8

Tory Bronson erwachte in beißender Kälte. Sie lag da und fragte sich, wieso die Schlafsackheizung nicht mehr funktionierte. Ben war doch nicht etwa mitten in der Nacht aufgestanden und hatte das Zelt wieder auf Transparenz geschaltet, um die Sterne zu betrachten. Er war schließlich lang genug auf dem Mars, um es besser zu wissen — oder?

Die Augen zu öffnen fiel ihr schwerer als jede Verrichtung, die sie jemals erledigt hatte. Als sie schließlich wieder etwas sah, war das Zelt auf Sutter's Peak verschwunden, und stattdessen befand sich eine lichtdurchlässige Barriere nur ein paar Zentimeter vor ihrer Nase. Sie schaute verständnislos zu, wie das Glas im Takt ihrer Atmung abwechselnd beschlug und sich wieder klärte. Dann schmolz ein virtueller Eiswürfel irgendwo in ihrem Gehirn, und sie wurde von der Erinnerung überrollt.

Sie hatten nach dem Start von Phobos sechs Wochen damit verbracht, die Höchstgeschwindigkeit zu erreichen. Jeden Tag schrumpfte die Sonne ein Stückchen, während die Motoren unablässig brummten. Diese langen Wochen waren nur durch periodische Triebwerksabschaltungen unterbrochen worden, als leere Reaktionsmassetanks abgestoßen wurden. Vor Torys geistigem Auge erstreckte sich eine lange Reihe weißer Kugeln wie eine Perlenkette den ganzen Weg zurück bis zum Mars. Sie hatten die Jupiterbahn am Ende der ersten Woche gekreuzt, die Umlaufbahn des Uranus in der zweiten Woche und den Pluto-Orbit nur drei Tage später. Nach dem Verlassen des Sonnensystems hatten sie kontinuierlich beschleunigt, bis sie sich dem Lichtsegel mit der gleichen Geschwindigkeit näherten, mit der es ihnen entgegenkam. Gegen Ende der sechsten Woche hatte die Austria das Vierundzwanzigfache der Entfernung des Pluto zur Sonne zurückgelegt.

Tory war während der Reise zu beschäftigt gewesen, um über den riesigen Abgrund im Raum nachzudenken, der sie von zu Hause trennte. In der ersten Woche hatte sie sich ausschließlich der Überwachung der Boosterrakete gewidmet. Pausen hatte sie sich nur für Mahlzeiten, Toilettengänge und kurze Nickerchen gegönnt. Mithilfe des Implantats hatte sie den Plasmafluss kontrolliert, das Wechselspiel der Magnetfelder und die tausend anderen Parameter. Die Boosterrakete war für sie zu einem lebendigen, atmenden Wesen mutiert: der stetige Fluss von Antiprotonen und Wasserstoff in die Reaktionskammer war ihr Lebenssaft, das Netzwerk der Glasfaserkabel ihre Ganglien.

Am Ende einer langen Woche hatte Tory sich in ihre Kabine zurückgezogen, um einen Tag durchzuschlafen. Und dann hatte sie die anderen beim regelmäßigen Schichtdienst verstärkt, auf dem Garth bestand, solange die Triebwerke liefen. In den Freischichten behob Tory Programmfehler, die der Statusüberwachung entgangen waren. Die gravierendsten Fehler übermittelte sie an die Programmierer auf dem Mars und der Erde, und die geringfügigen Probleme löste sie selbst. Außer dem Schichtdienst und der Softwarewartung war sie turnusmäßig mit Küchendienst, Reinigungsarbeiten und leichten Wartungstätigkeiten beschäftigt.

Doch nichts von alledem erklärte, weshalb sie erbärmlich fror und sich die Nase an reifüberzogenem Glas plattdrückte. Ihre Situation erinnerte sie an einen Witz, den sie einmal gehört hatte: >Du weißt, dass es ein schlechter Tag wird, wenn du mit dem Gesicht in der Gosse liegst und nicht mehr weißt, wie du dorthin gekommen bist!< Und dann - als ob dieser Gedanke eine katalytische Wirkung gehabt hätte - gab ihr träges Gehirn einen anderen Speicher frei.

Sie lag im Kälteschlaf-Tank im umgebauten Schlafraum der Austria! Sie versuchte diese Tatsache noch einzuordnen, als ein fleischfarbener Schemen ihr Sichtfeld ausfüllte. In weiter Ferne ertönte ein leises klickendes Geräusch, und die Sicht klärte sich plötzlich, als die gläserne Abdeckung sich in der Führung zurückzog. Ein paar Kondenswassertropfen gerieten durch die plötzliche Bewegung in Wallung. Sie schwebten auf und davon und bestätigten nur das, was Torys Körper ihr schon seit ein paar Minuten mitgeteilt hatte: Das Brummen der Motoren war verstummt, und es herrschte Schwerelosigkeit im Schiff. Sie hatte auch keine Zeit mehr, sich zu fragen, ob das nun gut oder schlecht war, denn schon beugte eine hagere Kit Claridge sich über sie.

»Wie fühlst du dich?«, fragte die Ärztin.

Tory ließ die Wörter ins Gehirn einsickern und versuchte ihre Bedeutung zu erschließen. Erst nachdem ihre seltsam trägen geistigen Prozesse die Töne in Worte umgewandelt hatten, fragte sie sich das auch: Wie fühlte sie sich?

Da war natürlich die Kälte; aber das war ein äußerer Reiz und zählte eigentlich nicht. Sie versuchte zu schlucken und spürte, dass Rachen und Mund genauso trocken waren wie Marsstaub und der Magen sich zu einem kleinen harten Knoten verdichtet hatte. Sie wurde sich eines dumpfen Schmerzes bewusst, der die Muskeln peinigte, und eines stärkeren Schmerzes, der von den verschiedenen Stellen ausging, wo die medizinischen Manschetten ihre Gliedmaßen umgaben. Die Fußsohlen brannten auch — aus unerfindlichen Gründen.

Sie atmete mit einem raspelnden Geräusch tief durch. »Mir ist kalt«, krächzte sie.

Der besorgte Blick der Ärztin verwandelte sich flugs in ein Lächeln. »Zum Teufel, wem ist hier nicht kalt? Warte, ich helfe dir aus dem Tank!«

Kit nahm außerhalb von Torys Sichtfeld eine Verrichtung vor, und der lange zylindrische Deckel klappte nach oben und ermöglichte ihr den Ausstieg. Die Ärztin half ihr dabei, Arme und Beine von den Manschetten zu befreien, und dann beugte sie sich zu ihr herunter und hob sie aus dem Behälter.

»Wo ist Garth?«

»Oben in der Zentrale und arbeitet die Mails ab. Du bist als Dritte aufgeweckt worden. Eli ist der Letzte.« Während dieser Erläuterungen bugsierte Kit Torys schwerelosen Körper zum Sanitärbereich.

Tory quittierte die Mitteilungen mit einem Kopfnicken. Bei dieser Bewegung schwappte die Flüssigkeit im Innenohr unangenehm. Sie fragte sich, ob sie das Implantat aktivieren sollte, und schob diesen Gedanken dann beiseite, als ihr eine andere Frage in den Sinn kam.

»Wie lange?«, wisperte sie. Bei dem rauen Hals war nicht mehr als ein Flüstern drin.

»Fünfhundertzwölf Tage«, sagte Kit. »Wir liegen exakt im Zeitplan.«

»Und das Alien?«

»Schon viel näher als vorher, aber längst noch nicht auf der Zielgeraden.«

»Dann haben wir es also geschafft!«

Die Ärztin nickte. »In einer Woche leiten wir das Bremsmanöver ein.« Sie bugsierte Tory zur Null-g-Dusche des Schiffs. Dort angekommen, hielt sie sich an einem Knauf fest und schubste Tory in die Duschkabine. »Ich habe die Dusche auf schnelles Aufwärmen programmiert«, erläuterte sie und schloss die wasserdichte Tür.

Tory hatte gerade die Haltestangen in der Kabine gepackt, als ein Schwall lauwarmer zerstäubter Flüssigkeit aus der Decke strömte. Das Wasser erwärmte sich schnell, als es in Sturzbächen an ihr hinablief und sich in der Duschwanne sammelte. Ein kräftiger Luftstrom entsorgte die Flüssigkeit.

Tory hob den Kopf in den Wasserschwall. Sie öffnete den Mund und streckte die Zunge heraus, um den Durst zu stillen. Dann erschlaffte sie und hielt sich an den Stangen fest, während der belebende Wasserfluss die Kälte aus ihrem Körper vertrieb.

Als sie schließlich die Dusche verließ, stand Kit mit einem großen flauschigen Handtuch bereit. Sie wickelte sich darin ein. Nach dem schmeichelnden warmen Wasserschwall war die Rückkehr in die kalte Kabine ein Schock.

»Woran erinnerst du dich?«, fragte die Ärztin und verabreichte Tory eine Handvoll Pillen, die sie an Ort und Stelle schlucken sollte.

»Ich erinnere mich an den Start und den Flug zum Rand des Sonnensystems.«

»Erinnerst du dich auch noch daran, wie du dich in den Tank gelegt hast?«

Tory konzentrierte sich. Sie glaubte, sich zu erinnern, aber nur verschwommen. Sie hatte sich gefürchtet - daran erinnerte sie sich allerdings gut. Nach ihrem Dafürhalten hatte der Kälteschlaftank eine unangenehme Ähnlichkeit mit einem Sarg gehabt. Und dann war da noch etwas gewesen ...

Als sie im Schlafraum angekommen war, war ein Tank bereits belegt und der Deckel eingetrübt. Als ältestes Besatzungsmitglied hatte Eli Guttieriz die Ehre, zuerst in den Tank zu kommen und zuletzt wieder heraus.

Sie erinnerte sich daran, wie Kit ihr gesagt hatte, sie solle sich ausziehen - und ihr eine Handvoll Medikamente zum Einnehmen gegeben hatte, als sie nackt neben dem offenen Tank schwebte. Sie hatten die Reisegeschwindigkeit zwei Tage zuvor erreicht und die Motoren abgeschaltet. Tory erinnerte sich an die Berührung mit der weichen Innenpolsterung des Tanks, als sie die Füße in die Halterungen am Boden schob. Kit hatte ihr geholfen, die Arme in die Halterungen zu schieben. Kurz darauf hatte Tory einen plötzlichen Nadelstich verspürt, worauf sie vom Hals abwärts jedes Gefühl verlor. Sie erinnerte sich an Kits Erklärung, dass das Narkosemittel ihr eine schmerzlose Intubierung ermöglichte.

»Also dann«, hatte Kit gesagt und auf ihre Patientin hinabgelächelt. »Bereit fürs Traumland?«

»Ich glaube schon.«

»Gut, dann starte ich jetzt den Zyklus. Du wirst in einer Minute oder so einschlafen. Versuch, so lange an etwas anderes zu denken.«

»Zum Beispiel?« Tory spürte, wie ihre Hemmungen allmählich von ihr abfielen, als die Präparate ihre Wirkung im Kreislauf entfalteten.

»Das ist egal. Eli hatte sich abgelenkt, indem er mich fragte, ob ich seine Kabine mit ihm teilen würde.«

»Und was hast du ihm gesagt?«

»Ich sagte ihm, dass wir nach dem Aufwachen darüber sprechen würden.«

»Und wirst du es tun?«

Kit leuchtete Tory mit einer Lampe in die Augen. »Vielleicht. Man fühlt sich einsam hier draußen.«

»Das stimmt.«

»Du könntest doch den Kapitän fragen.«

»Könnte ich das?« Ihre Stimme wurde undeutlich und die Augenlider immer schwerer. Wie war das in der Schwerelosigkeit überhaupt möglich?

»Das würde die Dinge weniger kompliziert machen.«

Tory erinnerte sich auch noch an ihre Verwirrung, als die Stimme der Ärztin immer leiser wurde und schließlich verstummte.

Die »aktuelle« Kit schlug auf Torys bloßes Knie, sodass sie mit dem Fuß austrat. »Ich hatte gefragt, ob du dich daran erinnerst, wie du dich in den Tank gelegt hast?« Mit einem besorgten Gesichtsausdruck wartete sie auf Torys Antwort. Es war nämlich schon vorgekommen, dass Leute nach einem Aufenthalt im Tank deutlich an Intelligenz eingebüßt hatten.

»Ich erinnere mich. Wir hatten davon gesprochen, dass ich den Kapitän fragen sollte, ob er wollte ...«

»Ob er was wollte?«, ertönte Garth' sonore Stimme außerhalb der Kabine.

Tory war überhaupt nicht peinlich berührt bei dem ganzen Chemikaliencocktail, der in ihren Adern kreiste. Dennoch wusste sie, dass es ihr hätte peinlich sein sollen. Die Ärztin sprang für sie in die Bresche. »Nur >Girlie-Talk<, Garth. Nichts, was deine Autorität in Frage stellen würde.«

»Wie geht's der Patientin?«

»Sie scheint sich wieder zu berappeln. Es wird aber noch ein paar Stunden dauern, bevor sie sich wieder wie ein richtiger Mensch fühlt.«

Garth sah Tory an und grinste. »Wenn du wieder fit bist, komm rauf in den Kontrollraum und schau dir das Lichtsegel an. Es ist hundertmal heller als zu dem Zeitpunkt, als du es zuletzt gesehen hast.«

Tory wachte wieder auf und wusste diesmal sofort, wo sie war. Sie hing am Schott ihrer eigenen Kabine und hatte eine unbestimmte Zeit geschlafen. Sie fühlte sich schon besser, was bedeutete, dass sie sich zuvor lausig gefühlt hatte. Sie löste sich vorsichtig vom Schott und bewegte sich zur Waschstation. Dort musterte sie sich erst einmal im Spiegel.

Sie verzog das Gesicht. Es war genauso eingefallen wie die Gesichter von Kit und Garth. Sie wusste, dass diese Hohlwangigkeit eine Nebenwirkung des Kälteschlafs war. Nach ein paar Tagen guter Kost hätte sie wieder volle Wangen — aber wie lange würde es dauern, um diese Müdigkeit zu überwinden? Sie nahm ihre Haarbürste und bürstete sich die Locken. Das Haar war gerade so viel länger, um zu bestätigen, dass sie anderthalb Jahre im Winterschlaf verbracht hatte. Als sie es nach vorn bürstete, sah sie schon die Haarspitzen. Sie zog eine Schnute, entfaltete ein hässliches Null-g-Haarnetz und zog es sich über den Kopf. Dann kramte sie in einer Schublade nach dem Schminkzeug und investierte ein paar Minuten in die »Renovierung« des Gesichts. Schließlich überprüfte sie ihr Aussehen ein letztes Mal im Spiegel und befand, dass es genügen müsste.

Sie öffnete die Luke und schwebte in den Durchgang. Dabei erinnerte sie sich, wie Garth im Schlafraum aufgetaucht und sie nur mit einem Handtuch bekleidet war.

Sie hatte ausgesehen wie ein Zombie. Sie erinnerte sich auch, worüber sie und Kit gesprochen hatten und errötete nachträglich. Mit der Erinnerung kehrte auch wieder die Kenntnis der sozialen Konstellationen an Bord des Schiffs zurück.

Soweit sie wusste, waren die Besatzungsmitglieder in den sechs Wochen, die sie in der großen Schwärze beschleunigt hatten, in ihren Kabinen geblieben. Ein Grund dafür war der Dienstplan, der die Wirkung einer Anstandsdame bei einem Tanztee mit Jungs in einem Internat für höhere Töchter gehabt hatte. Wo jeder von ihnen acht Stunden Dienst am Tag schob, von der Erledigung der anderen Aufgaben ganz zu schweigen, hätte ein Pärchen kaum Zeit für intime Stunden gehabt. Und wenn Kit mit beiden Männern ins Bett gegangen war, hatte sie das außerordentlich diskret gehandelt.

Kit hatte bestätigt, dass sie mit Eli Guttieriz zusammenziehen würde, sobald er sich vom Kälteschlaf erholt hatte. Dadurch wurde die soziale Gleichung erheblich kompliziert. Ihr Vorschlag, dass Tory doch eine sexuelle Liaison mit dem Kapitän eingehen solle, war durchaus plausibel gewesen. Tory fragte sich aber, ob es das war, was sie wollte.

Sie ging in sich und fand keine wesentlichen Einwände. Obwohl sie natürlich Ben berücksichtigen musste. Eine Verbindung mit Garth würde unangenehme Fragen nach sich ziehen, wenn sie nach Hause zurückkehrte. Andererseits hatte sie Ben keine Versprechungen gemacht und auch selbst keine verlangt. Zumal die Wahrscheinlichkeit, dass Ben ihr für drei lange Jahre treu bleiben würde, gegen null tendierte.

Und wie stand es um ihre Gefühle für Garth? Er war ohne Zweifel ein attraktiver Mann, und sie respektierte ihn auch wegen der Kompetenz, mit der er vier völlig unterschiedliche Charaktere zu einem Team zusammengeschweißt hatte. Aber das war noch keine Liebe. Nein, jedes Arrangement, das sie trafen, wäre ein rein pragmatisches. Sie erinnerte sich an ihr Gespräch im Horst über Beziehungen, die auf nichts anderem als dem Bedürfnis beruhten, sich nachts an einen warmen Körper zu kuscheln. Freilich musste sie zugeben, dass dieser besondere Grund nun viel akuter war als je zuvor. Da war etwas an der schier endlosen Weite des Weltraums, das die Menschen veranlasste, im zwischenmenschlichen Bereich nach jedem Strohhalm zu greifen.

Das einzige Problem bestand darin, Garth ihr Interesse zu signalisieren. Schließlich war sie in einer Gesellschaft aufgewachsen, wo entsprechende Initiativen von jungen Damen mit Missfallen quittiert wurden. Da machte es auch keinen Unterschied, dass diese Einstellung ein Relikt aus den Tagen war, als der Mars noch ödes Neuland gewesen war. Tory war eben so erzogen worden.

Sie verspürte einen Anflug von Verärgerung über sich selbst. Sie wäre ein Dummkopf, wenn sie sich für die nächsten drei Jahre von ihrer Verklemmung blockieren ließe. Sie waren schließlich weit entfernt von zu Hause auf einer gefährlichen Mission, und niemand wusste, was der nächste Tag bringen würde. Wieso sollte sie da nicht die Gesellschaft eines starken, sensiblen Mannes suchen? Eigentlich musste sie nur noch ihren Mut zusammennehmen und Garth das Angebot unterbreiten. Das Schlimmste, was ihr passieren konnte, wäre, dass er ihr einen Korb gab.

Und davor hatte sie am meisten Angst, wie sie sich nun bewusst wurde. Was, wenn sie ihn fragte und er »nein« sagte? Konnte man an einer solchen Zurückweisung sterben, und wenn nicht, konnte man damit leben? Es war eine sehr zögerliche Tory Bronson, die da zum Kontrollraum ging.

Garth war auf seiner Beschleunigungsliege angeschnallt und studierte den Bildschirm, als sie durch die offene Luke hereindriftete. Er registrierte die Bewegung aus dem Augenwinkel und drehte sich zu ihr um.

»Geht es dir wieder besser?«

»Viel besser«, erwiderte sie. »Wie lang habe ich überhaupt geschlafen?«

»Zwölf Stunden.«

Sie stieß einen leisen Pfiff aus. »So lange?«

»Ungefähr genauso lange wie Kit und ich, nachdem wir den Tank zum ersten Mal verlassen hatten.«

»Und was ist mit Eli?«

»Wurde vor acht Stunden rausgeholt. Er ist in seiner Kabine und erholt sich. Ich vermute, dass er wegen seines Alters ein paar Tage brauchen wird, um sich zu regenerieren.«

»Und Kit?«

»Sie ist in der Krankenstation zugange. Interessiert es dich, was sich zu Hause ereignet hat, seit du dich schlafen gelegt hattest?«

»Sicher.«

»Nun, es scheint, dass ein investigativer Journalist sich fragte, weshalb wir so klammheimlich gestartet seien, und einen Amateurastronomen beauftragte, Bilder von der Raumsonde auf dem Flug nach Alpha Centauri zu beschaffen. Als er dort nicht fündig wurde, hat er seinen Redakteur überredet, Geld in eine Himmelsobservierung zu investieren. Als sie schließlich herausfanden, dass wir nach Tau Ceti unterwegs sind, entdeckten sie auch das Lichtsegel.«

»Was ist dann passiert?«

»Die Kacke war am Dampfen, als die Neuigkeit an die Öffentlichkeit gelangte. Der System-Rat ist zu einer Krisensitzung zusammengetreten und wollte wissen, weshalb die große Mehrheit der Ratsmitglieder nicht eingeweiht worden war. Unser Freund — Minister de Pasqual — wäre fast seines Amtes enthoben worden. Doch der Sturm der Entrüstung ist dann wieder abgeflaut, und im letzten Jahr hat man eine eindrucksvolle Organisation aufgebaut, um die von uns übermittelten Daten auszuwerten. Übrigens ist dein Freund Ben Tallen befördert worden. Er ist nun der für Alien-Investigation zuständige Administrator.«

»Schön für ihn. Ist er noch auf dem Mars?«

»Nicht laut Absenderadresse auf einem guten Dutzend privater Nachrichten, die für dich im Computer abgelegt wurden. Sie wurden alle von der Erde gesendet.«

»Ach.«

»Willst du das Lichtsegel sehen?«

»Liebend gern.«

Garth betätigte ein Steuerelement, und der Bildschirm wurde gelöscht und zeigte dann einen hellen blauweißen Lichtfunken in der Nähe des bereits bekannten Rings der Tau-Ceti-Nova. Garth hatte recht - das Segel war viel heller als damals. Trotzdem war es nach wie vor nur ein dimensionsloser Lichtpunkt, ein xenonblauer Funke vor einem samtig schwarzen Hintergrund.

Tory betrachtete ihn für eine lange Zeit und nahm allen Mut zusammen, um das Thema anzuschneiden, wegen dem sie eigentlich hergekommen war. Schließlich atmete sie tief durch und ging in die Offensive.

»Ah, Garth, erinnerst du dich noch, worüber wir an jenem Abend im Horst gesprochen hatten?«

»Wir hatten über viele Dinge gesprochen.«

»Du hast mir etwas von Beziehungen auf Raumschiffen erzählt ...«

»Was soll damit sein?«

»Wusstest du schon, dass Kit und Eli zusammenziehen wollen?«

»Ich wäre ein schlechter Kapitän, wenn ich das nicht wüsste.«

»Und du hast es genehmigt?«

»Das geht mich doch nichts an. Es ginge mich nur dann etwas an, wenn sie nicht mehr miteinander auskommen und es sich auf ihre ... Arbeit auswirkt.«

»Kit meint, dass die Dinge nicht so kompliziert wären, wenn ... du weißt schon.«

Er setzte sich auf der Beschleunigungsliege auf und starrte sie an — aber er war nicht bereit, ihr aus der Verlegenheit zu helfen, indem er das Kind beim Namen nannte. Sie schluckte, um die Kontrolle über ihre Stimme zurückzuerlangen und nahm einen neuen Anlauf.

»Was ich meine, ist, würde es dir gefallen, mit mir zusammenzuziehen?«

Zu ihrer Überraschung antwortete er nicht sofort. Als er es dann tat, schüttelte er langsam den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es funktionieren würde.«

Sie wurde plötzlich knallrot im Gesicht und bekam auch noch rote Ohren. Und sie war so perplex, dass sie mit »Warum nicht?« herausplatzte.

»Dr. Claridge und Professor Guttieriz mögen Sex als reine >Leibesübung< betrachten, aber zwei Romantiker wie wir brauchen schon etwas mehr. Ich schlage vor, dass wir uns erstmal ineinander verlieben.«

»Man kann sich doch nicht eben mal so verlieben, als ob man eine Pizza bestellt!«

»Natürlich kann man das. Die menschliche Psyche ist ein wunderbares Instrument. Mit dem richtigen Reiz erhält man auch immer die richtige Reaktion.«

»Und was ist nach der Mission?«

»Dann entlieben wir uns wieder, wenn uns danach ist. Ich schlürfe laut meinen Kaffee, und du verstreust deine Unterwäsche im ganzen Sanitärbereich. Und nach einer Woche werden wir uns dann fragen, was wir überhaupt aneinander gefunden haben.«

»Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«

»Natürlich«, sagte er. »Nimm eine Studie über alte Ehepaare und sieh, wie viele noch so ineinander verliebt sind wie bei der Hochzeit. Du würdest dich wundern.«

»Und wie sollen wir uns ineinander verlieben?«

»Für den Anfang Dinner in der Kapitänskabine mit gedämpfter Beleuchtung. Ich habe eine Flasche Wein, die ich eigentlich erst öffnen wollte, wenn wir das außerirdische Sternenschiff erstmals in seiner ganzen Pracht sehen. Wir werden sie aber schon früher aufmachen und uns damit in Stimmung bringen. Später werden wir uns auf der Couch aneinanderkuscheln, ein Holo anschauen, und du kannst dann so tun, als ob du meine Witze lustig fändest.«

»Ich spiele meinetwegen mit.«

Er verneigte sich, wie es ihm in seiner sitzenden Position möglich war. »Darf ich die gnädige Frau also heute Abend auf ein Gläschen Wein einladen?«

Sie grinste. »Ich bezweifle, dass ich eine gute Gesellschafterin wäre. Ich muss einen kompletten Software-Scan durchführen.«

»In Ordnung. Zumal ich auch noch zu tun habe. Was sagst du zu morgen Abend?«

»Also eine Verabredung.«

»Um den Bund zu besiegeln?«

Sie schwebte zu ihm und gab ihm einen leichten Kuss auf den Mund. Trotz ihrer Bemühungen mangelte es dem Kuss an Leidenschaft. Als sie sich wieder voneinander lösten, seufzte Van Zandt.

>»Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwache Wir werden es später noch einmal versuchen, wenn wir beide uns richtig vom Kälteschlaf erholt haben.«

»Du bist der Kapitän«, erwiderte Tory und bewegte sich zur anderen Beschleunigungsliege. Sie verspürte gleichermaßen Enttäuschung wie ein Hochgefühl. Es war definitiv eine zwiespältige seelische Verfassung.