie Garth angeregt hatte, widmete Guttieriz sich dem Studium des phelanischen Idioms. Kit Claridge verbrachte den größten Teil ihrer Zeit damit, sich Kenntnisse der phelanischen Medizin anzueignen. Alle vier Menschen unterzogen sich einer umfassenden medizinischen Untersuchung, und ein paar Phelaner stellten sich stundenlang als Forschungsobjekte für Kit zur Verfügung.

Garth Van Zandt wurde immer wieder von der Erde aufgefordert, weitere Informationen zu liefern, auf deren Grundlage man den Wunsch der Phelaner um Zuweisung einer Kolonie prüfen wollte. Sie befanden sich nun schon seit sieben Wochen an Bord des phelanischen Schiffs und empfingen erst jetzt die Anfragen, die formuliert worden waren, kurz nachdem die Meldung über den Erstkontakt die Erde erreicht hatte. Die Kommunikationsverzögerung aufgrund der Lichtgeschwindigkeit wurde für die Parteien an beiden Enden der Mikrowellenverbindung zu einem immer größeren Handicap. In der Regel übermittelte die Mannschaft alles nach Hause, von dem sie glaubte, dass es irgendjemanden interessieren könnte. Deshalb dauerte die Erstellung der Berichte oft länger als einen halben Tag.

Während Kit und Eli sich in ihren jeweiligen Disziplinen übten und Garth als Verhandlungspartner der Phelaner auftrat, fiel Tory der Part des Synergisten der Expedition zu. Sie hatte die Aufgabe, so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen, und diese Erkenntnisse dann mit dem Speicherinhalt des Bordcomputers abzugleichen - in der Hoffnung, weiterführende Erkenntnisse daraus zu gewinnen. Hauptsächlich wanderte sie mit Maratel im Schiff umher und schaute sich um.

In den vielen Wochen seit ihrer Ankunft hatten sie alle möglichen Aktivitäten der Phelaner registriert. Eine von Torys interessantesten Aktionen war der gemeinsame Besuch mit Maratel bei einem Sinfonieorchester, das gerade für ein Freiluftkonzert probte, welches man zu Ehren der Menschen geben wollte. Tory registrierte belustigt die Änderungen, die man an den traditionellen Instrumenten vorgenommen hatte. So hatte zum Beispiel die komplette Bläsersektion komplizierte Aufsätze auf die Mundstücke der Instrumente gesteckt. Mit den Schnauzen und den fehlenden Lippen war es nämlich unmöglich für die Phelaner, auf einer herkömmlichen Trompete zu blasen. Die Adaptionen bei den Streichern waren genauso interessant.

Tory und Maratel rekelten sich auf einer mit Gras bewachsenen Anhöhe unter der Sonnenröhre und lauschten, wie das Orchester in kurzen Abständen Beethovens Fünfte Symphonie probte. Zwischendurch führte der Dirigent eine Art »Manöverkritik« durch. Tory stellte fest, dass es durchaus von Vorteil für einen Dirigenten war, wenn er mit vier Armen zu wedeln vermochte statt nur mit zweien.

In einer Probenpause wandte Tory sich an Maratel. »Wieso tut ihr das alles überhaupt?«, fragte sie.

»Was denn?«

»Das!« Tory wies mit ausladender Geste auf das Orchester. »Wir fühlen uns natürlich geehrt, aber weshalb versucht ihr unsere Musik nachzuahmen - ganz zu schweigen davon, dass ihr unsere Instrumente umändern müsst, um überhaupt darauf spielen zu können?«

»Weshalb veranstalten Ihre Leute Konzerte, Tory?«

»Weil sie Musikliebhaber sind.«

»Genau wie wir.«

»Aber Sie haben doch sicher auch eine eigene Musik. Wieso spielen Sie nicht die und pflegen Ihre eigene Kultur?«

»Ich dachte, wir hätten Ihnen das bereits erklärt«, erwiderte Maratel. »Wenn wir eine neue Heimat unter den Menschen finden wollen, müssen wir lernen, uns zu integrieren. Ihre Kultur ist nun auch unsere Kultur.«

»Es ist aber nicht nötig, dass Sie Ihre Identität verleugnen. Wenn Ihre Lebensweise sich von unserer unterscheidet, respektieren wir das.«

Maratel bekam den betrübten Gesichtsausdruck, den sie immer zeigte, wenn sie mit Tory nicht einer Meinung war. »Ich glaube, da irren Sie sich, liebe Freundin. Wir haben Ihre Rasse überaus gründlich studiert. Sie haben einen angeborenen Instinkt für Anpassung. Wie einer Ihrer Protagonisten einmal sagte: >Alles, was nicht verboten ist, muss Gesetz sein!<«

»Das hat er doch nur im Scherz gesagt.«

»Im Scherz liegt oftmals eine tiefere Wahrheit. Eine der Konstanten des menschlichen Charakters ist Ihre Intoleranz gegenüber Andersartigen. Wir müssten deshalb zu dem Schluss gelangen, dass eine Integration nur dann gelingen kann, wenn wir uns Ihnen möglichst perfekt anpassen. Da wir natürlich nicht in der Lage sind, unsere physische Gestalt zu ändern, müssen wir uns eben bemühen, in anderer Hinsicht >menschlicher zu sein als ein Mensch«.«

»Ich glaube, dass Sie uns da falsch einschätzen«, wandte Tory ein.

»Ich glaube das nicht. Haben Sie denn in Ihrer Geschichte nicht alle verfolgt, die andersartig waren?«

»Wir sind solchen Vorurteilen inzwischen entwachsen.«

»Sie haben sie nur mit einem dünnen Firnis der Zivilisation überzogen. Sie sind ihnen mitnichten entwachsen. Wir hatten uns auch einmal damit gebrüstet, dass wir unseren Leidenschaften entwachsen seien. Die Zeit der Fährnisse hat uns dann eines Besseren belehrt.«

»Aber Sie sind keine Menschen und werden auch niemals Menschen sein.«

»Dennoch haben wir die menschliche Kultur aus freien Stücken angenommen. Wir haben das getan, weil es eine Frage des Überlebens ist.«

»Aber Sie täuschen das doch nur vor!«

»Gar nicht. Täuschen Sie denn Ihren Glauben vor?«

»Das ist doch Unsinn.«

»Ist es das? Weshalb glauben Sie daran, woran Sie glauben?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Tory. Die Wendung, die das Gespräch nun nahm, gefiel ihr nicht. »Ich glaube eben daran.«

»Sie haben Ihren Glauben in einem frühen Alter von Ihren Eltern erworben. Sie haben Sie mit allen ihren Vorurteilen, Vorlieben, Aberglauben und Werten geprägt.«

»Ich glaube, dass Sie jetzt etwas übers Ziel hinausschießen.«

»Überhaupt nicht. Soll ich Ihnen einmal ein Beispiel nennen?«

»Nur zu.«

»Wie die meisten Menschen sind Sie ein Anhänger dessen, was einmal als >Westliche Zivilisation bezeichnet wurde. Diese grundlegenden Glaubenssätze werden von einem anderen Glaubenssatz überlagert, den Sie aus der Periode der Mars-Unabhängigkeit geerbt haben. Sie glauben an die Menschenrechte, die Vorzüge der Demokratie und die Überlegenheit der Wissenschaft über alle anderen Methoden der Erkenntnisgewinnung. Im tiefsten Innern glauben Sie, dass es für jedes Problem eine technologische Lösung gebe. Muss ich Sie jetzt auch noch auf die Diskrepanz zwischen dieser Einstellung und der Philosophie eines konfuzianischen Gelehrten von vor tausend Jahren hinweisen?«

»Also gut. Was wollen Sie mir damit sagen?«

»Nur, dass auch ich mit diesen Werten konditioniert wurde. Obwohl ich ein Außerirdischer bin, bin ich zugleich ein Verfechter der >Westlichen Zivilisation. Ich glaube auch nicht weniger daran als Sie.«

»Aber wie Sie selbst sagten, sind Sie ein Außerirdischer!«

»Na und? Sind nicht auch Hunde in der Lage, menschliche Wertvorstellungen wie >richtig< und >falsch< zu verinnerlichen - zumindest rudimentär?«

»Ich glaube, dass sie eher lernen, wofür sie bestraft oder belohnt werden.«

»Unterscheidet sich das denn so sehr von der Art und Weise, wie die meisten Menschen durchs Leben gehen? Befolgen die Leute die Gesetze etwa aus dem Grund, weil sie von ihnen überzeugt sind oder weil ein Verstoß strafbewehrt ist?«

»Ich werde später darauf zurückkommen, ja? Ich muss mir erst noch ein paar Gedanken dazu machen. Aber in der Zwischenzeit könnten Sie mich doch dem Dirigenten vorstellen? Ich würde ihm gern ein Kompliment machen, so virtuos wie er den Taktstock schwingt ...«

Rosswin saß Eli Guttieriz am Tisch gegenüber und hörte zu, wie der Linguist sein phelanisches Vokabular übte. Der Akzent des Menschen war grauenhaft, aber es wurde langsam besser. Rosswin war beeindruckt. Trotz der Behauptung, dass das Erlernen der menschlichen Sprache eine leichte Übung für die Phelaner gewesen sei, erinnerte er sich noch daran, wie schwer er sich vor vielen Zyklen damit getan hatte. Es hatte zunächst den Anschein gehabt, als ob er nie einen ganzen Satz zustande bekäme.

»Sehr gut, Professor«, sagte er, als Guttieriz die Übung beendete. »Wir werden Sie noch mit der Eröffnungsansprache der nächsten Sitzung des Schiffs-Rats betrauen, wenn Sie weiterhin solche Fortschritte machen.«

Trotz seiner scheinbaren Ungerührtheit war Eli über dieses Kompliment sichtlich erfreut.

»Ich glaube, das genügt für eine Sitzung«, sagte Rosswin. »Sollen wir uns nun dem nächsten Thema zuwenden, der scheinbar endlosen Reihe von Fragen, um deren Beantwortung Ihre Leute zu Hause Sie gebeten haben?«

Guttieriz lachte. Er wirkte normalerweise kühl und steif in der Gesellschaft anderer Leute, aber den alten Phelaner mochte er. Sie waren in vielerlei Hinsicht seelenverwandt. »Nicht scheinbar endlos, Rosswin. Tatsächlich endlos! Es schaudert mich bei der Vorstellung, wie viele Fragen allein im Datenstrom zu uns unterwegs sind.«

»Ja, Neugier ist der stärkste aller menschlichen Charakterzüge. Wenn wir unsere Schnauzen über Wasser halten wollen, treffen wir am besten eine Auswahl.«

Eli griff in seinen Beutel und holte ein Aufzeichnungsgerät und einen Ausdruck mit den zahlreichen Fragen heraus, die die Experten zu Hause stellten. Rosswin verbrachte zwanzig Minuten mit der Beantwortung der Fragen. Sie reichten von der Organisationsform der phelanischen Wirtschaft bis hin zur Fruchtbarkeitsrate bei den phelanischen Frauen im gebärfähigen Alter.

Schließlich war ihre zugeteilte Zeit fast um. »Hier ist noch eine Frage von Professor Pierce«, sagte Eli. »Er ist der Astrophysiker, der die Starhopper baute.«

»Ja«, erwiderte Rosswin, »Ich bin über die Leistungen von Professor Pierce im Bilde. Was möchte er denn wissen?«

»Er bittet um Daten über die Tau-Ceti-Nova und fragt, ob Sie wüssten, wodurch sie verursacht wurde.«

Rosswin hob die Hände und drehte die Handflächen nach außen. »Wir hatten eigentlich gehofft, dass Ihre Astronomen bereits so weit wären, um es uns erklären zu können.«

»Weit gefehlt«, sagte Eli, hakte die Frage ab und überflog die Liste noch einmal, um sie dann wegzulegen. Erst dann bemerkte er, dass die Frage von Pierce noch eine zweite Frage beinhaltete. »Ah, noch etwas. Unsere Astronomen haben in den ersten paar Stunden der Nova ein Defizit von zwei Komma fünf Prozent in der Lichtkurve festgestellt. Danach stimmte sie genau mit der Theorie überein. Pierce fragt, ob Ihre eigenen Beobachtungen vielleicht Licht in diese Diskrepanz bringen würden.«

Rosswin ließ sich diese Frage fast fünf Sekunden durch den Kopf gehen, bevor er darauf reagierte. »Ich bin kein Astronom, Professor Guttieriz. Ich werde Erkundigungen einholen. Nun muss ich aber an einer Konferenz teilnehmen, und Sie haben - glaube ich - einen Termin an einer unserer Schulen, die Standard unterrichten.«

Eli suchte die Computerausdrucke zusammen, anhand derer er das Vokabular der Phelaner studiert hatte, und verabschiedete sich von Rosswin. Der blieb zunächst einmal sitzen. Nur ein anderer Phelaner hätte ihm seine Aufregung angemerkt.

»Habt Ihr das gehört?«, fragte er nicht übermäßig laut.

»Ich habe es gehört«, erwiderte Faslorn. Der Schiffskommandant war durch Rosswins Notsignal verständigt worden — mit einer Methode, die die Menschen nicht in Betracht gezogen hatten. Er hatte die Aufzeichnung von Rosswins Gespräch mit Eli wiedergegeben und besonders auf die belastende Frage und die unverbindliche Antwort von Rosswin geachtet.

»Versteht Ihr die Bedeutung?«

»Nur zu gut. Glaubst du, dass sie Verdacht geschöpft haben?«

»Nein, das glaube ich nicht. Ich glaube eher, dass es genau das ist, worum es sich laut Professor Guttieriz handelt: eine routinemäßige Frage von der Erde, die einer Antwort bedarf. Trotzdem halte ich es für das Beste, wenn wir unseren Zeitplan straffen. Haben wir schon genügend Informationen, um eine Auswahl zu treffen?«

»Noch nicht. Wir haben zwar schon einen Kandidaten, aber die Psychologen wollen die Beobachtungen noch für ein paar Schichten fortsetzen.«

»Sag Raalwin, dass er seine Auswertung beschleunigen solle. Wenn sie nämlich die ganze Tragweite der Frage erfassen, die sie mir gerade gestellt haben, stecken wir in der Klemme.«

»Welche Antwort werdet Ihr ihnen geben?«

»Dass uns keine Daten bezüglich eines Lichtstärkedefizits der Nova vorliegen. Wir können ihnen dann einreden, dass ihre Instrumente nicht richtig funktioniert hätten.«