16
Tory spürte, wie Wut sich in ihr aufstaute. Sie fasste es einfach nicht, dass sie die Menschen so lange studiert und doch nicht die geringste Ahnung von ihnen hatten. Hatten sie aus der jahrhundertlangen Abhörtätigkeit denn gar nichts gelernt? Die Erde steckte tief im Sumpf einer Isolationspolitik, und der Mars diente mit Mühe und Not als Lebensraum für die 250 Millionen Menschen, die ihn derzeit besiedelten. Tory hatte sich in den letzten Wochen vor Sorge schier verzehrt, dass die Erde die armseligen hunderttausend Flüchtlinge der Far Horizons abweisen könnte! Was glaubte Faslorn wohl, wie die Erdbewohner reagieren würden, wenn sie erfuhren, dass er nur die Vorhut von zweiundzwanzigtausend weiteren Schiffen war?
Sie versuchte den letzten Rest an Selbstbeherrschung zu wahren. »Seid ihr denn völlig verblödet?«
»Ich hoffe doch nicht«, sagte der phelanische Kommandant. Wenn er den tödlichen Blick bemerkte, den sie ihm zuwarf, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Seine äußere Gelassenheit hatte dann auch die gewünschte Wirkung auf Tory. Mit jedem tiefen Atemzug wurde sie etwas ruhiger.
»Faslorn, nehmen Sie doch Vernunft an, verdammt noch mal! Die Erde kann keine drei Milliarden zusätzlicher Mäuler stopfen, selbst wenn sie das wollte. Dazu hat sie einfach nicht die Ressourcen. Und der Mars auch nicht. Es würde uns schon schwerfallen, die Besatzung nur eines Schiffs umzusiedeln — von der ganzen verdammten Flotte gar nicht erst zu reden. Wir würden alle verhungern!«
»Wir erkennen durchaus die Tragweite des Problems und wünschten auch, dass wir uns Ihnen nicht hätten aufdrängen müssen - aber es bleibt uns eben nichts anderes übrig.«
»Wir werden kämpfen, wenn Sie versuchen, uns auf den Leib zu rücken.«
Faslorn schaute sie unverwandt an. »Ich hoffe, dass es dazu nicht kommen wird. Die Far Horizons ist nur der Späher der Dritten Flotte. Wir genießen das Privileg, uns der Menschheit zu offenbaren, auf dass diejenigen, die uns folgen, unser Schicksal unter Beobachtung halten. Wenn friedliche Mittel versagen, sind sie bereit, andere einzusetzen.«
»Drohen Sie etwa mit Krieg?«
»Krieg ist gewiss eine Option«, bestätigte Faslorn. »Sie können sich nicht vorstellen, was für eine mächtige Waffe selbst ein einzelnes Lichtsegel sein kann. Wir haben mehrere Szenarien durchgespielt. Leider bietet uns keines dieser Szenarien die Möglichkeit, eine einheimische Spezies auf ihrem Territorium zu unterwerfen. Wir könnten die Menschheit wohl ausrotten, aber sie nicht unterwerfen.«
»Verdammt richtig!«, knurrte Tory. Im nächsten Moment wunderte sie sich über den plötzlichen Adrenalinschub. Es war nicht so sehr die Angst als vielmehr der Ruf zu den Waffen, der sie mobilisierte. Die Heißblütigkeit, die sie plötzlich überkam, war das Vermächtnis von tausend Generationen kriegerischer Vorfahren.
»Und wenn wir die Menschheit ausrotten, würden wir leider auch den größten Teil des Lebens auf den Welten auslöschen, die wir zu beerben trachten. Die Erde würde unsere Kolonie dann nicht mehr unterstützen. Es wäre ein Pyrrhussieg.« Faslorn gab einen Ton von sich, von dem Tory wusste, dass er die Entsprechung eines menschlichen Seufzers war.
»Wenn Ihre Leute uns abweisen, wären wir gezwungen, etwas viel Schlimmeres zu tun als Krieg zu führen.«
»Was könnte wohl schlimmer sein als Krieg?«, fragte Tory, deren Zorn plötzlich durch Neugier verdrängt wurde.
»Sie müssen wissen, Victoria Bronson, dass unser Stern doch kein Opfer der Sternenevolution wurde. Die Reaktion, die Tau Ceti zerstörte, wurde künstlich hervorgerufen. Es verhält sich nämlich so, dass wir Phelaner unseren Stern selbst zerstört haben.«
»Ihr habt euren eigenen Stern zerstört?«
Faslorn machte eine bejahende Geste. »Diejenigen, die die Nova-Reaktion auslösten, gehörten einer Splittergruppe an, die wir als »Usurpatoren bezeichnen. Ich will an dieser Stelle nicht versuchen, Ihnen ihre Beweggründe darzulegen, weil kein Mensch sie verstehen würde. Selbst wir, die wir außerhalb der sozialen Bezüge der Phelaner aufgewachsen sind, haben Schwierigkeiten, die Motive nachzuvollziehen, die schließlich zur Zerstörung von Ceti führten. Es genügt, wenn ich Ihnen sage, dass die Usurpatoren das Ziel verfolgten, einen Vorteil zu erringen, indem sie dem Rest unserer Spezies mit einer Waffe von extremer Zerstörungskraft drohten. Sie planten eine kleine Demonstration, um ihre Gegner von der Ernsthaftigkeit dieser Drohung zu überzeugen. Leider hat jemand sich verrechnet und unseren Stern so aus dem Gleichgewicht gebracht, dass der Schaden nicht mehr behoben werden konnte. Unsere Wissenschaftler vermochten die Reaktion zwar zu verzögern, aber nicht zu stoppen. Zweiundfünfzig Zyklen nach diesem Auslöser verwandelte unsere Sonne sich schließlich in eine Nova.«
»Und was geschah mit den Usurpatoren?«
»Sie müssten zurückbleiben und durften den Höhepunkt ihres Schaffens aus der Nähe beobachten.«
Tory schauderte. »Wie schrecklich!«
»Wir ziehen die Bezeichnung >Akt der Gerechtigkeit vor.«
»Sie werden natürlich verstehen, dass wir Sie nicht als Kolonisten akzeptieren werden, wenn diese Geschichte erst einmal publik wird. Leute, die ihren eigenen Stern sprengen, sind zu allem fähig.«
»Sie verstehen immer noch nicht«, erwiderte Faslorn. »Wenn diejenigen, welche die Dritte Flotte befehligen, den Eindruck haben, dass ihre Sache hoffnungslos sei, werden sie sich einen anderen Stern suchen und eine Nova-Reaktion im Innern von Sol auslösen.«
Tory klappte die Kinnlade herunter. Es dauerte einen Moment, bis sie die Fassung zurückerlangte. »Ihr würdet die Sonne zerstören?«
»Nur mit dem größten Widerwillen, kann ich Ihnen versichern.«
»Aber warum?«
»Wir brauchen eine Nova, die unsere Lichtsegel antreibt. Ohne einen solchen Antrieb wäre die Reise zwischen den Sternen eine Sache von Jahrtausenden statt von Jahrhunderten. Keines unsrer Schiffe würde eine so lange Reise überstehen. Die Dritte Flotte wäre von Leichen bevölkert, wenn sie den neuen Bestimmungsort erreicht. Sie sehen also, Victoria, dass ich im wahrsten Sinn des Wortes die Wahrheit sprach, als ich sagte, dass Sie der Menschheit helfen, wenn Sie uns helfen. Suchen Sie uns einen Platz zum Leben, und wir werden Ihre Spezies reich belohnen. Weisen Sie uns ab, ist Ihre Rasse verloren!«
Es dauerte eine ganze Weile, bis Tory die Flüche ausgingen, mit denen sie die zwei Phelaner belegte. Erst als sie sich zum dritten Mal wiederholte, begann sie sich abzuregen. Faslorn und Maratel ließen die ganzen Tiraden ungerührt über sich ergehen.
»Das ist also euer Plan?«, fragte Tory. Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. »Das ist alles, was ihr nach zwei Jahrhunderten auf die Beine gestellt habt?«
»Stimmt leider.«
»Es muss doch noch einen besseren Weg geben.«
»Wir alle haben unser Leben lang nach einem besseren Weg gesucht. Es gibt keinen.«
Tory strich sich eine vorwitzige Locke aus dem Gesicht und versuchte nachzudenken. Es gab Zeiten im Leben, da die Lage zu ernst war, als dass man sein Urteilsvermögen durch Gefühle hätte trüben lassen dürfen. Als sie noch ein Kind war, hatte sich in einer heimischen Kuppel ein Sprung gebildet. Von den Leuten, die einen kühlen Kopf bewahrten, hatten die meisten auch überlebt. Und diejenigen, die in Panik gerieten, waren umgekommen. Dieses Ereignis war im Vergleich zu der Situation, mit der sie nun konfrontiert wurde, trivial gewesen. Tory sperrte die in Aufruhr befindlichen Emotionen in ein Verlies im hintersten Winkel des Bewusstseins und strapazierte die grauen Zellen.
»Sehen Sie, ich kaufe Ihnen den Mist, den Sie hier verzapfen, sowieso nicht ab — aber unterstellen wir einmal, dass Sie die Wahrheit sagen. Wie kommen Sie überhaupt auf das schmale Brett, dass ihr damit durchkommen werdet? In sechs Jahren wird eure Flotte die Segel setzen, und jeder Besitzer eines Fernglases wird zweiundzwanzigtausend kleine Sonnen aufgehen sehen. Und dann ist auf der Erde der Teufel los!«
»Bis dahin müssen wir in Ihrer Gesellschaft eine Position erlangt haben, die es uns erlaubt, den Schock zu überstehen - genauso, wie wir damals den Schock der Nova abgeritten haben.«
»Und wie zum Teufel sollte man das wohl bewerkstelligen?«
»Wir haben festgestellt, dass Eigennutz die Triebfeder menschlichen Handelns ist. Wenn wir also akzeptiert werden sollen, brauchen wir einen starken Rückhalt unter den Menschen, der sich durch einen gemeinsamen Nenner definiert. Mit Ihrer Hilfe werden wir bestimmten mächtigen und einflussreichen Menschen demonstrieren, wie sie von unserer fortgeschrittenen Technologie profitieren können. Wenn man es nur richtig anstellt, werden wir genügend Verbündete haben, um den Sturm zu überstehen, wenn er schließlich hereinbricht.«
Tory stieß einen leisen Pfiff aus. »Das wäre aber ein kühnes Unterfangen.«
»Deshalb brauchen wir auch Ihre Hilfe. Ohne Sie haben wir keine Hoffnung auf Erfolg. Mit Ihnen haben wir zumindest eine gewisse Chance.«
Tory erwiderte zunächst nichts darauf. Ihre Gedanken jagten sich, und der Magen wollte sich umstülpen wie ein Krake. Sie hatte einen Geschmack nach Galle im Mund. Zu spät erkannte sie die Falle, die Faslorn ihr gestellt hatte. Es war ein Konstrukt von fast diabolischer Raffinesse - das sie außerdem in der Vermutung bestärkte, dass die Phelaner die Menschen noch besser kannten als die Menschen sich selbst.
Hätte nämlich ein Mensch einen so bizarren Plan ausgeheckt, dann hätte er sie höchstwahrscheinlich in ein fantasievolles Lügengespinst einzuwickeln versucht. Indem er ihr jedoch in schonungsloser Offenheit die Wahrheit sagte, hatte Faslorn sie enger an sich und seine Sache gefesselt, als wenn er sie beide aneinandergekettet hätte. Sie konnte die Erde zwar alarmieren, aber welchen Sinn hätte das gehabt? Die Nachricht würde allenfalls eine Panik auslösen. Der Asylantrag der Phelaner würde rundweg abgelehnt, und nach sechs Jahren würde Sol nach dem Vorbild von Tau Ceti zur Nova werden.
Nein, wenn sie die Zerstörung der Sonne vermeiden wollte, würde sie Faslorns Geheimnis bewahren müssen. Doch daraus ergaben sich neue Komplikationen. Wenn sie das Geheimnis bewahrte, würde die Sicherheit der Menschheit von ihr allein abhängen. Sie würde in den nächsten Jahren jedes Wort auf die Goldwaage legen und sich jede Handlung zweimal überlegen müssen. Schon ein einziger Ausrutscher konnte alles zunichte machen. Die Last der Verantwortung würde sie schier erdrücken. War sie dem überhaupt gewachsen? Hatte sie die innere Stärke, dem Druck standzuhalten?
Und selbst wenn sie Erfolg hatte, würde das zugleich auch ihre Niederlage besiegeln. Wenn die Wahrheit über die Dritte Flotte nämlich ans Licht kam, wäre sie als Verräterin an ihrer Spezies gebrandmarkt: eine Mata Hari, die noch dazu andere zum Verrat angestiftet hatte. Sie fragte sich, welche Strafe ihr an diesem unvermeidlichen schwarzen Tag wohl zugemessen würde. Würde sie eingesperrt oder gleich von einer aufgebrachten Menge gelyncht werden? Das Schlimmste war jedoch die Vorstellung, dass man sie hassen würde, so lange die menschliche Rasse überlebte. Sie würde das Wissen um den Dienst, den sie ihren Leuten erwiesen hatte, mit ins Grab nehmen.
Sie verspürte den plötzlichen Drang, Faslorn zu raten, er möge sich zum Teufel scheren. Doch sie unterdrückte ihn. Es wäre zwar enorm befriedigend, aber auch kontraproduktiv gewesen. Nein, sie hatte in dieser Angelegenheit keine Wahl. Sie musste die ätzende innere Leere ignorieren und mit diesen aufdringlichen Ungeheuern kollaborieren — zumindest so lange, bis sie einen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden hatte.
»Also gut, Faslorn. Ich werde euer Geheimnis notgedrungen für mich behalten.«
»Danke, Victoria. Mit Ihrer Hilfe werden wir vielleicht Erfolg haben.«
Faslorns falsche Aufrichtigkeit war zu viel für sie. Sie hatte nun den Punkt erreicht, wo sie die Schwäche des Fleischs nicht mehr ignorieren konnte. Das verängstigte kleine Mädchen, das im tiefsten Innern eingesperrt war, musste endlich herausgelassen werden. Tory öffnete die verschlossene Tür in ihrer Psyche und ließ den Gefühlen freien Lauf. Sie sank auf den Teppichboden des Decks und wurde von einem Weinkrampf überwältigt. Kein Außerirdischer regte sich, um sie zu trösten. Es gab nichts, was sie tun konnten.
Ein paar Stunden später führte Maratel sie zum vorderen Ende des Sternenschiffs zurück. Sie setzten sich wieder in die kleine Kapsel, Nase dicht an Schnauze. Und sie wurde wieder von diesem Gestank nach Zimt und Farbverdünner überwältigt. Nur dass Tory diesmal keine Sympathien für Maratel verspürte wie bei der Hinreise. Sie war keine drollig aussehende Freundin mehr. Sie war ihr nun genauso fremd wie Faslorn geworden - ein Feind, mit dem Tory gezwungenermaßen kollaborieren würde.
»Sie sollten nicht zu schlecht von uns denken«, brach Maratel nach einer Weile das Schweigen. »Sie würden an unserer Stelle das Gleiche tun.«
»Tut mir leid, aber das kann ich nicht akzeptieren.«
»Es ist nicht Ihr Verstand, der spricht, Tory. Es ist Ihr Herz. Ich könnte Ihnen Tausende Beispiele nennen, wo eine Gruppe von Menschen einer anderen Gruppe noch viel Schlimmeres angetan hat.«
»Das ist unsere Sache, nicht Ihre.«
»Stimmt. Ich wollte damit auch nur sagen, dass wir Ihrer Rasse keinen Schaden zufügen wollen. Wir müssen jedoch unser eigenes Überleben gewährleisten.«
Tory ließ sich das durch den Kopf gehen und nickte dann. »Rein verstandesmäßig vermag ich das nachzuvollziehen. Aber ich kann mir nicht helfen — ich hasse euch trotzdem deswegen.«
»Sie müssen Ihren Hass überwinden. Wir verlangen schließlich nicht von Ihnen, dass Sie uns lieben. Wenn wir Erfolg haben wollen, müssen wir gut zusammenarbeiten. Wenn Sie uns hassen, werden Sie kein guter Fürsprecher sein.«
»Aber ihr werdet mir wenigstens ein paar Tage geben, um mich an meine Rolle als euer Knecht zu gewöhnen, oder?«
»Das sind wir Ihnen schuldig. Was werden Sie aber Ihren Gefährten erzählen? Sie werden die Veränderung bemerken, die mit Ihnen vorgegangen ist.«
»Ich werde ihnen sagen, dass ich mich nicht gut fühle.«
»Dass Sie krank sind?«, sagte Maratel nachdenklich. »Wird Dr. Claridge Sie dann nicht untersuchen und feststellen, dass es Ihnen doch gut geht?«
»Haben Sie denn eine bessere Lösung?«
»Vielleicht können wir Ihren Zustand damit erklären, dass es Ihnen immer noch nicht gelungen ist, die Funktionsfähigkeit Ihres Implantats wiederherzustellen.«
Tory nickte nach kurzer Überlegung. »Das wäre eine Möglichkeit. Der Verlust der Synchronisation ruft beim Opfer häufig Selbstmordgedanken hervor. Wir werden das als Begründung vorschieben, weshalb ich jedem den Kopf abreißen will.«
»Würde es denn helfen, wenn wir Ihr Implantat jetzt aktivieren?«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie die Schwierigkeiten bei der Herstellung einer Verbindung nur vorgetäuscht haben?«
»Das erschien uns das Klügste. Wenn Sie nämlich mit Ihrem Schiff in Verbindung gestanden hätten, als Faslorn Ihnen die Neuigkeit überbrachte, hätten Sie sie an die Computer der Austria übertragen. Dann wäre damit zu rechnen gewesen, dass jemand anders sich die Aufzeichnung ansah.«
Tory musterte Maratel und dachte daran, wie lange sie ohne ihr Implantat hatte ausharren müssen. Sie hatten die ganze Zeit überhaupt nicht die Absicht gehabt, die Verbindung mit dem Bordcomputer wiederherzustellen. Nach dem, was sie die ganze Zeit durchgemacht hatte, schien sie sich jetzt über eine vergleichsweise Petitesse künstlich aufzuregen. »Die ... machen ... mich ... tot!«
Zwei Augen wie aus Obsidian starrten sie an. »Falls wir bei der kommenden Unternehmung Erfolg haben sollten, Tory Bronson, halte ich es für wahrscheinlicher, dass Sie von den Menschen heilig gesprochen werden!«
Als Maratel Tory wieder in der Unterkunft der Menschen ablieferte, hatte die Schlafperiode bereits begonnen, und sie fand den Gemeinschaftsbereich dunkel und verlassen vor. Tory hatte bei der Unterredung mit Faslorn jedes Zeitgefühl verloren. Obwohl sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, war sie nicht hungrig. Sie fragte sich, ob es ihr nach diesen Ereignissen nicht für immer den Appetit verschlagen hätte. Doch im Moment war sie einfach nur hundemüde. Sie hatte jetzt nur noch einen Gedanken: ins Bett zu fallen und eine Woche lang zu schlafen. Vielleicht wäre dieser Albtraum zu Ende, wenn sie wieder aufwachte.
Als sie sich umdrehte und in ihr Apartment gehen wollte, verspürte sie wieder eine Regung im tiefsten Innern — auf einer kreatürlichen Ebene unterhalb des bewussten Gedankens. Sie zögerte für einen Moment, als sie mit einem Impuls rang, der unter diesen Umständen nicht nur dumm, sondern auch potenziell gefährlich war.
Wider besseres Wissen ging sie zur Tür. Es war aber nicht die zu ihrer Unterkunft, sondern zu Garth' Quartier. Drinnen schlüpfte sie aus der Kleidung und lauschte dem leisen Geräusch seiner gleichmäßigen Atemzüge. Es gelang ihr, zu ihm ins Bett zu steigen und sich an ihn zu schmiegen, bevor er sich rührte. Er war sofort wach. »Was zum Teufel?«, entfuhr es ihm.
»Halt mich fest«, befahl sie ihm.
Er griff instinktiv nach ihr und schlang die Arme um sie. Wenig später streichelten sanfte Hände ihren nackten Rücken.
»Was ist denn los?«, wisperte er.
»Mir ist heute Abend nach Gesellschaft.«
»Also, was ist los?«, fragte er. Die Schläfrigkeit in seiner Stimme war wie weggeblasen.
»Ich erkläre es dir morgen. Jetzt halte mich einfach nur fest.«
»Na gut.«
Eine Zeit lang lagen sie eng umschlungen da, dann machte Garth sich auf eine einladende Geste von Tory daran, ihr mit dem ältesten aller Mittel Trost zu spenden.
Faslorn und Maratel studierten die Darstellung sorgfältig. Die Restlicht-Sensoren funktionierten perfekt und boten ein Bild, das — wenn Menschen es betrachtet hätten — als pornographisch indiziert worden wäre.
»Glaubst du, dass sie es ihm sagen wird?«
Maratel antwortete nicht sofort. Sie hatte Tory gründlicher studiert, als die meisten Wesen ihre Nachkommenschaft studierten. Die Komplexität der menschlichen Psyche war für sie ehrfurchtgebietend und sogar furchterregend. Tory war intelligent, nach menschlichen Standards vielleicht sogar ein Genie. Und wenn sie mit ihrem Implantat verbunden war, wurde ihr Intellekt auf ein weit überdurchschnittliches Niveau katapultiert. Dennoch war ein Mensch mit einem direkten Bewusstseinsinterface zu einem Computer auch nur ein Mensch — und menschliche Handlungen wurden durch unkalkulierbare Gefühle motiviert. Tory könnte genauso gut morgen in den Gemeinschaftsbereich stürmen und ihr Geheimnis ausplaudern. Oder sie könnte einen günstigen Zeitpunkt abwarten, eine Kooperation mit ihnen vortäuschen und dann eine Nachricht zur Erde senden, sobald die Austria ihr Schiff verlassen hatte. Oder sie würde wirklich mit ihnen zusammenarbeiten.
»Unbekannt«, war Maratels Antwort auf Faslorns Frage.
»Beobachte sie sorgfältig«, befahl ihr Kommandant. »Wir dürfen kein Risiko eingehen. Wenn du auch nur den Verdacht hast, dass sie den Versuch unternimmt, die Information durch subtile Signale weiterzugeben, wechseln wir zu Plan B.«
»Das wäre aber ein Fehler«, sagte Maratel. »Wenn die Expeditionsteilnehmer plötzlich durch einen Unfall ums Leben kommen, würde das auf der Erde einen starken Verdacht erregen. Es ist zweifelhaft, ob wir den Eindruck jemals wieder korrigieren könnten, der bei den menschlichen Massen entstehen würde.«
»Fehler hin oder her, es wäre notwendig. Die Sicherheit der Rasse darf nicht aufs Spiel gesetzt werden.«
Maratel antwortete nicht. Das war auch nicht nötig. Faslorns Aussagen waren mehr als nur ein Befehl — sie waren Lehrsätze, die jedem phelanischen Kind eingeprägt wurden, bevor es noch richtig sprechen konnte. Die Spezies war schon einmal von Auslöschung bedroht gewesen. Einer solchen Gefahr durfte sie sich nie wieder aussetzen.