15

Maratel wirkte richtig aufgekratzt, als sie zehn Tage später nach dem Frühstück in den Gemeinschaftsbereich schwebte. »Hätten Sie Lust, sich einmal den Lichtsegel-Anhang anzuschauen?«

Tory schaute ihre Mentorin mit aller Begeisterung an, die sie in diesem Moment aufzubringen vermochte. Nachdem sie seit zwei vollen Monaten die Touristin gespielt hatte, waren die Details ihrer vielen Besuche im Schiff zu einer langen Sequenz verschmolzen. War es wirklich erst gestern gewesen, als sie der endlosen Zeremonie beigewohnt hatte, der Toten von Phela zu gedenken, oder doch schon vorgestern? Und wie war noch mal der Name dieses Künstlers gewesen, der ihr seine Skulpturen gezeigt hatte? Besonders stolz war er auf seine Replika eines Menschen-Manns a la Michelangelos David gewesen. Sie hatte es freilich nicht übers Herz gebracht, ihn darauf hinzuweisen, dass er die Geschlechtsorgane sehr großzügig proportioniert hatte — jedenfalls was ihre persönliche, eher bescheidene Erfahrung betraf.

»Ob ich Lust hätte, mir was anzuschauen?«, fragte Tory. Sie war schon mit Kopfschmerzen aufgewacht. Eine Tablette hatte dieses Problem größtenteils behoben, aber auch ein Gefühl der Benommenheit hervorgerufen.

»Ich dachte mir, dass wir zum anderen Ende des Schiffs gehen, damit Sie einmal sehen, wo die Befestigungsleinen verankert werden. Es ist ein recht eindrucksvoller Anblick. Außerdem hatte Ihr Kapitän ja bereits Interesse an einer Besichtigung bekundet, als er das Schiff im Anschluss daran besichtigte, nachdem wir Ihre Antriebseinheit ins Schlepptau genommen hatten.«

»Kommt Garth mit uns?«

»Nein, er ist heute bei Dr. Claridge. Sie besprechen die erforderlichen Schutzmaßnahmen für die Verpflanzung phelanischer Vegetation in die Biosphäre der Erde.«

Tory nickte. Die Erde würde eine strenge Prüfung verlangen, bevor sie die »Einfuhr« irgendwelcher Pflanzen oder Tiere in die Atmosphäre genehmigte. Und selbst dann wäre noch eine Abstimmung in der Vollversammlung des System-Rats erforderlich, um die üblichen Einwände nach dem Motto »aber nicht in meinem Vorgarten« ad acta zu legen. Weil es den menschlichen Nahrungsmitteln an bestimmten wichtigen Proteinen für den Stoffwechsel der Phelaner fehlte - was umgekehrt auch für die Verwertbarkeit der Aliennahrung durch die Menschen galt —, war das die einzige Möglichkeit, wenn eine Kolonie gegründet werden sollte. Es würde nämlich einen viel geringeren Aufwand erfordern, Nahrungsmittel anzubauen als die erforderlichen Zusatzstoffe zu synthetisieren, wie die Küchenchefs der Far Horizons es bei der menschlichen Verpflegung taten.

»Wenn wir schon zum anderen Ende des Schiffs gehen, könnten wir doch auch einen Zwischenstopp bei den Wasserfällen einlegen?«

»Wenn Sie wünschen.«

Tory, ein Kind des Mars, wurde von der Vorstellung frei fließenden Wassers fasziniert. Die trägen Flüsse, die sie auf ihren bisherigen Reisen gesehen hatte, waren nun nichts Besonderes mehr, aber die beiden einen halben Kilometer hohen Wasserfälle am anderen Ende des Schiffs waren nach wie vor ehrfurchtgebietend für sie. Sie hatte schon oft zu dem kilometerweit entfernten, sensationellen Zwillingswasserfall geschaut, der sich von der Hauptachse ergoss, und sich das Tosen vorzustellen versucht, mit dem das Wasser in einer weißen Gischtwolke herabstürzte. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, ihn zu besichtigen, schien ihr immer wieder etwas dazwischenzukommen.

»Also, gehen wir.«

Maratel führte sie durch den inzwischen vertrauten Irrgarten aus Gängen zum Lift. Anstatt zum äußersten Deck und damit zum Rand des Habitats zu fallen, stiegen sie jedoch zur Drehachse empor. Tory spürte, wie der Zug der Gravitation mit jedem Höhenmeter schwächer wurde. Ihre Streifzüge zu den äußeren Decks hatten wahre Wunder bei der Entwicklung ihrer Muskeln gewirkt, doch vermochte sie nach einem Tag in hoher Schwerkraft beim Abendessen gerade noch die Augen offen zu halten. Sie freute sich jetzt schon wieder auf die Mikrogravitation.

Die Sonnenröhre, die wie eine Achse von einem Ende des Sternenschiffs zum anderen verlief, wurde durch die Spannung des gesamten Schiffs fixiert, das am Weltraumfallschirm hinter ihnen hing. Trotz der Energie, die von der Oberfläche der Sonnenröhre abgestrahlt wurde, enthielt sie außerdem noch ein Transportsystem und wichtige Versorgungsleitungen. Die Transportmittel waren kleine Kapseln und wiesen eine gewisse Ähnlichkeit mit denen von Olympus City auf. Tory und Maratel bestiegen eins dieser Vehikel. Sie saßen vornübergebeugt, die Köpfe im Abstand von ein paar Zentimetern voneinander, und pressten den Rücken in die Wölbung der Hülle, um nicht im Fahrzeug umherzuschweben. Der Geruch nach Zimt und Farbverdünner war schier überwältigend.

»Dürfte ich Ihnen einmal eine persönliche Frage stellen?«, fragte Tory, als das Fahrzeug geschmeidig von der Station weg beschleunigte.

»Natürlich. Wir sind doch Freundinnen, nicht wahr?«

»Können Sie uns eigentlich riechen?«

Maratel schnüffelte an Tory und rümpfte die Nase. »Das ist schwer zu sagen.«

»Ich meine, ob wir stinken?«

»Ihr Geruch ist ... eigentümlich, aber nicht unangenehm. Wir haben eine kleine Blume, die während der Hochsommer-Phase unseres Wetterprogramms blüht. Ihr Geruch hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Ihrem. Und was ist mit uns? Wie riechen wir Phelaner für menschliche Nasen?«

Tory lächelte. »Ihr Geruch erinnert uns an ein sehr geschätztes Gewürz mit einer Prise eines bestimmten chemischen Lösungsmittels.«

»Das klingt ja nicht schlecht«, sagte die Phelanerin mit einem so ernsten Gesichtsausdruck, dass Tory lachen musste.

Sie lachten beide, als die Kapsel ein paar Sekunden später ihre Ankunft am anderen Ende des Sternenschiffs ankündigte. Die ganze Fahrt hatte weniger als eine Minute gedauert. Maratel öffnete die Kapsel und lotste Tory an den Aufzügen vorbei, die zu den Abteilungen mit höherer Schwerkraft des Sternenschiffs führten. Während sie sich durch den Drehachsengang bewegten, wurde Tory sich bewusst, dass die Phelaner den Menschen gegenüber im Vorteil waren, was die Fortbewegung in der Mikrogravitation betraf: Mit ihrem zusätzliches Gliederpaar vermochten sie viel eleganter durch die Gänge zu gleiten als Tory. Während Tory Mühe hatte, ihr zu folgen, bewegte Maratel sich mit der Leichtigkeit einer Spinne in ihrem Netz.

Der Gang endete an der Kreuzung von sechs abwärtsführenden Durchgängen. Im Gegensatz zu den Aufzügen, mit denen sie bisher gefahren war, waren an den Wänden dieser kleinen Schächte Leitern angebracht.

»Sie dienen der Wartung«, sagte Maratel mit einem Fingerzeig. »Wir werden hinabsteigen müssen.«

Nur mit Mühe unterdrückte Tory ein Stöhnen und sagte Maratel, dass sie vorangehen solle. Die Außerirdische brachte ihren Körper in eine solche Position, dass sie mit den Füßen zuerst in den Schacht einstieg, mit den mittleren Händen am Handlauf der Leiter sich festhielt und schließlich mit dem oberen Handpaar abstieß. Im nächsten Moment schwebte sie wie ein irdischer Taucher, der in einen tiefen Brunnen abstieg, abwärts.

Tory folgte Maratels Beispiel. Sie hakte sich mit den Füßen im Geländer ein und stieß sich mit den Händen ab. Dann ließ sie das Geländer locker durch die leicht zur Faust geballten Hände laufen. Sie schaute nach unten und sah Maratel ein Dutzend Meter unter sich - sie fiel noch immer. Die beiden passierten mehrere Öffnungen in den Wänden des Wartungsschachts. Je tiefer sie fielen, desto stärker machte sich auch wieder die Rotationsschwerkraft bemerkbar. Tory spürte, dass sie beschleunigte, und verstärkte den Griff ums Geländer, um den Abstieg zu verlangsamen. Sie wollte Maratel nicht noch überholen.

Als der Zug der Schwerkraft sich schließlich auf etwa die Hälfte des Wertes erhöht hatte, den Tory von zu Hause gewöhnt war, stoppte Maratel ihren Fall und wechselte in einen horizontalen Zugangsschacht. Tory folgte ihr. Sie fühlte sich plump im Vergleich zur geschmeidigen Grazie der Phelanerin. Sie hatten fünfzig Meter im engen Tunnel zurückgelegt, als sie zu einer Abteilung gelangten, die kaum größer war als eine Ausbuchtung des Gangs - nur dass die Hälfte der zylindrischen Wand plötzlich transparent wurde und das perlige Glühen des Lichtsegels durchließ.

Tory ging zum Fenster und schaute hinaus. Das Segel war eine glühende Wand, die die Hälfte des Weltalls abdeckte. Davor — kaum einen Kilometer entfernt — schwebte das große kugelförmige Gebilde, aus dem ein Wald endlos langer Leinen spross. Die Leinen glühten im violetten Licht von Elektronen, die im Vakuum schimmerten. Das war also der Ankerpunkt, an dem die Far Horizons bei ihrem Fall zur Sonne aufgehängt war.

Wegen des Unterschieds zwischen der Umdrehungsgeschwindigkeit des Sternenschiffs und des Lichtsegels schien die ganze Konstruktion einen riesigen Reigen zu vollfuhren. Tory hatte das Gefühl, in der Nähe einer großen Fahrradfelge zu stehen und die Rotation der Speichen zu beobachten — nur dass kein Fahrrad jemals so viele Speichen gehabt hatte wie das Sternenschiff der Phelaner. Die Befestigungsleinen verdrillten sich bei ihrem Tanz am Himmel derart, dass sie ein violett-schwarzes Kaleidoskop in ständiger Metamorphose vor einem perlweißen Hintergrund bildeten.

Tory stand für eine Weile wie hypnotisiert da, bevor sie den Blick auf das »Anhängsel« selbst richtete. Ein Kabel so dick wie ein menschlicher Rumpf ging von der Ankerkugel aus und verschwand schließlich hinter einer Erhebung achtern am Sternenschiff. Sie musste auch nicht erst das Ende des dicken Kabels sehen, um zu wissen, dass das der Punkt war, an dem die Far Horizons aufgehängt war.

Oberhalb der Ankerkugel fächerten die Befestigungsleinen aus. Jede war beim Austritt aus der schwarzen Sphäre so dick wie ein Peitschengriff. Der Durchmesser verringerte sich dann perspektivisch, bis die Leinen schließlich bis zur Unsichtbarkeit verdünnt wurden.

»Wie regulieren Sie eigentlich die Leinenlänge?«, fragte Tory Maratel. Das Geheimnis, wie die Außerirdischen ein so unhandliches Objekt wie das Lichtsegel kontrollierten, war schon Gegenstand etlicher Feierabendgespräche im Gemeinschaftsbereich gewesen.

»Sehen Sie diese Verdickungen?« Maratel deutete auf die peitschengriffartigen Formen, die aus der Sphäre wuchsen. »Wir verändern die Länge der Leinen, indem wir sie einholen oder verlängern. In diesen Verdickungen bewahren wir das zusätzliche Material auf.«

»Ich sehe aber keine Gleitstücke, um eine Drehbewegung zu ermöglichen«, sagte Tory beim Blick auf die Sphäre. Um seinen Zweck zu erfüllen, musste der Anhang quasi als Differenzial den Unterschied in der Umdrehungsgeschwindigkeit des Sternenschiffs und des Lichtsegels ausgleichen. Wie er diese Aufgabe erfüllte, war jedoch nicht ersichtlich.

»Wir verwenden ein molekulares Gleitsystem. Falls Sie sich dafür interessieren, wird es Ihnen jemand erklären, sobald wir wieder zurück sind.«

Tory lachte gezwungen. »Erklären Sie es Garth oder Kit. Sonst wird mein Gehirn noch wegen Informationsüberlastung explodieren.«

Sie standen einige Zeit da und beobachteten die riesige Pirouette am Himmel. Schließlich fragte Maratel, ob Tory genug gesehen hätte.

»Ja, danke. Gehen wir jetzt zu den Fällen?«

Maratel nickte. »Wir müssen nur ein Stück an der Peripherie entlang, um den nächsten Expresslift zu erreichen. Ich nehme nicht an, dass Sie Lust haben, die Wartungsleiter zu erklimmen.«

»In Ihrem Schwerefeld? Nein, bitte nicht!«

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir unterwegs noch einmal Halt machen?«

»Wo denn?«

»Sie werden schon sehen.«

Tory drang nicht weiter in sie. Maratel hatte schon ein paarmal ein Geheimnis daraus gemacht, wo sie mit Tory hingehen wollte, und jedes Mal war das Ziel das Warten wert gewesen. Sie hatte sich auch schon gefragt, ob diese Geheimniskrämerei ein allgemeiner Charakterzug der Phelaner war oder nur eine persönliche Marotte von Maratel.

Die Außerirdische führte sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Sie mussten dann doch eine Kletterpartie über fünfzig Meter absolvieren, um die Kreuzung eines Hauptgangs zu erreichen. Danach unternahmen sie eine Wanderung entlang des Schiffsumfangs. So dicht an der Drehachse war der Gang ziemlich stark gekrümmt. Sie schienen sich immer an der tiefsten Stelle einer großen Mulde zu befinden, von wo die Korridore sich in beide Richtungen nach oben erstreckten. Und so weit sie auch gingen, sie würden die Steigung niemals bewältigen.

Maratel näherte sich einer schweren Doppeltür. Sie schwang bei ihrer Annäherung zurück, als ob jemand von drinnen ihr Erscheinen beobachtet hatte. Hinter der Tür befand sich eine große Abteilung in der Form eines Tortenstücks, die mit geschäftigen Phelanern angefüllt war. An den Wänden der Abteilung hingen Bildschirme, die Szenen aus allen Bereichen des Schiffs zeigten. Tory sah Durchgänge, mit Maschinen bestückte Abteilungen und Panoramablicke ins Innere des Habitats. Eine Außenansicht gab es auch - einschließlich einer Abbildung, die eine winzige, mit dem Sternenschiff synchronisierte Starhopper zeigte.

Tory blieb aber keine Zeit zum Gucken. Maratel führte sie über eine ansteigende Rampe zu einer weiteren Tür. Sie öffnete sich ebenfalls bei ihrer Annäherung. Dahinter befand sich ein zwielichtiger Raum mit einer einzelnen massiven Konsole. Vor einem Holobildschirm, der vom Boden bis zur Decke reichte, zeichnete sich die Silhouette eines Wesens ab, das dort auf sie wartete. Es war Faslorn, der vor der Konsole stand.

»Willkommen in der Kommandozentrale«, sagte der Kommandant der Phelaner.

»Welchem Umstand verdanke ich diese einmalige Ehre?«, fragte sie stotternd. Soweit sie wusste, war bisher keinem anderen Mitglied ihrer Gruppe Zutritt zur Brücke der Far Horizons gewährt worden. Entsprechende Anfragen waren immer ebenso höflich wie ausweichend beschieden worden.

»Ich habe Maratel gebeten, diesen Besuch zu arrangieren, weil ich Ihnen einen Vorschlag unterbreiten möchte.«

»So?«

Faslorn machte die phelanische Geste der Zustimmung. »Wir Phelaner wissen viel über Ihre Spezies. Ich glaube, dass wir das in den letzten Monaten auch hinreichend unter Beweis gestellt haben.«

»Das haben Sie wirklich.«

»Doch in unserer Eigenschaft als Außerirdische werden wir Sie wohl nie so gut kennenlernen, wie Sie sich selbst kennen. Deshalb ist uns seit Jahrhunderten bewusst, dass, wenn wir in Ihrem System einen Zufluchtsort finden wollen, wir talentierte Menschen für unsre Sache gewinnen müssen. Keine »Mietlinge, sondern aufrichtige Verfechter unsrer Sache. Wir würden Sie gern als unseren Fürsprecher gewinnen.«

Tory blinzelte. »Wieso gerade ich?«

»Sie empfinden eine große Empathie für uns und stehen unserer Sache wohlwollend gegenüber. Sie sind zudem mit einem Computer-Implantat ausgestattet und kennen sich mit den Gesetzen der Menschen aus. Von den vier Menschen, die wir bisher kennengelernt haben, sind Sie bei weitem die beste Kandidatin.«

»Es gibt wahrscheinlich Millionen Menschen auf der Erde, die Ihren Anforderungen eher entsprächen — Menschen, die von Beruf wegen Lobbyisten sind. Sobald Sie die Erde erreichen, werde ich die besten für Sie aussuchen.«

»Solche Leute benötigen wir natürlich auch. Aber sie wären dann nur Angestellte. Wir brauchen jedoch einen Verbündeten. Laut unseren Extrapolationen sind Sie vielleicht die beste Verbündete, die wir jemals haben werden. Auf jeden Fall können wir nicht länger warten. Ihr Kapitän und ich haben bereits über Ihre Rückkehr zur Erde gesprochen.«

»Haben Sie? Mit uns hat er aber noch nicht darüber gesprochen.«

»Die Entscheidung, eine Rückreise zu planen, wurde vor weniger als einer Stunde getroffen. Vielleicht wird er es Ihnen heute Abend mitteilen. Wenn Sie gehen, werden jedenfalls ein paar von uns im Kälteschlaf mitkommen. Deshalb müssen wir unseren Fürsprecher noch vor dem Start auswählen.«

»Warum?«

»Aus guten und überzeugenden Gründen, die Ihnen schon noch klar werden, wenn Sie unser Angebot akzeptieren. Werden Sie uns nun helfen, Ihre Leute davon zu überzeugen, uns Zuflucht zu gewähren?«

Tory zögerte. Die Wahrheit war, dass sie die Phelaner inzwischen sympathisch fand. Sie waren in ihrer eifrigen Mimikry der menschlichen Kultur wie junge Hunde. Nur dass Faslorn sehr wenig Ähnlichkeit mit einem jungen Hund hatte. Er wirkte auf einmal viel distanzierter, als sie ihn bisher erlebt hatte. Nein — er wirkte noch fremdartiger. Es war, als ob der dünne Firnis menschlicher Verhaltensweisen plötzlich abgeblättert wäre und einen originär phelanischen Kern freigelegt hätte.

Sie stellte ihm eine entscheidende Frage: »Was, wenn ich mich bereit erklären würde, Sie zu vertreten, und dann feststellen würde, dass Ihre Interessen denjenigen der Menschheit zuwiderlaufen? Ich würde meine Leute nie verraten, Faslorn.«

»Die Frage des Verrats wird sich überhaupt nicht stellen«, versicherte er ihr. »Im Gegenteil, indem Sie uns dienen, werden Sie auch Ihren eigenen Leuten dienen.«

»Sie beziehen sich natürlich auf die fortgeschrittene Technologie, die Sie uns als Gegenleistung für die Aufnahme auf unseren Welten überlassen werden.«

»Das und noch wichtigere Dinge.«

»Sie nehmen den Mund aber ziemlich voll. Können Sie das auch belegen?«

»Sollten Sie unser Angebot akzeptieren, verspreche ich Ihnen, dass Sie die Wahrheit erfahren werden, noch bevor Sie diese Kammer verlassen. Nehmen Sie nun an?«

»Ich möchte noch um Bedenkzeit bitten.«

»Es tut mir leid, aber wir brauchen Ihre Antwort sofort. Es gibt noch so vieles, das wir Sie lehren müssen, und wir haben nur noch so wenig Zeit.«

Tory schluckte. Sie hätte das vorher gern mit den anderen besprochen, aber Faslorn brachte unterschwellig zum Ausdruck, dass er ihr das nicht gestatten würde. Die Wahrheit war, dass sie daran glaubte, den Phelanern Zuflucht zu gewähren. Bei der Phase der Fremdenfeindlichkeit, die die Erde zurzeit durchlief, wäre es schwierig genug, den >Asylantrag< der Flüchtlinge der Far Horizons durchzubekommen. Und er würde vielleicht überhaupt nicht genehmigt werden, wenn man die Aliens sich selbst überließ. Ihre Fähigkeit, die Menschen zu imitieren, erinnerte sie an das alte Märchen vom Hund, der ein paar Wörter knurren konnte: Dass er sehr undeutlich sprach war weniger bedeutsam als die Tatsache, dass er überhaupt sprach.

Falls sie sich als Botschafterin der Phelaner bei der Menschheit verpflichten sollte, wäre sie vielleicht das Zünglein an der Waage. Sie erlegte sich auch keine falsche Bescheidenheit auf, was ihre Fähigkeiten betraf. Ja, sie war kompetent und hatte auf allen Gebieten reüssiert, auf denen sie sich bisher betätigt hatte. Als ihr Fürsprecher würde sie weit überdurchschnittliche Ergebnisse für sie erzielen. Konnte es denn ein größeres Ziel im Leben geben, als dieser Schiffsladung freundlicher Außerirdischer zu helfen, die aus der Kälte und Dunkelheit des interstellaren Raums zu ihnen kamen?

Sie kalkulierte ihre Optionen und wurde sich bewusst, dass sie im Grunde kaum welche hatte. Es war, als ob das Schicksal sie auf dem längsten Abschnitt ihres Lebenswegs bis zu diesem Punkt gesteuert hätte. Sie biss sich auf die Unterlippe, atmete tief durch und nickte schließlich. »Auf der Grundlage Ihrer Zusicherung, dass ich damit auch meinen Leuten helfe, akzeptiere ich Ihr Angebot. Wann fangen wir an?«

»Sofort«, sagte der Kommandant der Far Horizons. Er drückte einen Knopf, und das Licht wurde gedämpft. Sofort erhellte sich der große Holobildschirm hinter ihm. In seiner »Pseudo-Tiefe« leuchteten tausend kalte, entfernte Sterne. Im Vordergrund sah man tief gestaffelte Formationen zylindrischer Gebilde, die vom Sternenlicht trübe illuminiert wurden. Ein Gefühl der Verwirrung sprudelte wie ein Geysir in Tory empor. Jeder Zylinder sah genauso aus wie die Far Horizons während des Anflugs, nur dass es bei ihnen keinerlei Anzeichen von Lichtsegeln gab.

»Was zum Teufel ist das?«, fragte sie und starrte perplex auf die Szene.

Dann ertönte in der Nähe die körperlose Stimme von Faslorn. »Sie sehen die Dritte Phelanische Flotte, etwa sechs Jahre hinter uns.«

»Wovon reden Sie überhaupt? Die anderen drei Schiffe Ihrer Flotte sind doch zu anderen Sternsystemen unterwegs.«

»Die Geschichte der vier Schiffe ist frei erfunden. Genauso wenig hat es jemals eine Zeit der Fährnisse gegeben. Das ist reine Fiktion.«

»Und wieso diese Lügen?«

»Um Sie davon abzuhalten, ein paar ziemlich offensichtliche Fragen zu stellen«, erwiderte Faslorn. »Zum einen, wieso eine Rasse mit unserem industriellen Potenzial nur vier Evakuierungsschiffe zu bauen vermochte — bei einer Vorwarnzeit von fünfzig Jahren bis zur Nova. Außerdem wollten wir Ihre Sympathie für unsere Sache gewinnen.«

»Dann sind also keine drei weiteren Schiffe zu anderen Sternsystemen unterwegs?«

»Das ist zumindest keine vollständige Lüge, Tory. Weil die drei Schiffe in Wirklichkeit drei Flotten sind. Vor sich sehen Sie einen kleinen Teil der Flotte, der die Far Horizons als Scout vorausfliegt.«

Tory schnürte sich förmlich die Kehle zu, als sie die nächsten Worte hervorbringen wollte. »Wie viele?«, fragte sie mit einem Krächzen.

Faslorn musterte sie mit stetem Blick, während sie wie hypnotisiert auf die düster glühenden Formen auf dem Holobildschirm starrte.

»Die Dritte Flotte umfasst etwas mehr als zweiundzwanzigtausend Schiffe.«

»Und die Anzahl Phelaner, die zu Sol unterwegs sind?«

»Bei der letzten Volkszählung belief die Population der Flotte sich auf drei Milliarden Individuen.«