6
Professor Elias Guttieriz hatte die Vorlesungen für heute beendet. Es war ihm schwer gefallen, sich auf die Dialekte der alten Phönizier und ihre Auswirkungen auf die Sprachmuster von Nordafrika zu konzentrieren, wo ihm so viele andere Gedanken durch den Kopf gingen. Dennoch hatte Guttieriz nur einmal den Faden verloren, während er die vorbereitete Vorlesung abspulte. Er betrachtete das als eine gute Leistung. Auf halbem Weg zu seinem Büro wurde er von einem aufgeregten wissenschaftlichen Mitarbeiter aus der Verwaltung überholt.
»Sir, der Kanzler wünscht Sie sofort in seinem Büro zu sehen!«, rief der Student atemlos.
Guttieriz, der schon mit dieser Vorladung gerechnet hatte, nickte bloß. Er bedeutete dem Studenten, voranzugehen, und beide setzten sich in der gleitenden Gangart in Bewegung, die auf dem Mond die effizienteste Fortbewegung darstellte. Guttieriz war ein kleiner Mann mit schwarzem Haar, einem akkurat gestutzten Schnurrbart und einem leichten Bauchansatz. Er wusste, dass sein Aussehen alles andere als beeindruckend war. Aber es genügte ihm, dass ein paar maßgebliche Studien zur fundamentalen Struktur der menschlichen Sprache ihm eine Reputation als bester Linguist des Sonnensystems eingetragen hatten.
»Ach, Eli!«, rief der Kanzler, als Guttieriz sein Büro betrat. »Nehmen Sie doch Platz. Möchten Sie etwas zu trinken?«
Guttieriz ging zur Couch des Kanzlers. »Whisky, wenn Sie einen haben, Hai.«
Der Kanzler goss eine bernsteinfarbene Flüssigkeit in zwei langstielige Niedergravitationsgläser und reichte eins davon Guttieriz. Dann setzte er sich auf die andere Seite der Couch.
»Haben Sie schon eine Entscheidung getroffen?«
»Noch nicht.«
»Die Zeit wird knapp.«
»Wie soll ich denn eine Entscheidung treffen, wenn mir noch nicht einmal eine formelle Einladung zugegangen ist?«
»Man hat Sie doch gefragt, ob Sie damit einverstanden wären.«
»Das ist aber nicht das Gleiche wie eine ordentliche Einladung.«
Der Kanzler zog einen Datenträger aus seiner Jackentasche. »Sie werden Ihre Einladung heute Nachmittag bekommen. Ich habe das soeben von Jorgensen erhalten. Es sagt, der Ausschuss habe die Qualifikation einiger hervorragender Linguisten geprüft und sei zu der Auffassung gelangt, dass Sie am besten für eine Begegnung mit diesen Aliens qualifiziert seien.«
»Das hätte ich ihnen auch gleich sagen können.«
»Wie wird Ihre Antwort also lauten?«
Elias zuckte die Achseln. Das Anheben der Schultern imitierte die Bewegung, mit der man aus einem Raumanzug stieg. Für einen Mondbewohner bedeutete diese spezielle Geste den Wunsch, dem Gefühl der Beklemmung zu entrinnen, wenn man in einem schrecklichen Dilemma steckte.
»Ehrlich gesagt, Hai, es gefällt mir nicht, Gegenstand dieses ... dieses ... Kuhhandels zu sein! Wenn sie mich haben wollen, wieso haben sie mich nicht einfach gefragt? Ich werde mich doch nicht wie eine preisgekrönte Mastsau unten in den Farm-Tunnels präsentieren. Offen gesagt spiele ich mit dem Gedanken, ihnen einen Korb zu geben.«
»Das dürfen Sie nicht!«
»Und wieso nicht? Weil der Präsident es nicht goutieren wird?«
»Genau deshalb.«
»Dann kann der Präsident meinetwegen ohne Raumanzug aus der nächsten Luftschleuse steigen.«
Der Kanzler stieß einen Seufzer aus. Eli Guttieriz stand nicht umsonst im Ruf, etwas schwierig zu sein. Aber der Mann war ein Genie in seinem Bereich. »Schauen Sie, Eli. Diese Sache mit den Aliens ist von großer Bedeutung für die gesamte Menschheit. Diese Wesen haben eine Distanz von 12 Lichtjahren im Weltraum zurückgelegt. Stellen Sie sich nur ihren Wissensvorsprung uns gegenüber vor.«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht.«
»Wirklich? Welche Branchen werden durch ihr Wissen obsolet? Wer wird von ihrem Erscheinen profitieren, und wer wird verlieren? Wie wird sich das auf uns hier in Luna auswirken?«
»Was zum Teufel interessiert mich das? Ich bin ein Gelehrter.«
»Reden wir nicht um den heißen Brei herum, Eli. Wir beide wissen doch, dass Sie ein weiches Herz haben, wenn es um Ihre Wahl-Welt geht.«
»Ein weiches Herz vielleicht, aber ich bin nicht weich in der Birne. Es gefällt mir hier, weil die Leute hier bessere Manieren haben als daheim in Liverpool. Obwohl ich den englischen Regen vermisse.«
»Die Marsianer haben sich bereits zwei Plätze gesichert, und ein Erdling wird die Expedition leiten. Sie sind Lunas letzte Hoffnung. Wenn Sie das Angebot ausschlagen, geht es an Hayward Wilson.«
Guttieriz, der seine Machtposition genossen hatte, sah sich plötzlich in Bedrängnis. »Diese Witzfigur von einem Gelehrten? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Hai!«
Der Kanzler zuckte die Achseln. »Er hat bei der Gesundheitsprüfung des Ausschusses recht gut abgeschnitten.«
»Vor allem der Muskel zwischen seinen Ohren, kann ich mir vorstellen.«
Der Gesichtsausdruck des Kanzlers verdüsterte sich. »Ich brauche Ihre Antwort, Professor Guttieriz. Werden Sie das Angebot nun annehmen oder nicht?«
»Sie verlangen von mir, dass ich diese Demütigung ignoriere und es für das gute alte Luna tue?«
»Scheiß auf die Demütigung! Denken Sie lieber daran, was das für Ihre Reputation bedeutet. Und dem Ruf dieser Universität wird es auch nicht schaden.«
Guttieriz kippte den Whisky hinunter und stellte das Glas auf dem Tisch ab. »Wenn die Einladung heute Nachmittag an mich ergeht, werde ich meine Zusage am frühen Abend geben.«
»Ausgezeichnet«, sagte der Kanzler. »Ich werde veranlassen, dass ein Transportmittel bereitgestellt wird. Vielen Dank, Eli. Ich hatte schon befürchtet, dass wir Sie für die Marine verpflichten und Ihnen den Einsatz befehlen müssten.«
Eli lachte. Vor dem geistigen Auge sah er sich mit einer Ausgabe von Hamads Enzyklopädie der Phoneme in die Schlacht ziehen.
»Was sagen Sie nun zu Ihrem Schiff?«, fragte Van Zandt Kit Claridge. Er, Kit und Tory saßen in Phobos' bester — und einziger — Bar. Die Arbeitsgruppen hatten die Montage der Korvette auf dem Starhopper-Booster an diesem Nachmittag abgeschlossen, und die drei hatten dann ihre zukünftige Heimat besichtigt.
»Beeindruckend«, erwiderte die Ärztin.
»Und was ist mit Ihnen, Tory? Wieder ein ganz normaler Tag im Büro?«
»Jeder Tag, an dem ich mal nicht am Computer sitze, ist ein guter Tag.« Tory saß seitlich in einem Separee, während ihre beiden Schiffskameraden ihr gegenübersaßen. Sie hatte am Tag zuvor eine besonders lange Schicht eingelegt und war deshalb ziemlich schlapp. Sie hatte bei der Besichtigung des Schiffs ständig gegähnt.
»Hat man schon etwas von unserem vierten Besatzungsmitglied gehört?«, fragte Kit.
»Der Ausschuss ist endlich in die Pötte gekommen. Sie haben Elias Guttieriz als vierten Mann für unseren kleinen Haufen ausgewählt.«
»Und hat er auch schon zugesagt?«
Garth nickte. »Er müsste Ende nächster Woche hier eintreffen. Am darauffolgenden Tag werden wir mit dem Trainingsprogramm für die Besatzung beginnen.«
»Steht es denn schon fest, dass kein fünfter Platz mehr eingerichtet wird?«, fragte Tory.
»Ich habe sie davon überzeugt, dass das keine weise Entscheidung wäre. Ich weiß zwar, dass die Berechnungen noch Platz für ein weiteres Besatzungsmitglied lassen, aber man kann eine solche Reise doch nicht ohne eine Sicherheitsmarge antreten, verdammt noch mal. Stellt euch nur mal vor, unser Proviant würde einen Monat vor der Rückkehr zur Neige gehen.«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Kit cool. »Der Donner-Gruppe hat das auch nichts ausgemacht.«
»Wem?«
»Schon gut. War nur ein schlechter Scherz.«
Tory, die die Augenlider auf >Halbmast< gesetzt hatte, während sie diesem Zwischenspiel zuhörte, leitete das Stichwort >Donner< an ihr Implantat weiter. Quittiert wurde die Anfrage mit einer Geschichte des Verwaltungsbezirks Colorado des Nordamerikanischen Direktorats und der Geschichte vom Donner Pass. Kit hatte recht; es war ein sehr schlechter Scherz. Sie setzte sich auf und leerte ihre Schnabeltasse mit einem leisen Schlürfen. »Und Tschüss!«
»Wohin willst du denn?«, fragte Garth.
»Wieder an die Arbeit. Habe noch jede Menge zu tun!«
»Zum Beispiel?«
Tory führte die Subroutinen auf, die sie gerade entstörte.
»Ich dachte, Vance Newburgh hätte das schon geklärt.«
»Hat er auch. Ich führe nur eine unabhängige Analyse durch.«
»Haben Sie denn Grund, an der Qualität seiner Arbeit zu zweifeln?«, fragte Garth. Plötzlich war er wieder ernst.
»Nein, natürlich nicht. Vance ist einer der besten, die wir haben.«
»Haben Sie schon irgendwelche Fehler gefunden?«
»Bisher nicht.«
»Wozu dann die nochmalige Kontrolle von Newburghs Ergebnissen?«
»Weil ich diejenige bin, die in diesem Schiff sein wird, nicht Vance.«
Garth bedeutete ihr, sich zu setzen. »Wir müssen reden. Und Sie hören auch zu, Kit. Wir müssen ein paar grundsätzliche Dinge klären.«
Tory setzte sich. Sie fühlte sich wieder wie ein kleines Mädchen, das eine Standpauke von ihrem Vater bekam. Dies war offensichtlich einer der Anlässe, bei denen Van Zandt das Bedürfnis verspürte, den Vorgesetzten hervorzukehren.
»Schaut, Leute, wir arbeiten alle hart, um den Start über die Bühne zu bringen. Das ist auch gut so. Aber es ist nicht gut, wenn wir uns dabei verschleißen. Tori, wie viel Schlaf haben Sie letzte Nacht bekommen?«
Tory sagte es ihm.
Er fluchte leise. »Sie gehen heute Abend nicht mehr ins Büro. Ich möchte, dass Sie nach Hause gehen und acht Stunden am Stück schlafen. Doc, können Sie ihr etwas geben?«
Kit griff in ihre Medizintasche und holte eine kleine weiße Pille heraus. »Hier, nehmen Sie das, wenn Sie daheim sind. Es wird Sie entspannen.«
Tory steckte die Pille ein, aber nicht ohne Van Zandt noch einen bösen Blick zuzuwerfen.
Er fuhr ohne Unterbrechung fort. Falls er ihren Blick sah, ignorierte er ihn geflissentlich. »Angenommen, Sie finden einen Fehler in Newburghs Arbeit und beheben ihn. Wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass Sie einen absolut perfekten Programmabschnitt ruiniert haben?«
»Ich weiß nicht.«
»Achtzig Prozent - gemäß den Studien zur Erschöpfung, die wir in der Marine durchgeführt haben. Deshalb will ich, dass Sie bei der Arbeit ausgeruht sind. Das könnte nämlich den Unterschied zwischen einer erfolgreichen Mission und dem Scheitern bedeuten.«
»In Ordnung, ich werde die Nacht durchschlafen.«
»Sie werden noch mehr tun. Wann haben Sie Ihre Familie zum letzten Mal gesehen?«
»Ich weiß nicht. Irgendwann letztes Jahr.«
»Wenn jemand zu einer dreijährigen Mission aufbricht, muss er vorher sein Leben in Ordnung bringen. Andernfalls macht man sich Gedanken wegen der ungeklärten Dinge zu Hause und konzentriert sich nicht auf seinen Job. Ich möchte, dass Sie innerhalb der nächsten zweiundsiebzig Stunden zum Mars fliegen. Es ist mir egal, was Sie dort tun, aber vermeiden Sie nach Möglichkeit alle Gedanken an diesen verdammten Booster und das Steuerprogramm. Melden Sie sich am Zweiundzwanzigsten zurück. Das ist der Tag, an dem Guttieriz eintrifft. Ich möchte, dass Sie in alter Frische zurückkehren und bereit sind, sich den Hintern abzuarbeiten.«
»Was ist mit den ganzen Sachen, die ich noch auf dem Schreibtisch liegen habe?«
»Übergeben Sie das an Newburgh und die Programmierer, und dann vergessen Sie uns.«
»Aber ...«
»Das ist ein Befehl, Chefingenieur.«
»Aye, Aye, Captain.«
»Gut. Und nun bleiben Sie brav sitzen, während ich noch einen Drink bestelle. Wir sind schließlich hier, um die Montage der Austria zu feiern. Kit, möchten Sie auch noch einen?«
»Aye, Aye, Captain«, sagte die ältere Frau in gespielter Demut.
Bald amüsierten die drei sich über eine von Van Zandts Schoten, und Tory spürte, wie die Last von ihren Schultern abfiel. Vielleicht wusste der Alte - aber nannte man den Kapitän heute überhaupt noch Alter? — doch, was er tat.
Tory hörte das Blut in den Ohren rauschen, als sie die Flanke des Bergs erklomm. Der stoßweise Atem wurde vom Surren des auf Volllast laufenden Ventilators untermalt. Erbsengroße Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, tropften in die Augenbrauen und wurden schließlich vom Kopfband des Helms aufgesogen. Ohne dieses notwendige Accessoire hätte sie längst nichts mehr gesehen.
Sie stapfte die letzten paar Meter zu der flachen Stelle, die sie seit über einer Stunde anvisiert hatte. Als sie sie erreichte, drehte sie sich um und schaute bergab auf Ben Tallen, der den Ausrüstungsschlitten zog. Ihr Blick folgte der mäandernden Spur ihres Aufstiegs im ockerfarbenen Staub bis zum Fluchtpunkt und dann ganz nach unten bis zum gemieteten Mars-Rover, den sie am Fuß des Bergs geparkt hatten. Das große Fahrzeug wirkte von ihrem Standort wie ein Spielzeugauto.
»Wie geht's, Schnapsnase?«
»Alles klar, Vogelscheuche!«, kam die atemlose Antwort.
Sie wartete, bis Ben zu ihr aufgeschlossen hatte, bevor sie das Zugseil hinter ihm ergriff und den Schlitten auf die ebene Fläche zog, die vom dünnen Marswind planiert worden war. In stummer Übereinkunft plumpsten die beiden auf das große Bündel, das auf dem Schlitten befestigt war und verschnauften erst einmal. Tory ließ den Blick über das spektakuläre Panorama schweifen.
Im Osten erhob sich Olympus Mons — sein Fuß war hinter dem stark gekrümmten Horizont verborgen. Nur das obere Drittel des Vulkanschildes war zu sehen und zeichnete sich gegen den fast schwarzen Himmel ab. Der Berg, auf dem Tory saß, war ein kleiner Vulkan am Rand der Ebene der Amazonen. Sie befanden sich ungefähr zwanzig Kilometer unterhalb des Gipfels von Olympus, sodass sie die Caldera natürlich nicht sahen. Doch bei angestrengtem Hinschauen erkannte man zumindest die senkrechte Nadel des Aerie.
Unter ihnen und um sie herum erstreckte sich die rote Oberfläche des wüstenartigen Mars-Hochlands. Es war Sommer in dieser Region, was bedeutete, dass der Wind nur schwach wehte und der Staubflug minimal war. Die Sicht war in der dünnen Atmosphäre fast so gut wie auf Luna, wobei die Details der Landschaft in der Ferne nur leicht verschwammen — und es fehlte natürlich das Blau, das für die Erdatmosphäre charakteristisch ist.
»Wir sollten uns die Füße vertreten, damit wir keinen Wadenkrampf bekommen«, sagte Ben, nachdem sie sich fünf Minuten lang ausgeruht hatten.
»Gut«, erwiderte sie ohne allzu große Begeisterung. Als die Gelenke im Anzug knackten, rief sie sich in Erinnerung, dass dieser Ausflug in die Wildnis ihre Idee gewesen war.
Gemeinsam zogen sie das Druckzelt vom Schlitten und entfalteten es. Nach ein paar Versuchen hatten sie es so ausgebreitet, dass keine Falten mehr im schweren Zeltboden waren. Dann verankerten Tory und Ben — wobei sie in entgegengesetzte Richtungen gingen - das Zelt im Abstand von zwanzig Grad am Umfang, indem sie Heringe tief in den bröckeligen Boden trieben. Schließlich schloss Ben die Sauerstoffversorgung an und betätigte einen Schalter. Das Zelt blies sich langsam auf.
Nach zehn Minuten hatte das Zelt sich zu einem silberfarbenen Iglu aufgeplustert, das an seiner Vertäuung zerrte. Ben montierte das Gestänge für die Versteifung des kurzen Luftschleusentunnels, während Tory den Proviant und die anderen Vorräte vom Schlitten ablud. Sie stapelte die Kisten in der Luftschleuse, kroch dann selbst hinein und versiegelte die äußere Zeltklappe hinter sich. Anschließend öffnete sie das Ventil für die Luftzufuhr aus dem Hauptzelt. Sie schob die Vorräte hinein und folgte nach.
Drinnen schälte Tory sich aus dem Anzug und warf ihn auf den Boden. Sie versiegelte die innere Luftschleusenklappe wieder und bedeutete Ben, dass er nun hereinkommen könne. Er holte die chemische Toilette vom Schlitten und wiederholte Torys Übung mit der Luftschleuse. Sie entsiegelte die innere Klappe, zog die Toilette herein und schob sie an ihren Platz hinter dem Sichtschutzvorhang. Dann drehte sie sich um und half Ben, sich seines Anzugs zu entledigen. Das war ein hartes Stück Arbeit für die beiden, zumal die Bewegungsfreiheit durch die ganzen Vorräte im Zelt eingeschränkt wurde. Sie brauchten dann noch einmal zwanzig Minuten, um alles so weit zu sortieren, dass zumindest halbwegs Ordnung herrschte. Ben war damit beschäftigt, die elektrisch beheizten Schlafsäcke zu entrollen, während Tory zwei Fertigmenüs in die Mikrowelle schob.
»Und war es den Aufstieg wert?«, fragte Ben zehn Minuten später, während er auf dem zähen Hähnchenschenkel herumkaute, der laut Verpackung in Currysauce schwimmen sollte.
»Findest du nicht? Wo sonst hätte man eine so spektakuläre Aussicht?«, fragte sie und deutete auf die untergehende Sonne. Sie hatte das Zelt auf volle Transparenz geschaltet, sodass sie nach draußen schauen konnten. Wegen des Staubs in der Luft waren Marssonnenuntergänge immer ein fantastischer Anblick.
Er lächelte. »Zu viel Rot, wenn du mich fragst.«
»Das Gleiche würde ich wohl zum Blau und Grün sagen, wenn ich einmal auf der Erde wäre.«
»Möchtest du darauf wetten?«, fragte er. Darüber hatten sie früher schon gestritten. Ben behauptete, dass diese Liebe zu Bäumen und Wasser der Menschheit in den Genen läge, während es für Tory nur eine antrainierte Präferenz war. »Wie war dein Besuch zu Hause?«
»Nicht das, was ich mir erhofft hatte«, sagte Tory. Ihre Eltern hatten sich zwar gefreut, sie zu sehen, aber es hatte keine zwanzig Minuten gedauert, bis ihr Vater sie inquisitorisch gefragt hatte, wo sie die nächsten drei langen Jahre abbleiben würde. Sie hatte ihm die Geschichte aufgetischt, dass sie einen Dreijahres-Vertrag bei einer Asteroiden-Bergbaugesellschaft abgeschlossen hätte und sofort nach dem Start von Starhopper bei der Firma anfangen würde. Ihr Vater hatte sie rücksichtslos genannt, weil sie es ihnen nicht schon früher gesagt hätte, während ihre Mutter und Schwester ein großes Trara um sie gemacht hatten.
Sie war drei Tage bei ihren Eltern geblieben und hatte dann Ben angerufen und ihn gefragt, ob er einen Campingurlaub machen wollte. Es hatte danach noch zwei Tage gedauert, um ein Transportmittel zu finden und die Ausrüstung zu mieten. Allerdings war >Camping< auf dem Mars kaum mit der gleichnamigen Freizeitbeschäftigung auf der Erde zu vergleichen.
Nach dem Essen lagen die beiden auf die Ellbogen gestützt auf dem Boden und schauten sich an. Ben betrachtete sie mit ernstem Blick. »Was ist?«, fragte sie, als sie seinen Blick bemerkte.
»Du bist noch schöner, wenn du rot bist.«
Sie lachte und schaute flüchtig an sich entlang. Der Marsstaub hatte die gleiche Konsistenz wie Talkumpuder. Er überzog die Anzüge und das Innere des Zelts mit einer feinen ockerfarbenen Schicht, und trotz aller Vermeidungsstrategien waren sie beide auch von Kopf bis Fuß bestäubt.
»Findest du?«, fragte sie.
»Ja. Mir ist auch aufgefallen, wie sehr du dich seit der Universität verändert hast.«
»Inwiefern?«, fragte sie ihn — und sich, worauf er überhaupt hinauswollte.
»Du bist reifer geworden. Du scheinst dir weniger Gedanken darüber zu machen, was die Leute über dich denken.«
»Ha!«, sagte sie. »Ich bin immer noch am Boden zerstört, wenn jemand auch nur die geringste Kritik an meiner Arbeit äußert.«
»Na ja, auf jeden Fall merkt man es dir nicht mehr sofort an. Ich erinnere mich noch an eine Zeit, als du es allen unbedingt recht machen wolltest.«
»Das sagt gerade der Richtige«, sagte sie. »Wer war es denn, der partout diesen neuen Taschencomputer haben musste, weil Bill Arnes sich auch einen gekauft hatte?«
»Das ist nicht das Gleiche«, sagte er mit einem Grinsen. »Ich war schlicht und einfach neidisch. Es war mir egal, was Arnes von mir hielt — ich wollte nur nicht, dass er einen besseren Computer hatte.«
»Na gut, ich will das mal so stehen lassen.«
Die Sonnenuntergänge waren in der dünnen Marsatmosphäre ebenso spektakulär wie kurz. Als es so dunkel geworden war, dass sie sich kaum noch sahen, richtete Ben sich auf den Knien auf und schaltete die Glühlampe am Zelthimmel ein. Gleichzeitig schaltete Tory das Zelt wieder auf »Silber Intransparent«. Sie mussten nachts wegen des Wärmeverlusts aufpassen. Bei ihren Verrichtungen trafen sie sich in der Mitte des Zelts, wo Ben sie in die Arme schloss und küsste.
»Wer ist Gloria?«, fragte Tory, als ihre Lippen sich wieder voneinander lösten.
Tallen blinzelte und schwieg für eine Weile. »Wo hast du von ihr gehört?«
»Erinnerst du dich an Hideki Sato von der Schule?«
Ben nickte.
»Das Projekt hat ihn letzte Woche als Programmierer eingestellt. Wir sprachen gerade über Programmänderungen, als ich erwähnte, dass du wieder auf dem Mars wärst. Er hat Grüße für dich ausgerichtet und mich dann gefragt, wie es zwischen dir und Gloria liefe. Also, wer ist Gloria?«
»Jemand, den ich auf der Erde kennengelernt habe. Ihr Vater sitzt im Vorstand von Tramton Industries.«
»Ach so, sie ist Tochter von Beruf!«
Er zuckte die Achseln. »Einen negativen Schufaeintrag hat sie jedenfalls nicht.«
»Ist es etwas Ernstes zwischen euch beiden?«
»Wir haben zwar schon vom Heiraten gesprochen, aber noch keine konkreten Pläne. Überhaupt bin ich mir nicht mehr sicher, ob das so eine gute Idee wäre.«
»Ach?«
»Ich bin mir vor Kurzem nämlich bewusst geworden, dass ich vielleicht in jemanden anders verliebt bin.«
»Wie kurz?«
»Sehr kurz«, sagte er und beugte sich vor, um sie wieder zu küssen.
Diesmal wich sie zurück. »Schlägst du vor, dass wir dort weitermachen, wo wir aufgehört haben?«
»Wieso nicht?«
»Weil ich bald zu einer ewig langen Reise in den Weltraum aufbrechen werde.«
»Das ist ein Problem, aber kein unüberwindliches. Ehrlieh, ich wusste gar nicht, wie sehr ich dich vermisst hatte.«
»Bist du sicher, dass du nicht nur unter dem Nähe-Syndrom leidest? Ich bin hier, und Gloria nicht.«
Er seufzte und ließ sie los. »Noch so jung, und schon so zynisch.«
»Du hast mir noch nicht gesagt, wie wir unsere Romanze fortsetzen sollen, während ich auf dem Lichtsegel bin und du wieder auf der Erde.«
»Wir könnten uns lange Liebesbriefe schreiben.«
»Und wer sollte sie zustellen?«
»Wir geben sie als offizielle Nachrichten aus. Es wird dich vielleicht interessieren zu erfahren, dass Staatssekretär Sadibayan mich zur Kontaktperson für das technische Projektpersonal ernannt hat.«
»Wirklich? Da ist wohl ein Glückwunsch angebracht.«
»In der Tat. Ich habe nämlich die Aufgabe, das Threat-Team zusammenzustellen. Das ist auch ein Grund, weshalb ich überhaupt noch hier bin. Ich werde Vance Newburgh bitten, sich uns anzuschließen, sobald er das Programm für den Start modifiziert hat.«
» Threat- Team?«
»Eine unglückliche Bezeichnung. Gemeint ist eigentlich eine Arbeitsgruppe für Negativfolgen-Abschätzung. Alle Daten, die deine Leute an die Erde übermitteln, werden bezüglich nachteiliger Auswirkungen auf unsere militärische Kapazität, Wirtschaft und gesellschaftliche Institutionen analysiert. Eine andere Arbeitsgruppe bewertet wiederum positive Faktoren, und mehrere Expertengruppen studieren die außerirdische Technologie, über die ihr uns berichtet.«
»Es ist gut zu wissen, dass unsere Fragen beantwortet werden, wenn wir uns zu Hause melden.«
»Mit größerer Wahrscheinlichkeit wird man euch eine lange Liste mit Fragen zur Beantwortung vorlegen«, erwiderte er. »Aber schweif doch nicht vom Thema ab — das, wenn ich mich recht erinnere, du und ich war.«
Sie musterte ihn für eine Weile, bevor sie antwortete. »Es ist dir ernst damit, stimmt's?«
»Verdammt ernst.«
»Und was ist mit Gloria?«
»Darüber muss ich mir erst noch klar werden.«
Tory nickte. »Ich muss mir auch noch über einiges klar werden. Können wir später darüber sprechen?«
»Klar. Wie wär's, wenn wir den Staub abschütteln und dann eine Mütze voll Schlaf nehmen? Wir können uns doch gegenseitig mit dem elektrostatischen Swiffer säubern.«
»Sie führen doch nichts im Schilde, Herr Tallen?«
Irgendwie fehlte es seiner Unschuldsmiene aber doch an Überzeugungskraft, als er nach dem Staubwedel griff und Tory sich der Unterwäsche entledigte.