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Moskau hatte seine Sankt-Basilius-Kathedrale, Paris den Eiffelturm und San Francisco die Golden Gate Bridge. Jede große Stadt besaß ein für sie typisches Monument oder architektonisches Meisterwerk — ein Bauwerk, das als ihr Wahrzeichen galt. Olympus auf dem Mars machte da auch keine Ausnahme. Die Struktur, die das Wahrzeichen der marsianischen Hauptstadt bildete, erhob sich volle zwei Kilometer über den nördlichen Rand des Vulkankraters. Seine Erbauer hatten ihr den Namen Schlechtwetter-Kommunikationseinrichtung verliehen. Im Volksmund hieß die Anlage schlicht und einfach Aerie.

Die Kommunikation zwischen der Oberfläche und den orbitalen Übertragungssatelliten erfolgte über Kommunikationslaser. Kein anderes Übertragungsmedium verfügte über die Bandbreite, das erforderliche Informationsvolumen zu handhaben. In der Frühzeit der Kolonie hatten Staubstürme die mit sichtbarem Licht arbeitenden Laser manchmal für Wochen und sogar für Monate geblendet. Deshalb hatte die Kolonie sich notgedrungen wieder auf Funkverbindungen verlegt, die allerdings im Frühjahr und Herbst auch nicht allzu zuverlässig waren, wenn der Marsstaub wieder in Wallung war.

Weil der Kraterrand von Olympus Mons sich bereits fünfundzwanzig Kilometer oberhalb der willkürlichen »Bodenhöhe null« befand - die das Äquivalent des Meeresspiegels auf dem Mars war —, hatten die Stadtväter von Olympus City einen Funkturm errichtet, der über den dichtesten Staub hinausragte. Die Kommunikationslaser auf dem Turm waren im Stand-by-Modus und würden einspringen, falls die bodengestützten Gegenstücke ausfielen. Die Glaskugel, die sie beherbergte, beinhaltete darüber hinaus ein Restaurant, eine Bar und eine kleine Banketteinrichtung. Das machte den Aerie zu einer beliebten Restauration für Erdtouristen und die Oberen Zehntausend der Marsianer.

Kurz nach seiner Fertigstellung hatte Victoria Bronsons drittes Semester den Aerie besucht. Sie waren mit dem Aufzug zwei Kilometer an der Seite des Turms hinaufgefahren, hatten sich die Nasen an der gewölbten Glaswand platt gedrückt und bei dem Panoramablick bewundernde und erstaunte Rufe ausgestoßen. Und nun ließ Tory selbst den Blick über die beleuchteten Kuppeln von Olympus schweifen. Diesmal war sie wegen der Reise, die sie in Kürze antreten würde, tief in Gedanken versunken. Deshalb hörte sie auch nicht, wie Praesert Sadibayan sich ihr von hinten näherte, bis er sie ansprach.

»Ach, Miss Bronson, da sind Sie ja! Darf ich Ihnen Kapitän Garth Van Zandt von der irdischen Weltraummarine vorstellen? Er wird die Austritt auf der Expedition kommandieren.«

Tory richtete den Blick auf den Mann in Sadibayans Begleitung. Er war mittelgroß, hatte blondes Haar und einen hellen Teint, außerdem ein Allerweltsgesicht — bis auf die blauen Augen mit dem energischen Blick. Seine Gestalt war irdisch muskulös. Nach ein paar Sekunden wurde sie sich bewusst, dass er sie mit der gleichen Intensität musterte. Sie errötete, als ihre Blicke sich trafen.

»Kapitän Van Zandt«, sagte sie und reichte ihm die Hand, »ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Bitte nennen Sie mich doch Garth.«

»Meine Freunde nennen mich Tory.«

»Also gut, Tory. Darf ich Sie auf einen Drink einladen?«

»Sehr gern.«

Van Zandt wandte sich an Sadibayan und verneigte sich. »Vielen Dank, Herr Staatssekretär. Wenn Sie uns entschuldigen möchten ...«

»Sicher doch«, erwiderte Sadibayan. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zum Hauptempfang zurück.

Es herrschte zunächst ein verlegenes Schweigen, als die beiden auf die beleuchtete Stadt hinausschauten. Tory brach es schließlich und sagte: »So bald hätte ich nicht mit Ihnen gerechnet. Herr Sadibayan sagte, er würde einen Marineoffizier von der Erde anfordern. Das war ... vor fünf Tagen.«

Van Zandt lachte. »Das hat schon seine Richtigkeit. Mein Befehl lautete >mit dem schnellsten verfügbaren Transportmittel. Der Staatssekretär hat dafür gesorgt, dass ich diese Anweisung wortwörtlich befolgte. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis ich mich erholt habe. Ich vermute, dass Ihr Leute in großer Eile seid.«

Tory nickte und erklärte ihm, dass sie bestrebt seien, das außerirdische Schiff möglichst weit draußen abzufangen. Van Zandt hörte aufmerksam zu. Er hatte seine eigenen Vermutungen bezüglich der Eile, die alle an den Tag legten. Als Student der Militärgeschichte war er sich der Vorteile bewusst, die man genoss, wenn man als einer von wenigen in ein gut gehütetes Geheimnis eingeweiht war.

»Ich würde gern noch mehr darüber hören«, sagte er, als sie fertig war. »Wir holen uns etwas zu trinken und suchen uns dann einen ruhigen Ort, wo wir uns unterhalten können.«

Eine Stunde später lachte Tory über eine ebenso ausfuhrliche wie unglaubliche Geschichte, wie Van Zandt es arrangiert hatte, eine fürs Hauptquartier der Flotte bestimmte Lieferung Kaviar in die Messe seines Schiffs umzuleiten.

»Ist der Admiral denn nicht dahintergekommen?«, fragte sie.

»Nein. Mein Erster Offizier ist in der ganzen Flotte nur als das >Pokergesicht< bekannt.«

Dann musste sie wieder lachen, und die ganze Verkrampfung fiel von ihr ab. Sie hätten eigentlich die Details der Mission besprechen sollen. Trotzdem blieb noch viel Zeit für Kriegsanekdoten.

»Ich muss schon sagen, Garth, Sie sind ganz anders, als ich Sie mir vorgestellt habe.«

Er wölbte die linke Augenbraue.

»Als sie einen Marineoffizier von der Erde als Kommandeur angefordert hatten, hatte ich wohl einen richtigen Haudegen erwartet.«

»Wohl eine Kreuzung aus Klaus Störtebeker, Graf Luckner, dem >Seeteufel<, und Captain Kirk?«, fragte er.

»So etwas in der Art.«

»Es liegt schon ein Körnchen Wahrheit im - falschen -Klischee, dass Schiffskapitäne rücksichtslose Draufgänger seien«, räumte Garth ein, »aber wirklich nur ein Körnchen. Ein Raumschiff zu führen ist weitaus komplizierter als die Herausforderungen, vor denen diese alten Fahrensmänner auf ihren Segelschiffen jemals gestanden haben. Die Ausrüstung erfordert einen höheren Ausbildungsstand, das Medium ist weitaus tödlicher als Wasser, und Raumschiffsbesatzungen erwarten auch, wie die Profis behandelt zu werden, die sie eben sind. Einem Kapitän, der meint, sich wie Captain Bligh auf der Bounty aufführen zu müssen, könnte eines Nachts das Vakuum des Weltalls in die Kabine geleitet werden. Nein, die Leute bringen dann die beste Leistung, wenn man sie nach Möglichkeit in Ruhe lässt. Das heißt aber nicht, dass keine Situation auftreten könnte, die nach einer festen Hand am Steuer verlangt. Aber wenn ich einmal auf meinen Rang poche - was selten genug geschieht —, erwarte ich Gehorsam ohne Kompromisse.«

Tory nickte. »Damit kann ich leben. Aber ich möchte Sie nur darauf hinweisen, dass ich nicht gelernt habe, militärisch korrekt zu grüßen.«

»Auch so ein Quatsch. Haben Sie schon einmal versucht, in der Mikrogravitation die Hand an die Mütze zu legen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wenn man den Arm hebt, bewirkt das Drehmoment eine Körperdrehung in die entgegensetzte Richtung. Und wenn man dann noch die Hand zackig zum Kopf führt, wird man in eine taumelnde Drehbewegung versetzt. Und wenn der Kopf dabei mit einem festen Gegenstand in Berührung kommt, schlägt man sich womöglich noch selbst k.o., verstehen Sie? Haben Sie noch andere Vorurteile, die ich für Sie widerlegen kann?«

Tory biss sich auf die Lippe. Da war noch ein Punkt, der ihr auf der Seele lag, seit sie sich zur Teilnahme an der Expedition bereiterklärt hatte. Sie weckte die Konsequenzen, es jetzt zur Sprache zu bringen, mit einem weiteren Zuwarten ab und beschloss, dass es am besten sei, alle offenen Fragen so schnell wie möglich zu klären. »Ist es wahr, was man sich über Raumfahrer erzählt?«

»Kommt darauf an, was man sich erzählt.«

»Dem Vernehmen nach soll sich auf langen Reisen eine ziemlich intime Atmosphäre an Bord entwickeln.«

Van Zandt schaute sie für eine Weile an. Er zog die Mundwinkel leicht hoch, als Tory rote Ohren bekam. »Sie spielen vermutlich auf sexuelle Beziehungen an Bord an?«

Sie nickte und wunderte sich selbst über ihre Verklemmtheit. Wenn sie mit diesem Mann schon für drei Jahre in einer vakuumdichten Büchse eingesperrt war, hatte sie schließlich jedes Recht zu erfahren, welche »Pflichten« er von ihr erwartete.

Er seufzte und lehnte sich zurück. »Es ist richtig, dass Raumschiffsbesatzungen auf langen Flügen oft ein enges Verhältnis untereinander entwickeln und dass diese Verhältnisse manchmal auch sexuelle Kontakte beinhalten. Die Leute sind einfach auf der Suche nach zwischenmenschlichen Beziehungen oder nach jemandem, der sie nachts wärmt. Solche Beziehungen können einen Tag dauern, eine Woche, für die Dauer des ganzen Flugs oder auch ein Leben lang. Es gibt nur eine einzige Regel, und gegen die darf nicht verstoßen werden: Was auch immer geschieht, es muss einvernehmlich zwischen beiden Parteien geschehen. Es darf nicht unter Zwang erfolgen. Sind Sie nun beruhigt?«

»Und was ist, wenn die Raumfahrer Ehepartner auf der Erde haben?«

Er zuckte die Achseln. »Manche sind treu, andere nicht. Das Gleiche gilt für die Ehefrauen. Ich kenne ein paar Arrangements, wo eine Frau mit zwei Raumfahrern verheiratet ist. Das ist ein vergnügliches Arrangement, sofern nicht beide Schiffe zur selben Zeit im Orbit sind. Oder wollten Sie mit Ihrer Frage subtil sondieren, ob ich verheiratet bin?«

Sie spürte, wie sie noch eine Nuance roter wurde. »Nein, wollte ich nicht. Sind Sie denn verheiratet?«

»Geschieden«, sagte Van Zandt. »Meine Frau kam nicht mit den langen Trennungen klar, die die Patrouillenflüge nun einmal mit sich bringen. Wir haben unseren Ehevertrag einvernehmlich gekündigt und sind noch immer gute Freunde. Und Sie?«

»Nein.«

»Haben Sie denn einen Freund?«

»Keinen festen, seit ich meinen Hochschulabschluss habe.« Tory wandte den Blick ab. »Sie müssen mich für ziemlich altmodisch halten.«

»Überhaupt nicht. Ich weiß doch, dass auf dem Mars andere Sitten herrschen als auf der Erde. Sie müssen sich nicht dafür entschuldigen.« Er schaute in sein leeres Glas. »Ich brauche Nachschub. Was ist mit Ihnen?«

»Ja, bitte.«

Sie schaute ihm nach, als er sich einen Weg durch die Menge zur Bar bahnte. Nach drei Jahren auf Phobos galten ihre Gedanken nicht nur der Mission.

Tory Bronson starrte mit verquollenen Augen auf den Bildschirm und fragte sich, wo sie zuletzt stehen geblieben war. Sie war vor zehn Tagen noch Phobos zurückgekehrt und gleich mit einem schier unlösbaren Problem konfrontiert worden. In der Theorie bedeutete die Trennung des Starhopper-Instrumentenpakets von der Boosterrakete und das Ersetzen durch eine Korvette eigentlich nur eine Neuberechnung von Masse und Schwerpunkt des Raumfahrzeugs. In der Praxis hingegen bedeutete es eine Generalüberholung des Steuerprogramms des Fahrzeugs.

Zumal es niemanden gab, der die Arbeit sonst noch hätte erledigen können. Nachdem sie beschlossen hatte, was mit jeder der etwa zehntausend verschiedenen Subroutinen geschehen sollte, würde die kleine Armee von Programmierern, die man ihr versprochen hatte, die Computer bei der Arbeit anleiten. Aber die Entscheidung, wie grundsätzlich vorgegangen werden musste, vermochte nur eine einzige Person mit einem vollständigen Überblick zu treffen. Und im Moment war diese Person total überlastet.

Die größten Kopfschmerzen verursachten ihr freilich die Subroutinen, die in Intervallen von einer Millisekunde den Zustand des Instrumentenpakets kontrollierten. All diese Routinen waren sorgfältig konzipiert worden, um die Funktionsfähigkeit der interstellaren Raumsonde während des fünfzig Jahre dauernden unbemannten Flugs nach Alpha Centauri zu gewährleisten. Jede Subroutine würde die Entfernung des Instrumentenpakets als ein Systemversagen interpretieren und versuchen, die ausgefallene Komponente zu überbrücken. Und wenn das auch nicht funktionierte, wusste Gott allein, wie sie reagieren würden. Die meisten Routinen für die Zustandsüberwachung vermochte man natürlich einfach zu deaktivieren. Die meisten - aber nicht alle. Manche waren für den ordnungsgemäßen Betrieb der Boosterrakete unerlässlich. Und die Ermittlung, in welche Kategorie jede Routine fiel, war das eigentliche Problem bei diesem Job.

Seit der Rückkehr noch Phobos hatte Tory nach dem Frühstück bis in die späte Nacht am Computer gearbeitet. Sie holte den Zeitverlust zwar nicht mehr auf, verhinderte mit den Überstunden aber ein weiteres Zurückfallen im Zeitplan. Sie wusste schon gar nicht mehr, was für ein Gefühl es war, ausgeruht zu sein. Die Müdigkeit wirkte sich natürlich auch auf die Arbeit aus und verringerte die Produktivität; dadurch musste sie länger arbeiten, was sie noch mehr erschöpfte. Dieser Teufelskreis, in dem sie steckte, war ihr durchaus bewusst. Allerdings waren die Erkenntnis und die Fähigkeit, entsprechend zu handeln, zwei Paar Schuhe.

Die einzige Flucht vor der Tyrannei des Computers bestand in den Mahlzeiten, die sie am Arbeitsplatz hinunterschlang und in den beiden Stunden, die sie täglich in die Beantwortung von Garth Van Zandts Fragen investierte. Er arbeitete auch viele Stunden, um sich in sein neues Kommando einzuarbeiten. Sie beneidete ihn nicht um diese Aufgabe. Obwohl sie die Entstehung von Starhopper schon seit drei Jahren intensiv verfolgt hatte, versuchte sie noch immer, den Bau der Boosterrakete bis ins kleinste Detail nachzuvollziehen. Und Van Zandt blieben weniger als sechs Wochen, um sich das Wissen von drei Jahren förmlich in den Kopf zu prügeln. Außerdem war er dadurch gehandicapt, dass er nicht einmal ein Computerimplantat hatte. Zumal er auch gar keine Zeit gehabt hätte, sich mit der Benutzung eines solchen Implantats vertraut zu machen, wenn er denn geglaubt hätte, eins zu brauchen.

Tory rieb sich die Augen und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. Eine schematische Darstellung der Starhopper-Boosterrakete erschien in räumlicher Tiefe. Einem ungeschulten Beobachter hätte die Abbildung wie ein chaotisches Gewirr bunter Linien erscheinen können. Doch für Tory war dies die einfachste Schemazeichnung, mit der sie die laufende Simulation zu verfolgen vermochte. Es war ihr eine Hilfe, dass der Projektcomputer die mehrere tausend Parameter überwachte, welche durch die Änderung betroffen waren, die sie gerade am Steuerprogramm vorgenommen hatte. Trotzdem war die ganze Angelegenheit so komplex, dass selbst jemand, der erwiesenermaßen immun gegen den Lawineneffekt war, noch Kopfschmerzen bekam.

Nachdem sie für eine Viertelstunde eine in Millisekunden skalierte Projektion des Plasmaflusses in den Energiekonverter der Boosterrakete verfolgt hatte, wurde sie sich bewusst, dass jemand hinter ihr stand. Sie schaute über die Schulter und erkannte Ben Tallens schlanke Gestalt.

»Ben!«, rief sie erschrocken. »Schleich dich das nächste Mal nicht so an, sonst bekomme ich noch einen Herzinfarkt.«

»Verzeihung«, sagte er. »Du warst so in die Arbeit vertieft. Ich wollte dich nicht stören.«

»Seit wann bist du denn hier?«

»Ich bin mit der Abendfähre angekommen und gleich hierher gefahren. Hast du schon gegessen?«

Sie schüttelte den Kopf und verspürte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen.

»Wie wär's, wenn du mich zur hiesigen Futterkrippe fuhrst?«

»Dafür habe ich eigentlich gar keine Zeit«, sagte sie und rieb sich die müden Augen. »Ich muss heute Abend noch vier Computeralarme überprüfen, bevor ich >Feierabend< machen kann.«

»Aber du musst doch auch mal etwas essen.«

»In Ordnung. Gib mir noch zehn Minuten, damit ich mich vergewissern kann, dass die Prüfungen ordnungsgemäß laufen.«

»Was machst du hier überhaupt?«, fragte er und zeigte auf die Grafik auf dem Bildschirm.

»Ich ändere den Bustakt für die Steuerleitungen der Boosterrakete, um eine Kompatibilität mit den Datenleitungen der Austritt herzustellen. Ich muss mich davon überzeugen, dass ich bei den Änderungen keinen Fehler gemacht habe.«

»Und hast du?«

»Hunderte«, erwiderte sie. »Das ist das Problem mit diesem verdammten Programm. Eins greift irgendwie ins andere.«

»Laufen die Änderungen gut?«

»Sie laufen zumindest nicht schlecht. Man muss nur verdammt aufpassen, dass sich keine Fehler einschleichen, vor allem in der Brennstoffzuleitung. Du kannst es dir wie eine Manipulation deines eigenen Gencodes vorstellen.«

Er nickte und studierte die Schemazeichnung, die sie auf dem Bildschirm hatte. Er hatte offensichtlich keine Ahnung, was er da sah.

»Die Strom- und Steuerkreise für die Brennstoffzuleitung von Starhopper«, erklärte sie, »sowie ein Teil der Triebwerks-Steuerkreise.«

»Und wozu ist das gut?«

»Sie konfigurieren die Antimaterie, bevor sie in die Reaktionskammer eingespritzt wird, wo dann die Protonen-Antiprotonen-Vernichtungsreaktion stattfindet.«

»Ich will's dir mal glauben«, sagte er lachend.

Tory löschte den Bildschirm und rief eine andere schematische Grafik auf - eine, die für die Unterrichtung von Politikern und Hochschul-Präsidenten verwendet wurde, die zu Besuch kamen. Sie zeigte generische Abbildungen des Antimaterie-Torus der interstellaren Raumsonde, Reaktionsmassetanks sowie die verschiedenen Triebwerksstromkreise. Sie verbrachte die zehn Minuten damit, ihm die Funktion der Boosterrakete zu erläutern, und dann führte sie ihn in die leere Projekt-Cafeteria.

»Was hast du von meinen Erläuterungen überhaupt verstanden?«, fragte sie, nachdem sie ein halbes Sandwich hinuntergeschlungen hatte.

»Etwa ein Zehntel«, sagte er.

»Bevor ich diesen Job bekommen habe, war ich auch der Ansicht, dass Plasmaphysik schwierig sei. Und nun spreche ich selbst dieses unverständliche Kauderwelsch.«

Ben stellte eine Schnabeltasse mit Kaffee ab und nickte. »Ich weiß, was du meinst. Die Politik war für mich auch ein Buch mit sieben Siegeln, bevor ich ins Wissenschaftsministerium eingetreten bin. Und nun habe ich den vollen Durchblick.«

Sie zuckte die Achseln. »Wenn du es sagst. Politik dreht sich um Menschen, und Menschen sind eben nicht logisch.«

Er lachte. »Weißt du, für wen es mir leidtut?«

»Für wen denn?«

»Für diese armen Teufel, die dieses Lichtsegel fliegen. Wenn es uns schon schwerfällt, uns selbst zu verstehen, kannst du dir bestimmt vorstellen, welche Probleme sie erst haben werden.«

»Oder umgekehrt«, sagte Tory.

»An alle! Letzte Warnung. Verlassen Sie die Landezone. Uberwacher, Statusbericht.«

Katherine Claridge, ihres Zeichens Ärztin, stand im Raumanzug auf einer kleinen Anhöhe an einem Ende von Phobos und hörte, wie der Boden-Controller die letzten Anweisungen für die Landung des Starhopper-Boosters erteilte. Sie war nicht allein. Bei ihr waren Garth Van Zandt, Tory Bronson und der größte Teil des Projektpersonals auf Phobos, die von ihren anderen Pflichten freigestellt werden konnten.

Kit Claridge war eine kleine blonde Frau, die mit Übergewicht zu kämpfen hatte. Trotzdem war sie für ihr Alter — fünfzig Standardjahre — in Topform. Sie war Prodekanin des Fachbereichs Medizin an der University of Olympus und Inhaberin des Steinmetz-Lehrstuhls für Exobiologie. Darüber hinaus war sie, wie gesagt, Dardan Pierces Leibärztin.

Pierce hatte ihr die Neuigkeit vom außerirdischen Lichtsegel vor zwei Wochen offenbart. Das hatte sie regelrecht von den Socken gehauen. Zum einen hätte sie ihm nicht zugetraut, ein Geheimnis dieser Größenordnung länger als eine halbe Minute zu bewahren, zum anderen hatte es ihr die Sprache verschlagen, als er ihr einen Platz auf dem Schiff anbot, das zum »Rendezvous« mit den Aliens aufbrechen sollte.

»Sind Sie sicher, dass Sie mich dabeihaben wollen, Dard?«, fragte sie, nachdem sie die Kontrolle über die Unterkiefermuskeln zurückerlangt hatte.

»Wieso nicht?«

»Sollte denn nicht ein Auswahlprozess stattfinden? Es gibt schließlich noch andere Exobiologen, die weitaus renommierter sind als ich.«

»Sie sind aber keine Ärzte. Ich habe das schon überprüft. Sie füllen zwei Stellen zum Preis von einer aus. Das nenne ich Effizienzmaximierung.«

»Aber Sie werden doch nicht Ihrer Ärztin die größte wissenschaftliche Sensation aller Zeiten anvertrauen, ohne irgendjemanden zu konsultieren, verdammt noch mal. Mein Gott, man wird Sie auf der nächsten Sitzung der System-Gesellschaft für die Förderung der Wissenschaft ans Kreuz schlagen. Sie müssen doch wenigstens den Anschein erwecken, das Spiel mitzuspielen.«

»Schauen Sie, Kit. Ich kenne diese anderen Biologen nicht, aber ich kenne Sie. Es ist mir egal, was Sadibayan sagt oder de Pasqual oder meinetwegen auch der Premierminister. Ich will Sie.«

»Aber wieso, um Himmels willen?«

»Weil Sie nicht in Panik geraten, wenn Sie mit den Aliens zusammentreffen - und wenn es noch so eklige Schleimmonster sind. Sie werden sie mit dieser gleichen olympischen Entrücktheit betrachten, mit der Sie mir immer sagen, dass ich zu dick sei. Dies ist das erste Mal, dass menschliche Wesen einen guten Eindruck auf eine andere Spezies machen müssen. Ich weiß, dass Sie uns würdig vertreten werden. Wie sieht's aus - wollen Sie mitfliegen?«

»Ob ich mitfliegen will? Ich würde alles dafür tun! Ich möchte Sie nur nicht in Schwierigkeiten bringen.«

»Sehen Sie, wenn sie die Starhopper wollen, müssen sie mir das Recht einräumen, eine Stelle zu besetzen. Ich habe mich für die Stelle des Biologen entschieden. Und das sind Sie, falls Sie sie überhaupt haben wollen.«

Sie hatte an dieser Stelle nichts mehr gesagt, damit er es sich nicht doch noch anders überlegte. Die nächsten zwei Wochen hatte sie wie in Trance verbracht und ihr Glück gar nicht zu fassen vermocht. Zum Teufel, nach dieser Expedition würde sie vielleicht zur berühmtesten Exobiologin aller Zeiten avancieren.

Die Exobiologie war seit fast drei Jahrhunderten eine Wissenschaft auf der Suche nach einem Forschungsobjekt gewesen. Generationen von Wissenschaftlern hatten Millionen wissenschaftliche Abhandlungen verfasst, wie außerirdische Lebensformen beschaffen sein müssten, ohne dass ihnen auch nur eine einzige außerirdische Probe zu Studienzwecken zur Verfügung gestanden hätte. Und nun hing ein Schiff an diesem blauweißen Licht am Himmel, und in diesem Schiff waren lebendige, atmende, denkende Wesen von einem anderen Stern. Und sie würden zumindest das Tau-Ceti-Aquivalent von Läusen mitbringen, Darmbakterien, vielleicht sogar Wanzen an Bord des Schiffs. Für Kit Claridge war das eine verkable außerirdische Ökologie!

Schließlich waren alle ihre Patienten an andere Ärzte überwiesen worden, ihre Studenten an andere Dozenten, und ihre Verwaltungsaufgaben waren erledigt. Sie packte eine Reisetasche, nahm die Morgenfähre nach Phobos und traf einen Tag vor dem Zeitpunkt ein, wo sie die Boosterrakete herunterholen wollten, um das Instrumentenpaket abzubauen. Ihren ersten Tag hatte sie hauptsächlich dafür genutzt, um sich mit Garth Van Zandt und Tory Bronson bekanntzumachen.

Sie beschirmte ihre Gesichtsplatte mit einer behandschuhten Hand, als Phobos' Rotation die Sonne über den örtlichen Horizont trug. Der Boden vor ihr war unnatürlich eben. Er war als Landefeld neben der Phobos-Raffinerie planiert worden. Hier wurden kleine, in eine reflektierende Folie gehüllte Eisberge gelandet, nachdem sie von Lichtsegeln in Position gebracht worden waren. Nach der Landung wurden sie zerkleinert und zur Raffinerie gebracht. Auf diesem Landefeld versorgten auch Tankschiffe die Erd-Liner und andere Schiffe in der Umlaufbahn um den Mars mit flüssigem Wasserstoff.

Kit hörte die Meldung der Sicherheitsüberwacher, dass das Feld vom gesamten Personal geräumt sei. Dann ertönte über die allgemeine Funkverbindung das Plärren einer Sirene. Die Gruppen von Menschen in Raumanzügen, die sich hinter den Schutzbarrieren versammelt hatten, stellten plötzlich ihre Unterhaltung ein.

»Alles klar, Starhopper. Freigabe zur Landung«, meldete der Chef-Controller.

»Danke, Boden-Controller«, ertönte die Stimme von Phobos' routiniertestem Landepiloten. »Leite den Abstieg ein!«

Tief am westlichen Horizont, wo der pyramidenförmige interstellare Booster schwebte, flogen Funken. Zunächst schien überhaupt nichts zu geschehen. Dann verbreiterte sich der Spalt zwischen Booster und Horizont zusehends. Während der nächsten zehn Minuten stieg Starhopper in den Himmel. Es stoben wieder Funken, als die Boosterrakete sich als Silhouette vor der roten Kugel des Mars abzeichnete. Ein Dutzend Steuerdüsen feuerten am Hauptbooster und vermittelten den Eindruck einer Reihe von Antikollisions-Warnlampen, die gleichzeitig aufleuchteten; und die zweihundert Meter breite, gestutzte Pyramide drehte sich um die Hochachse.

Kit verspürte einen Anflug von Angst, als sie direkt ins klaffende Maul der mächtigen Booster-Triebwerke schaute. Falls die plötzlich zündeten, würde jeder auf der Sichtlinie sofort verdampft werden. Kit schüttelte diesen morbiden Gedanken ab. Tory Bronson wusste alles, was es über die Boosterrakete zu wissen gab - und sie stand ruhig und gelassen keine zehn Meter entfernt.

Die kleinen Bremsdüsen feuerten erneut, und Starhopper setzte zur Landung an. Die Boosterrakete wirkte riesig vorm Hintergrund des roten Planeten.

Starhopper setzte den langsamen Abstieg fort. Der Landepilot ging keine Risiken mit dem einzigen Raumschiff im Sonnensystem ein, das in der Lage war, das außerirdische Sternenschiff abzufangen. Dreimal zündete er die Bremsdüsen, um den Fall der Pyramide zu verlangsamen. Und zwei Meter über dem Landefeld zündete er sie noch einmal für ein paar Sekunden. Blauweiße Flammen schlugen gegen die steinige Oberfläche von Phobos. Dann verstummten die Düsen, und Starhopper sackte weiter ab.

Es dauerte insgesamt fünf Minuten, bis die Landeteller der Boosterrakete das Feld berührten. Als sie aufsetzte, durchlief ein leichtes Zittern das Gerät. Während der Landung war es auf der allgemeinen Funkverbindung totenstill gewesen. Und dann wurde das Schweigen gebrochen, als Dutzende Zuschauer vernehmlich die Luft ausstießen und aufatmeten.

»An alle Überwacher. Den Booster sichern«, befahl der Chef-Controller. »Wir müssen ihn verankern!«

Oben auf dem Instrumentenpaket löste eine einzelne Gestalt in einem Raumanzug die Gurte und kletterte am Booster herunter wie ein Kind, das in einem Abenteuerspielplatz herumturnte. Das war der Landepilot, der das Steuergerät bei sich hatte, mit dem er die Steuertriebwerke der Boosterrakete manuell betätigt hatte. Er ignorierte die »Weltraumaffen«, die damit zugange waren, das Raumfahrzeug zu sichern.

»Alles gesichert«, meldete der Chefüberwacher, nachdem Taue durch in die Gesteinsebene eingelassenen Ösen gezogen und gespannt worden waren. Kurz nach dieser Meldung schickten andere Gestalten sich an, das kleine Instrumentenpaket von den zwei großen Boosterstufen darunter zu trennen.