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Tory verließ die Luftschleuse und betrat eine transparente Ausschiffungsröhre, die hundert Meter weit über den glasierten Sand des Raumhafens von Olympus verlief. Hinter der Röhre wurde die Marsnacht von gleißend hellen Lichtbögen erhellt. Eine weitere Fähre lag neben dem Phobos-Shuttle; Passagiere und Gepäck strömten durch die Verbindungsröhre in die unterirdische Passage, die zum Hauptterminal führte. Tory verzog das Gesicht bei diesem Anblick. Das bedeutete nämlich, dass der wöchentliche Liner von der Erde in der Umlaufbahn stand und dass es im Raumhafen — der sowieso schon ein regelrechter Taubenschlag war - nun noch hektischer zugehen würde.
Als sie das Terminal betrat, befahl Tory dem Implantat, sich mit dem Computer von Olympus City zu synchronisieren. Nachdem sie das Verbindungssignal erhalten hatte, schickte sie eine Mitteilung an Dardan Pierce.
»Hallo, Tory«, kam sofort die Antwort. »Wo steckst du denn?«
»Am Raumhafen.«
»Gut, dann komm möglichst schnell her. Die anderen werden schon vor dir da sein.«
»Was gibt's denn, Dard?«
»Das musst du schon Hunsacker fragen«, ertönte die knappe Antwort. »Er hat die Besprechung schließlich angesetzt.«
»Aber er ist doch auf der Erde.«
»Nein, seit heute Mittag ist er nicht mehr dort. Er ist in meinem Büro aufgetaucht und hat mich gebeten, alle erreichbaren Personen zu kontaktieren.«
»In Ordnung, bin schon unterwegs.«
»Noch etwas«, sagte Pierces lautlose Stimme. »Hunsacker hat ein paar Leute mitgebracht.«
» Wen denn?«
»Praesert Sadibayan, einen Staatssekretär für Wissenschaft in der Hoffenzoller-Administration, und seinen Assistenten. Ich möchte, dass jeder sein bestes Benehmen an den Tag legt. Pierce Ende.«
»Bronson Ende«, erwiderte Tory abwesend.
Ein Fahrzeug setzte sie eine halbe Stunde später an der University Station ab. Wie die meisten Anlagen auf dem Mars war auch die University of Olympus überwiegend unter der Oberfläche angelegt. Auf Bodenhöhe wurde sie von einer großen Kuppel überwölbt; sie war mit Tauen verankert, die aus den monomolekularen Fasern gesponnen waren, welche auch für die Herstellung der Lichtsegel verwendet wurden. Der kürzeste Weg von der U-Bahn-Station zu Pierces Büro verlief durch eine Reihe unterirdischer Gänge, doch nach fast einem Jahr auf Phobos beschloss Tory, einen kurzen Umweg zu machen und durch die Kuppel zu gehen.
Die Kuppel beherbergte den Hochschulcampus: einen Komplex aus Pfaden, Blumenrabatten und terrestrischen Büschen, die im leichten Schwerefeld des Mars überdimensional wucherten. Tagsüber wimmelte es im Park von Studenten, die von einer Vorlesung zur anderen eilten. Und nachts war er nicht weniger bevölkert, auch wenn es nicht den Anschein hatte. Nach Sonnenuntergang erstrahlte die Oberflächenkuppel in bunten Pastelltönen und wurde von einem Geruch nach Kräutern durchdrungen. Das machte sie zu einem bevorzugten Ort für Paare, die dort Intimität pflegen wollten. Und im Zentrum des Parks sprudelte eine der wenigen Wasserquellen auf dem Mars. Die niedrige Gravitation sorgte für einen spektakulären Anblick und versorgte zugleich die Pflanzen mit der erforderlichen Feuchtigkeit.
Als Tory die Treppe erreichte, die zur astrophysikalischen Abteilung hinabführte, atmete sie die aromatische Luft ein letztes Mal ein. Die Vorlesungen waren schon seit Stunden zu Ende, sodass die Korridore nun verlassen waren. Ihre Phobos-Stiefel verursachten klickende Geräusche auf dem glasierten Felsboden. Dieses Klicken hallte auf ganzer Länge der leeren Korridore wider. Dann bog sie in einen Seitengang ein und sah Licht durch eine durchscheinende Bürotür am anderen Ende fallen.
»Tory, Gott sei Dank!«, sagte Pierce, als sie an die Tür klopfte. Er war ein Mann mit schütterem Haar, einem intensiven Blick und viel Charisma. Der Astrophysiker war mit Anfang fünfzig noch immer ein agiler Mann. Sein Enthusiasmus war ansteckend, vor allem was das Starhopper-Projekt betraf.
Das Büro war noch so, wie sie es in Erinnerung hatte. Ausdrucke und Datenwürfel waren überall verteilt. Eine Wand war mit Hologrammen tapeziert, die Pierce und mehrere Kameraden in Siegerpose vor irdischen Wahrzeichen zeigten — Souvenirs seiner langen Jagd nach Geld zur Finanzierung des Projekts.
»Was liegt an, Dard?«
»Was meinst du?«
»Schau mich nicht so doof an. Um eine Programmvalidierung zu unterbrechen, muss bei dir doch mindestens ein Notfall der Stufe eins vorliegen. Und du hättest die Arbeit schon gar nicht auf Hunsackers Aufforderung hin unterbrochen, wenn du nicht wüsstest, was los ist.«
»Schuldig im Sinne der Anklage«, sagte er. »Du bist hier, um einen Fortschrittsbericht zu geben.«
»Wir legen doch tägliche Fortschrittsberichte vor, wöchentliche Fortschrittsberichte und monatliche Zusammenfassungen! Wünscht der Ausschuss jetzt vielleicht auch noch stündliche Berichte?«
»Man ist mehr an deiner persönlichen Sichtweise des Projekts interessiert. In deiner Position hast du nämlich ein besseres Gefühl für die Entwicklung der Dinge als irgendjemand sonst.«
»Kannst du mir nicht wenigstens einen Tipp geben?« Als Tory die Frage stellte, wunderte sie sich über Pierces Gesichtsausdruck. Man vermochte sich kaum vorzustellen, dass von jemandem mit einem solchen Funkeln im Auge eine schlechte Nachricht kam. Es war wie der Blick eines Kindes vor der Weihnachtsbescherung.
»Nee. Nur damit ich nicht unangenehm überrascht werde, wie laufen die Vorbereitungen?«
»Du hast doch die Berichte gelesen.«
»Sag's mir trotzdem.«
»In Ordnung.« Tory gab ihm einen kurzen Uberblick über das, was sie in der letzten Woche oder so erreicht hatten. Die Arbeit bestand überwiegend aus Programmprüfungen, die sie nicht zu beschleunigen vermochten.
»Hört sich so an, als ob du den Zeitplan wieder einhalten würdest.«
»Das würde ich auch, wenn ich nicht ständig unterbrochen würde. Gib mir noch einen Monat, und ich werde dir ein raumtüchtiges Schiff präsentieren.«
Pierce antwortete nicht sofort, und Tory bemerkte den gleichen Blick der Vorfreude, den er schon vor ein paar Minuten gehabt hatte. Als er dann etwas sagte, beinhaltete es den Vorschlag, zum Konferenzraum zu gehen.
Konferenzraum 100 war so groß, dass ein Dutzend Teilnehmer Platz an einem ovalen Tisch fanden. Der Raum war bereits gefüllt, als die beiden eintrafen: Das Leitungsgremium des Projekts und Personal standen in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich. Die Szene erinnerte an eine Fakultätsfeier.
»Tory, ich möchte dir Boris Hunsacker vorstellen, den Projektkoordinator auf der Erde«, sagte Pierce, nachdem er sie zu einer der Gruppen gelotst hatte. »Boris, das ist Tory Bronson, von der Sie schon so viel gehört haben.«
»Ich freue mich, endlich einmal Ihre Bekanntschaft zu machen, Boris.« Hunsacker war kleiner, als Tory ihn sich aufgrund von Pierces Erzählungen vorgestellt hatte. Sie reichte ihm die Hand.
»Ganz meinerseits, Tory.« Er verwandelte den Handschlag in einen Handkuss. »Ich muss gestehen, dass ich Sie beneide. Der Rest von uns sind Politiker und Erbsenzähler. Aber Sie arbeiten wirklich an der ersten interstellaren Raumsonde der Menschheit.«
Tory lachte. »Sie klingen ja wie ein Ingenieur, Boris.«
Sie erntete ein Lächeln. »Ich habe leider schon seit vielen Jahren nicht mehr als Ingenieur gearbeitet. Aber das Faible für die Technik zum Anfassen habe ich wohl immer noch nicht verloren.«
»Ich würde Sie gern einmal herumfuhren, wenn Sie auf dieser Reise auch nach Phobos kommen.«
»Ist das eine generelle Einladung?«, ertönte eine bekannte Stimme hinter ihr. Gleichzeitig erwachte ihr Implantat zum Leben. »Wie geht's, altes Haus?«
Tory drehte sich um und schnaufte erstaunt. Ben Tallen stand - mit einem Grinsen im Gesicht - direkt hinter ihr.
»Ben! Was machst du denn hier?« — »Und wieso hast du mir nicht gesagt, dass du auch kommst, du doofe Nuss?«
»Ich bin der Begleiter des Staatsministers. Ich bin sein Assistent.« - »Vielleicht gehen wir etwas trinken, wenn das hier vorbei ist?«
»Würde mich freuen.« - »Seit wann? Ich dachte, du würdest für Tramton Industries arbeiten?«
»Schon seit ungefähr einem Jahr nicht mehr. Ich finde den Politzirkus viel interessanter.«
»Ich nehme an, dass Sie beide sich kennen«, sagte Pierce und musterte die beiden.
»Wir sind alte Freunde, Professor«, erwiderte Tallen. Dabei sah er, wie ein kleiner dunkler Mann auf der anderen Seite des Raums eine Geste in seine Richtung machte. »Entschuldigen Sie mich bitte. Der Boss will etwas von mir. Möchtest du ihn kennenlernen, Tory?«
»Na klar.«
Die beiden bahnten sich einen Weg zum anderen Ende des Raums. »Tory, darf ich dir meinen Chef vorstellen, Praesert Sadibayan, Staatssekretär im Wissenschaftsministerium. Sir, Miss Victoria Bronson. Ich glaube, ich hatte sie Ihnen gegenüber schon einmal erwähnt.«
»Aber ja, mindestens hundertmal«, erwiderte Sadibayan mit einem Grinsen. »Sie haben diesem jungen Mann das Herz gebrochen, Miss Bronson.«
»Das bezweifle ich, Herr Staatssekretär.«
»Es ist die Wahrheit! Er hatte sich auf der ganzen Reise immer nur gefragt, ob er die Gelegenheit hätte, Sie wiederzusehen.«
Sie wandte sich an Ben. »Wirklich?«
Er nickte. »Wenn du heute Abend nicht hier gewesen wärst, hätte ich das erste Phobos-Shuttle genommen.«
»Ich fühle mich geschmeichelt.«
Sadibayan wandte sich seinem Assistenten zu. »Sehen Sie, Ben. Es ist ganz einfach; Sie müssen nur ehrlich zu den Frauen sein.«
»Ich wünschte nur, ich hätte Ihr Talent, Sir«, erwiderte Tallen mit gespielter Demut.
Die lebhaften Unterredungen um sie herum wurden vom Läuten unterbrochen, das den Beginn einer neuen Vorlesung ankündigte. Dard bat alle Anwesenden, sich zu setzen. Dann bedeutete er Tory, auf dem Stuhl neben ihm Platz zu nehmen.
Pierce stellte die Teilnehmer vor. Außer Boris Hunsacker und den beiden Repräsentanten der Erdregierung erfuhr Tory zu ihrer Überraschung, dass auch ein Vertreter des Mars-Parlaments anwesend war.
»Sie sind dran, Boris«, sagte Pierce.
»Vielen Dank, Professor Pierce«, sagte der terrestrische Projekt-Repräsentant. Er verschob nervös ein paar Computerausdrucke, bevor er fortfuhr. »Sie werden sich sicher fragen, aus welchem Anlass wir uns überhaupt hier versammelt haben. Ich will Sie deshalb auch nicht länger auf die Folter spannen. Allerdings muss ich Ihnen zuvor noch ein paar Hintergrundinformationen geben; also haben Sie bitte Nachsicht mit mir. Licht aus, Würfel an!«
Diese letzte Aufforderung war an den Raumüberwacher gerichtet, der gehorsam die Lichter dimmte und den Holowürfel aktivierte, der in der Mitte des Tischs lag. Der Würfel zeigte eine altmodische zweidimensionale Fotografie. Es war das Bild eines Sternenfelds mit einem gelben Lichtpunkt in der Mitte; darüber hinaus waren noch ein paar andere Sterne über die Darstellung verteilt.
»Dies, meine Damen und Herren, ist eine Fotografie von Tau Ceti, die gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts aufgenommen wurde. Damals war Tau Ceti ein gelboranger Zwergstern vom Typ K0 und außer der Nähe zur Sonne eigentlich nicht der Rede wert. Er ist nur zwölf Lichtjahre von hier entfernt, praktisch an der nächsten Tür.«
Die Szenerie änderte sich. Die Darstellung im Würfel war wieder zweidimensional. Es handelte sich offensichtlich um dasselbe Sternenfeld, denn die Verteilung der Sterne war im Wesentlichen die gleiche. Nur der zentrale Lichtpunkt hatte sich verändert. Er war nun gleißend weiß.
»Dies wurde am 25. August 2001 aufgenommen. Das war der Tag, an dem Tau Ceti sich in eine Nova verwandelt hat. Das Ereignis hat für ziemliches Aufsehen bei den Astronomen gesorgt. Wie die Sonne war Tau Ceti nämlich noch in der Hauptreihe, als sie explodierte, und Hauptreihensterne dürften sich eigentlich nicht so verhalten. Wir haben bis heute auch keine Theorie, die erklären würde, weshalb ein Stern wie Tau Ceti überhaupt explodieren konnte. Der Umstand, dass er explodiert ist, legt jedoch nahe, dass unsere diesbezüglichen Theorien einer Revision unterzogen werden müssen.«
»Ist bei dieser Nova denn nicht noch eine Anomalie aufgetreten?«, fragte Roger Aaron. Aaron war Mitglied im Fachschaftsausschuss der University of Olympus und darüber hinaus Archivar des Regierungsausschusses.
»Das stimmt. Aus den ersten Aufzeichnungen von der Nova ging hervor, dass die Strahlungsleistung der Nova um ein paar Prozent zu schwach war. Jedoch waren diese Werte möglicherweise falsch, denn spätere Beobachtungen haben gezeigt, dass die Lichtkurve sich noch innerhalb des Toleranzbereichs für eine Nova des Typs zwei befand.«
»Das ist ja alles sehr interessant, Boris«, sagte ein Ausschussmitglied. »Aber was hat das nun mit uns zu tun?«
Hunsackers Antwort bestand darin, die Steuerung des Würfels zu betätigen. Die Nova-Explosion verschwand vom Bildschirm und wurde von einer modernen holographischen Abbildung ersetzt. Wieder war die Darstellung um dieses Sternenfeld zentriert, doch Tau Ceti war kein loderndes Feuer mehr. Das Zentralgestirn war zu diesem gelben Funken geschrumpft, der der Nova vorangegangen war. Dieser Funke wurde nun von einem milchig weißen Lichtring umgeben, der die größte Ausdehnung der Gaswolke markierte, die durch die Explosion vor zwei Jahrhunderten entstanden war. Und es befand sich ein neuer Lichtpunkt im Hologramm. Ein weiterer gelber Funke war direkt hinter der Gaswolke erschienen.
»Was ist das denn?«, fragte Sharon Milos und deutete auf den Punkt.
»Das«, erwiderte Hunsacker triumphierend, »ist der Grund für diese Besprechung. Dieses Holo ist vor zwei Wochen von der Sternwarte auf Luna aufgenommen worden. Das Spektrum entspricht dem von Sol, allerdings mit einer leichten Dopplerverschiebung zum blauen Ende des Spektrums.« Hunsacker legte eine Pause ein, damit die Anwesenden die Weiterungen seiner Worte zu erfassen vermochten. Alle Gesichter am Tisch hatten einen perplexen Ausdruck, der sich langsam in einen des Staunens verwandelte.
»Ein Lichtsegel!«, rief Tory in Erinnerung an das Funkeln im Sonnenlicht, das sie aus dem Fenster der Phobos-Fähre gesehen hatte.
»Ein Lichtsegel«, pflichtete Hunsacker ihr bei. »Es ist uns gelungen, mit dem Teleskop auf Europa eine Dreieckspeilung vorzunehmen. Es ist zwei Lichtmonate weit entfernt und bewegt sich mit fünf Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Sein Ursprung ist höchstwahrscheinlich die Tau-Ceti-Nova.
Meine Damen und Herren, es hat den Anschein, als ob wir in Kürze unseren ersten Besucher von einem anderen Stern empfangen dürfen!«
Es herrschte für fast eine Minute verblüfftes Schweigen im Konferenzraum, bevor jemand etwas sagte. Diese Person war Carse Groschenko, seines Zeichens pensionierter Astronom und für die Projektaufsicht zuständig.
»In den Nachrichten kam aber kein Wort davon!«
»Dafür hat mein Vorgesetzter gesorgt«, erwiderte Sadibayan. »Minister de Pasqual hat darum gebeten, dass die Mondbewohner nichts von ihrer Entdeckung verlauten lassen, bis ich mit ihnen gesprochen habe.«
»Und sie haben auf ihn gehört?«
Sadibayan zuckte die Achseln. »Ein beträchtlicher Teil des Budgets für den Betrieb des Luna-Observatoriums wird von meiner Abteilung verwaltet. Das muss wohl eine gewisse Entscheidungshilfe gewesen sein. Und ich muss Sie ausdrücklich darauf hinweisen, dass dies eine Entdeckung der Mondbewohner ist und dass ihnen deshalb die Ehre dieser Mitteilung gebührt. Nichts von dem, was Sie hier erfahren, darf den Raum verlassen. Einverstanden?«
Ein Raunen der Zustimmung ging um den Tisch. Es war eine Tradition der Wissenschaft, dass diejenigen, die eine große Entdeckung machten, auch den Zeitpunkt und die Art und Weise bestimmten, wie ihre Ergebnisse an die Öffentlichkeit gelangten. Es war eine Tradition, die einigen peinlichen PR-Pannen in der Vergangenheit entsprungen war.
»Sie behaupten also, dass wir bald außerirdische Besucher hätten?«, fragte Tory.
Sadibayan schüttelte den Kopf. »Nun, das stimmt nicht ganz. Das Raumfahrzeug wird keine Besatzung mehr haben; allenfalls eine tote Besatzung nach zweihundertfünfzig Jahren im Weltraum. Es handelt sich vielleicht um eine Frachtkapsel, die durch die Nova von Tau Ceti weggeschleudert wurde oder um eine Botschaft der intelligenten Spezies, die in der Nova umgekommen ist!«
»Der Drang, sich ein Denkmal zu setzen, muss in jedem denkenden Wesen stark verankert sein«, murmelte Pierce.
Die Ereignisse überschlugen sich förmlich. Zuerst der Schock, als man erfahren hatte, dass die Menschheit nicht allein im Universum war, unmittelbar gefolgt von der Erkenntnis, dass die Wesen, die das Lichtsegel erschaffen hatten, tot waren. Tory hatte eine Vision von zum Untergang verurteilten Intelligenzen, die verzweifelt versuchten, ihre Arche loszuschicken, bevor Tau Ceti explodierte. Diese Vision war so lebendig, dass sie Hunsackers Frage beinahe überhörte.
»Wie schnell kann Starhopper startklar gemacht werden?«
Tory starrte ihn für eine Weile verständnislos an. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, weshalb man den Regierungsausschuss zu dieser Krisensitzung einberufen hatte.
»Sie haben vor, Starhopper zu einer Begegnung mit dem Alien zu entsenden?«
»Natürlich.«
»Aber das können Sie doch nicht machen!«
»Und wieso nicht?«
»Starhopper ist die einzige interstellare Raumsonde, die wir haben. Wir dürfen sie nicht aufs Spiel setzen. Wer weiß, wann wir in der Lage wären, die Ressourcen für den Bau einer neuen Sonde zusammenzukratzen. Entsenden Sie ein anderes Schiff, um das Lichtsegel abzufangen. Und lassen Sie Starhopper den Auftrag ausführen, für den sie entwickelt wurde.«
»Das ist leider unmöglich«, sagte Hunsacker. Er betätigte die Steuerung des Würfels. Das Sternenfeld verschwand und wurde von einer Darstellung ersetzt, in der zwei farbige Linien in einem dreidimensionalen Gitter hingen. Eine Kurve war steil nach oben gerichtet, während eine zweite mit einer viel geringeren Steigung folgte.
»Die rote Linie bildet die Zunahme in der beobachteten Stärke der Tau-Ceti-Nova über die ersten zwei Wochen nach der Explosion ab. Fünf Tage nach der ersten Explosion hatte die Strahlungsleistung von Tau Ceti sich um das Hunderttausendfache erhöht. Die blaue Linie zeigt die errechnete Geschwindigkeit eines hypothetischen Lichtsegels, das von einer solchen Explosion erfasst wurde.«
»Und was soll damit bewiesen werden?«, fragte Tory mit einem Blick auf den Holowürfel.
»Dass die Geschwindigkeit des Lichtsegels das Resultat des Ausstoßes durch die Nova ist. Wäre es nämlich gestartet, als Tau Ceti noch ein normaler Stern war, hätte seine Geschwindigkeit weniger als ein Prozent der Lichtgeschwindigkeit betragen. Das bedeutet, dass der Lichtdruck von der Sonne nicht ausreicht, um das Segel stark zu verlangsamen. Es wird in vierzig Monaten im inneren System eintreffen, in ein paar Tagen von einer Seite des Systems zur anderen rasen und dann wieder Kurs auf den interstellaren Raum nehmen. Falls sich überhaupt eine Gelegenheit ergeben sollte, das Segel zu untersuchen, müssen wir es möglichst weit draußen abfangen. Und Starhopper verfugt als einziges Schiff im System über die Delta-Geschwindigkeitsfähigkeit, dieses Manöver durchzuführen.«
Tory dachte für einen Moment darüber nach und musste ihm schließlich recht geben. Die Leistung eines Raumschiffs bemisst sich nach seiner Fähigkeit zur Geschwindigkeitsänderung — die Delta-V-Fähigkeit. Das außerirdische Lichtsegel fiel mit fünfzehntausend Kilometern pro Sekunde der Sonne entgegen. In der Theorie konnte ein Schiff, das auf diese Geschwindigkeit zu beschleunigen vermochte, das Segel einholen. Nur dass die Dinge in der Praxis nicht annähernd so einfach waren.
Ein menschliches Raumschiff würde sich mit hoher Geschwindigkeit von der Sonne entfernen müssen, um das Lichtsegel abzufangen, bevor es ins System einflog. Ein gutes Stück jenseits der Umlaufbahn von Pluto würde das Forschungsraumschiff dann über Kopf wenden und ein Bremsmanöver einleiten. Es würde die Geschwindigkeit aufzehren, die es auf dem bisherigen Flug erreicht hatte, und dann erneut in Richtung Sonne beschleunigen und das Lichtsegel verfolgen. Wenn das Manöver korrekt ausgeführt wurde, würde die Raumsonde in dem Moment die Geschwindigkeit an das Lichtsegel angeglichen haben, wenn das außerirdische Geisterschiff sie überholte. Dann würde die Menschheit mithilfe der Instrumente der Starhopper-Sonde alles über den außerirdischen Eindringling herausfinden.
Allerdings erforderten diese Manöver eine extreme Geschwindigkeitsänderung. Um das Zeitfenster für die Synchronisierung der Umlaufbahn mit dem Lichtsegel zu nutzen, würde die Raumsonde auf fünfzehn Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigen müssen. Und wie Hunsacker schon gesagt hatte, war Starhopper das einzige Raumfahrzeug, das auch nur annähernd über die notwendige Delta-V-Fähigkeit verfugte.
»Gut, dann ist Starhopper also das einzige Raumfahrzeug im Sonnensystem, das dieses Lichtsegel einholen kann. Aber das heißt noch nicht, dass wir die Raumsonde überhaupt losschicken müssen. Woher wissen wir denn, ob wir etwas Interessantes herausfinden?«
»Verdammt, wir sprechen hier über ein Raumschiff, das von außerirdischen Intelligenzen gebaut wurde«, murmelte Hunsacker indigniert. »Da müssen wir doch etwas Interessantes erfahren.«
»Immer mit der Ruhe, Boris«, sagte Pierce gelassen. »Torys Fragen sind schon berechtigt. Was wissen wir überhaupt über dieses Lichtsegel?«
Hunsacker rief das Hologramm auf, das Tau Ceti zeigte - mit dem Lichtring und dem Segel direkt hinterm Rand des milchigen Rings. »Dem Infrarotspektrum nach zu urteilen schätzen wir die Temperatur des Segels auf fünfzig Grad Kelvin. Das ist zwar etwas hoch für diese Entfernung von der Sonne, aber nicht allzu sehr. Wir können außerdem seine Größe abschätzen.«
»Auf jeden Fall ist es nicht nah genug, um als Scheibe abgebildet zu werden«, sagte Groschenko.
Hunsacker lachte. »Nein, nicht annähernd nah genug. Wir können aber schon aufgrund der Tatsache, dass wir das Segel erst jetzt entdeckt haben, eine Obergrenze für seine Größe definieren. Demzufolge wird der Durchmesser des Segels nicht mehr als tausend Kilometer betragen, vielleicht sogar noch weniger.«
Pierce wandte sich an seinen properen Assistenten. »Sie haben die Vollmacht von jedem Einzelnen unserer Sponsoren auf der Erde. Selbst wenn wir sie aufhalten wollten, könnten wir das gar nicht. Wann werden wir also startbereit sein?«
Tory aktivierte ihr Implantat und überprüfte schnell den Projektstatus. »In einem Monat, Dard. Wir werden den Zertifizierungsvorgang beschleunigen müssen. Das dürfte aber kein Problem sein, wo die Mission nun verkürzt worden ist. Es ist ein großer Unterschied zwischen einer Reise, die nur ein paar Jahre dauert, und einer, die sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt.«
»Wie sieht es mit der Brennstoffversorgung aus?«
»Der müssen wir bei der Phobos-Raffinerie Priorität einräumen.«
»Ich werde mich darum kümmern, Miss Bronson«, sagte Jorge Contreras, der Vertreter der Marsregierung, auf der anderen Seite des Tisches. Er machte sich eine Notiz auf seinem Notepad.
Pierce nickte. »Dann starten wir also heute in einem Monat. Lassen Sie uns nun darüber sprechen, was Starhopper tun soll, nachdem sie ihr Ziel erreicht hat. Boris, Sie hatten die meiste Zeit, darüber nachzudenken. Ich schlage vor, wir fangen mit Ihnen an.«