22
Das Hauptquartier des System-Rats war ein filigraner Turm aus Glas und Stahl, der im architektonischen Stil des frühen zweiundzwanzigsten Jahrhunderts errichtet worden war. Tory fand ihn potthässlich. Vor allem störte sie sich an den vielen Kanten und Ecken und den überstehenden Etagen. Wenn man direkt vor dem Gebäude stand und an ihm hinaufschaute, hatte es die Anmutung einer umgedrehten Pyramide. Da drängte sich einem die Frage förmlich auf, wie ein so wackliger Schuppen zum Beispiel einem Erdbeben standhalten sollte. In dieser Hinsicht wies der Bau eine Affinität zur Organisation auf, die er beherbergte: Wie der Rat das Beben nach der Entdeckung der Dritten Flotte der Phelaner verkraften würde, war nämlich auch die große Frage.
Obwohl die PR-Abteilung des System-Rats ihn seit kurzem als »Das Parlament der Menschheit« titulierte, waren seine Wurzeln viel bescheidener. Der Rat war ursprünglich von den gerade unabhängig gewordenen Weltraumkolonien gegründet worden, um eine gemeinsame Front zur Interessenvertretung gegenüber der Erde zu bilden. Als erste terrestrische Nation hatte sich Frankreich im Jahr 2120 dem Rat angeschlossen. Die Franzosen hatten den Mitgliedsantrag damit begründet, eine freiwillige Beschränkung für den Export von vakuumdestillierten Spirituosen zur Erde einzuführen.
Nach Aufhebung der inoffiziellen Aufnahmesperre für irdische Nationen hatten im Lauf der nächsten Jahrzehnte weitere Länder einen Aufnahmeantrag gestellt. Sie hatten zunächst einen Beobachterstatus erhalten und später die Vollmitgliedschaft. Und wenig später war das Hauptquartier des Rats von Luna City nach New York verlegt worden.
Es waren bereits zwölf Wochen vergangen, seit die Phelaner ein formelles Ersuchen um einen Kolonie-Standort an den Rat gerichtet hatten. Als Tory, Faslorn und Maratel zu ihrer üblichen Mittwochsitzung zusammenkamen, fragte Tory sich, ob die heutige Zusammenkunft sich von den vorherigen elf unterscheiden würde. Wenn ihre Informanten recht hatten, würde man ihnen den Standort in Australien anbieten.
Die drei machten sich auf den Weg zu den öffentlichen Lifts. Trotz des Schallabsorptionsfelds hallten Torys Schritte hohl auf der weiten Fläche, während die Phelaner sich in ihrem lautlosen Knöchelgang fortbewegten. Über ihnen erhob sich ein großer Lichthof, der von lichtdurchlässigen Paneelen überdacht wurde. Um den Lichthof zogen sich unzählige Bürogalerien, von denen aus mehrere Köpfe die beiden Außerirdischen beobachteten.
»Tory, dürfte ich dich eine Sekunde sprechen?«
Sie erschrak durch den Anruf an ihr Implantat und geriet kurz aus dem Takt. Solche Direktnachrichten waren nicht nur selten gewesen, seit sie in den Dienst der Phelaner getreten war, sondern sie stammte auch von einer unerwarteten Quelle. Die Stimme, die in ihrem Gehirn hallte, war die von Ben Tallen.
»Wo bist du?«, fragte sie, um ihre Überraschung zu überspielen.
»Schau mal nach links.«
Sie tat wie geheißen und entdeckte Tallen neben einer Insel aus Topfpflanzen, die sich aus der glänzenden Weite des Marmorbodens erhob. Er winkte ihr zu.
»Was gibt's?«, fragte Faslorn.
»Ben Tallen. Er will mit mir sprechen.«
Faslorn warf einen Blick auf die menschliche Uhr, die er am oberen linken Handgelenk trug. »Aber machen Sie es kurz. Wir werden in fünf Minuten im Konferenzraum erwartet.«
Tory ging zu Tallen hinüber. Die zwei Phelaner schauten ihr nach. Sie hatte sich schon lange an ihre stummen Blicke gewöhnt, die ihr überallhin folgten. Tory wusste, dass sie trotz des schrecklichen Geheimnisses, das sie mit ihnen verband, Zweifel an ihrer Loyalität hegten. Sie konnte es ihnen nicht einmal verdenken — sie zweifelte nämlich oft selbst daran.
»Was willst du, Ben?«
Er lächelte. »Zunächst einmal möchte mich für mein Verhalten in Elysium Station entschuldigen. Ich habe mich wie ein Idiot benommen und wie ein noch größerer, weil ich versucht habe, dich gegen deine Auftraggeber aufzuwiegeln.«
»Das ist fast zwei Jahre her. Wozu jetzt noch eine Entschuldigung?«
Er zuckte die Achseln. »Ich glaube, dass ich so lange gebraucht habe, um zu begreifen, was für ein Narr ich war. Du hattest deine Gründe, zu den Phelanen überzulaufen, und ich hätte sie respektieren müssen.«
»Ich bin nicht zu ihnen >übergelaufen<, Ben«, erwiderte sie mit einer eisigen Kälte in der Stimme. »Ich helfe ihnen, weil sie meine Hilfe brauchen und weil ich der Ansicht bin, dass es unseren beiden Spezies zum Vorteil gereicht.«
Er hielt die Hände hoch, als ob er ihren Angriff abwehren wollte. »Frieden! Ich wollte damit auch nichts andeuten. Wie gesagt, ich hätte dich nicht so anschreien dürfen.«
»Und wieso hast du es dann getan?«
»Ich war wohl verletzt. Ich hatte schon Pläne für uns gemacht, und da war für diese Kreaturen kein Platz.«
»Was willst du also?«
»Wie wär's, wenn wir heute Abend zusammen essen?«
»Wieso?«
»Ich hatte gehofft, dass du mal wieder Lust dazu hättest. Falls du aber noch einen anderen Grund brauchst, hätte ich etwas mit dir zu besprechen, was deinen Chefs vielleicht gefallen wird.«
»Und das wäre?«
»Ähem. Das sage ich dir nur beim Essen.«
Sie biss sich auf die Unterlippe und zog die Möglichkeit in Betracht, dass das nur ein Trick war, um sie abzufüllen und ins Bett zu kriegen. Im Grunde hätte sie aber auch gar nichts dagegen. Sie lebte wie eine Nonne, seit sie und Garth sich an Bord der Austria »Auf Wiedersehen« gesagt hatten, und sie vermisste einen warmen Körper, an den sie sich kuscheln konnte. Sie war es auch überdrüssig, jeden Tag jede Sekunde im Dienst zu sein. Sie wollte das Haar mal wieder offen tragen - wenn auch nur für einige Zeit.
»Also gut. Ich werde mit dir ausgehen.«
»Ausgezeichnet. Wo soll ich dich abholen?«
»Das ist nicht nötig. Ich kann auch zu dir kommen.«
»Dass ich das noch einmal höre. Sagen wir um zwanzighundert im Penthouse?«
»Zwanzighundert ist gut.«
»Also bis dann.« Ben drehte sich um und ging zu einem Seitengang, der nach unten zur U-Bahn-Station führte. Tory eilte zu Faslorn und Maratel zurück.
»Worum ging es denn?«, fragte Faslorn.
Sie rekapitulierte das Gespräch nach und schloss mit den folgenden Worten: »Und das, was er wirklich wollte, werde ich heute Abend wohl herausfinden.«
Ben war pünktlich auf die Minute. Er trug einen formellen Dineranzug, bestehend aus einem kirschroten Mantel, Shorts und Schaftstiefeln. Tory war mit einem konservativen ärmellosen Overall bekleidet.
»Ich hatte ganz vergessen, dich zu fragen, wo wir zum Essen hingehen wollen«, sagte sie. »Soll ich mir etwas Formelleres anziehen?«
»Nicht nötig«, erwiderte er mit einem Lächeln und überreichte ihr einen kleinen Blumenstrauß. »Du siehst auch so sehr gut aus.«
Sie schnupperte ostentativ an den Blumen. »Danke, Ben, aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen.«
»Wieso denn nicht? Wenn ich mich recht erinnere, hast du Blumen doch immer gemocht.«
»Ich mag sie auch jetzt noch, aber sie sind für ein Geschäftsessen unpassend.«
Er grinste sie an. »Dann werden wir eben über etwas anderes sprechen müssen, stimmt's? Können wir gehen?«
»Sicher. Wohin gehen wir also?«
»Ich kenne da ein kleines italienisches Restaurant auf der Insel.«
»Klingt wunderbar. Ich habe seit dem Abflug vom Mars nicht mehr italienisch gegessen.«
Eine halbe Stunde später waren sie auf einer kurvenreichen Landstraße unterwegs. Das einzige Anzeichen der Zivilisation war die ferne Lichterkette, welche die Wohntürme markierten, die drei Reihen tief die Küste von Long Island säumten.
Das Restaurant befand sich in einem kleinen Gebäude, das einmal ein Privathaus gewesen war. Autos waren undiszipliniert an der Vorderseite abgestellt, sodass Ben gezwungen war, auf der schmalen Straße zu parken. Ben hakte sich bei ihr unter und führte sie zum Eingang mit einem kleinen Schild, auf dem EMILIOS RISTORANTE stand. Er blieb auf der Treppe stehen und sagte, sie solle doch einmal mit der Hand über die Fassade des Gebäudes fahren. Sie folgte seiner Anregung und nahm die alte Fassade dann in Augenschein. »Ist das Echtholz?«
»Exakt.«
Im Geiste stieß sie einen leisen Pfiff aus. Bäume waren wertvoll in den überkuppelten Städten des Mars, und der Gedanke, einen als Bauholz zu fällen, grenzte schon an ein Sakrileg. Doch hier sah sie den Beweis für die absonderliche These, dass die Menschen tatsächlich Bäume gefällt hatten, um Häuser zu bauen.
Der Inhaber war ein leutseliger Mann mit einem Pomade-Schnurrbart und einem Bauch, der ihm über den Gürtel quoll. Ihr Tisch war mit einer weiß-rot karierten Tischdecke belegt und mit der obligatorischen Kerze in einer Weinflasche dekoriert. Sie bekamen eine Weinkarte, von der Ben einen Chianti bestellte. Beim Überfliegen bemerkte sie, dass keine Preise auf der Karte standen.
»Auf der Speisekarte auch nicht«, erwiderte er auf ihre Frage. »Du kennst doch die alte Redensart, die da lautet: >Wenn man nach dem Preis fragen muss ... «<
»>... kann man es sich eigentlich nicht leisten<«, beendete sie den Satz. »Kannst du dir denn ein solches Restaurant leisten?«
Er grinste. »Ich bin kein so armer Schlucker mehr wie damals, als wir uns kennengelernt hatten.«
»Das gilt wohl für uns beide.«
Er streckte den Arm über den Tisch aus und legte seine Hand auf ihre. »Vermisst du diese Zeiten?«
»Manchmal sogar mehr, als gut für mich ist. Der Weltraum war ein so überschaubarer Ort. Das Einzige, worüber wir uns wirklich Sorgen machen mussten, war die Woche mit den Examensarbeiten.«
»Und dass wir unsere Forschungsarbeiten fertig bekamen.«
Sie lachte. In der Anfangszeit ihrer Beziehung waren sie oft schon vor zweiundzwanzighundert im Bett gewesen, aber selten vor Mitternacht eingeschlafen. Sie hatte ihm vorgeworfen, sie von der Fertigstellung ihrer Doktorarbeit abzuhalten. Das war ein »privater Scherz« zwischen ihnen geworden.
»Ich vermisse dich, Tory«, sagte Ben und drückte ihr die Hände. »Es ist eine verdammte Schande, dass wir bei dieser Sache mit den Phelanern auf verschiedenen Seiten stehen müssen.«
»Wie ich jedem sage, der es hören will, Ben, stehen wir nicht auf verschiedenen Seiten. Wir stehen auf derselben Seite. Du hast die Far Horizons nicht gesehen.«
»Ich habe die Bilder gesehen.«
»Das ist aber nicht dasselbe. Du musst an der Basis des Abschlussdeckels stehen und über die Weite des Habitats auf die Spiral-Fälle schauen, um eine Vorstellung von der Größe des Schiffs zu bekommen. Es wäre eine verdammte Schande, wenn sie so weit gekommen sind und scheitern würden. Sie haben etwas Besseres verdient.«
Er grinste. »Du hattest immer schon ein Herz für Stromer, stimmt's?«
Sie verspürte einen Anflug von Verärgerung wegen seiner Bemerkung und fragte sich dann, ob er nicht doch recht hatte ... zumindest ein bisschen. Immerhin war sie schon im phelanischen Lager gewesen, bevor sie ihr die schreckliche Wahrheit offenbart hatten. Das war der eigentliche Grund, weshalb sie ihr diese Avancen gemacht hatten. Was blieb von der Sympathie noch übrig, wenn man das berücksichtigte? Sie erforschte ihr Gewissen und sagte sich, dass sie die Frage nicht zu beantworten vermochte. Wodurch wiederum der alte Spruch sich bewahrheitete, dass den Menschen sogar ihre eigenen Motive ein Rätsel waren. »Was würdest du an unserer Stelle tun?«, fragte sie nach einem langen Schweigen. »Sie wieder wegschicken?«
Er zuckte die Achseln. »Das liegt beim Rat. Ich habe sie schließlich nicht gebeten, hierherzukommen.«
»Sie selbst haben aber auch nicht darum gebeten. Die Leute vergessen nämlich, dass die Phelaner, die die Far Horizons losschickten, schon lange tot sind. Faslorn und die anderen hatten dabei nichts mitzureden. Und wo sie nun hier sind, haben sie keine andere Wahl als anzuhalten. Es gibt keine anderen Sterne in der Nähe.«
»Wir im Konsultativausschuss sind uns der Situation durchaus bewusst.«
»Wozu dann dieses ganze Rumgeeiere, wenn ihr doch Bescheid wisst? Wieso verabschiedet ihr nicht die Resolution zu ihrer Begrüßung und hört mit diesen endlosen Mittwochsbefragungen auf?«
»Du weißt doch, wie die Bürokratie arbeitet. Wir müssen zumindest so tun, als ob wir unser Geld wert wären. Außerdem — wer eiert denn rum? Haben wir ihnen auf der heutigen Sitzung keinen Standort angeboten?«
»Ich dachte, das würde der Geheimhaltung unterliegen«, sagte sie. Auf der Sitzung hatte Wissenschaftsminister de Pasqual nämlich betont, dass es keine öffentliche Verlautbarung geben würde, bis der Rat es offiziell bekannt gab.
Er war sichtlich besorgt, die Befindlichkeit der Australier zu verletzen.
»Du vergisst, für wen ich arbeite. Mein Chef musste die Auswahl unterzeichnen. Etwas irritiert mich aber immer noch.«
»Was denn?«
»Die drei Standorte, die deine Chefs sich ausgesucht hatten. Wieso wollten sie sich gerade an so gottverlassenen Orten niederlassen?«
»Ich verstehe die Frage nicht«, erwiderte Tory. In Wahrheit verstand sie sie nur zu gut. Die Phelaner hatten sich diese drei Standorte ausgeguckt, weil sie eine riesige, dünn besiedelte Peripherie hatten, die von der Dritten Flotte benötigt würde. Aber das konnte sie Ben natürlich nicht auf die Nase binden.
»Was finden sie denn so reizvoll am Hinterland?«, fragte er.
Sie lachte gezwungen und hoffte, dass er es nicht gleich heraushören würde. »Eigentlich waren die Antarktis und die Sahara meine Idee.«
»Ich dachte, du magst die Phelaner.«
»Ich sagte mir, dass es der Assimilation förderlich wäre, wenn man sie von den größten Ballungsräumen isolieren würde. Es sind nämlich nicht alle Phelaner so wie Faslorn und die anderen, musst du wissen. Im Schnitt sind sie genauso diplomatisch wie ein normaler Mensch.«
»Wirklich so schlimm?«
»Vielleicht habe ich etwas übertrieben. Aber es wäre doch besser, wenn die zwei Populationen sich nicht mischen, bis die Phelaner sich an uns gewöhnt haben. Und dann brauchen sie Land, um Getreide anzubauen. Sie haben keine Ahnung, wie schwierig es für sie wird, mit der natürlichen Biosphäre der Erde zu konkurrieren.«
»Damit soll auch vermieden werden, dass sie Seuchen oder Bakterien verbreiten.«
»Unmöglich.«
»Das haben die Biologen mir jedenfalls gesagt. Ich hoffe, dass sie recht haben.«
Tory leerte ihr Glas. Ben füllte es für sie nach. Er studierte sie für eine Weile und räusperte sich dann. »Haben deine Leute sich schon Gedanken darüber gemacht, wann die Abstimmung erfolgen soll?«
»Ist das der Grund, weshalb du mich heute Abend zum Essen eingeladen hast?«
»Mein Chef sagte, wir sollten vielleicht zuerst ein paar Dinge in privater Runde erörtern und sehen, ob wir einen gemeinsamen Nenner finden.«
»Wie wär's, wenn wir den Termin für die Abstimmung auf nächste Woche legen?«
Er schüttelte den Kopf. »Zu früh. Die Bevölkerung muss erst psychologisch darauf vorbereitet werden. Sonst bestimmen die Anti-Phelaner-Fraktionen die Tagesordnung und die Berichterstattung.«
»Hast du denn eine bessere Idee?«
»Wir dachten an zwei Wochen nach der dichtesten Annäherung des Sternenschiffs an Sol.«
»Warum so spät?«
»Ganz einfach. Ihr Leute wollt doch eine große Show daraus machen, wenn das Lichtsegel in die Korona eintaucht, nicht wahr?«
»Woher weißt du das?«
»Die Mitarbeiter des Nachrichtendiensts des Rats wären ja tolle Spione, wenn wir das nicht wüssten. Wie wär's, wenn du mich über deine Pläne ins Bild setzt?«
Tory skizzierte kurz die Maßnahmen der Botschaft, um das »Rendezvous« des Sternenschiffs mit Sol zu veröffentlichen. Das Ereignis war so aktuell, dass es von den großen Nachrichtenagenturen gebracht und dahingehend dramatisiert wurde, dass die Far Horizons das Eintauchen in die dicke Suppe vielleicht nicht überlebte, die Sol umgab. Der Beitrag der Botschaft sollte dann darin bestehen, mitfühlende Experten zu präsentieren, die den Mut der Außerirdischen lobten. Außer den reinen Pressemeldungen planten die Phelaner dann noch eine Liveübertragung der mehrstündigen Begegnung. Das Programm würde von pro-phelanischer Propaganda triefen, und es sollten alle Register der Public Relations gezogen werden.
Als Tory fertig war, nickte Tallen. »Sobald das Sternenschiff die Sonne umrundet hat, setzen wir offiziell die Abstimmung an. Wenn die Botschaft ihre Hausaufgaben gemacht hat, wird die Abstimmung eine überwältigende Mehrheit zu ihren Gunsten ergeben.«
»Und wenn die Far Horizons es nicht schafft, ist der Rat eh vom Haken«, stellte Tory fest.
»Diesen Faktor gilt es natürlich zu berücksichtigen. Aber wir wollen optimistisch sein. Angenommen, die Entscheidung fällt zu seinen Gunsten aus, wann will Faslorn die Bibliothek der Phelaner an uns übergeben?«
»Die erste Tranche wird fällig, wenn die erste Schiffsladung am Standort der Kolonie landet. Wir werden weitere Abschnitte in der Bauphase der Kolonie freigeben und die letzte Tranche dann am Ende des zehnten erfolgreichen Jahres.«
»Einverstanden«, sagte Ben. »Wir werden sowieso ein gutes Jahrzehnt brauchen, um die neue Technologie zu integrieren. Der Erste Rat hat jedoch um eine Demonstration des guten Willens durch die Phelaner gebeten.«
»Welche Demonstration?«
»Nichts Besonderes. Vielleicht ein paar medizinische Gimmicks, die wir dem Volk präsentieren können. Du wirst bei Hoffenzoller einen Stein im Brett haben, wenn die Phelaner sein Magengeschwür kurieren.«
»Da werde ich erst Faslorn fragen müssen.«
»Natürlich.«
»Sonst noch etwas?«
»Ja, da gäbe es noch ein paar Punkte, über die wir sprechen sollten ...«
Tory kehrte kurz nach Mitternacht ins Penthouse zurück. Sie hatte eigentlich vorgehabt, Ben einzuladen, bei ihr zu übernachten, aber er hatte zu ihrer Überraschung den Gentleman gespielt. Doch als sie sich einen Gute-Nacht-Kuss gaben, war das alte Feuer fast wieder angefacht worden. Beim Betreten des Penthouse stellte sie fest, dass Faslorn auf sie wartete.
»Genau wie in den alten Zeiten«, sagte sie.
»Ich bitte um Verzeihung.«
»Mein Vater hat auch immer auf mich gewartet, wenn ich spät von einer Verabredung zurückkehrte. Ich glaube, das tat er nur, um die Boys alt aussehen zu lassen.«
Faslorn lachte. Er hatte das angenehmste Lachen von allen Phelanern. »Trotz meiner jahrelangen Studien muss ich gestehen, dass die sexuellen Sitten und Gebräuche der Menschen mir noch immer ein Rätsel sind.«
»Das gilt auch für die meisten Menschen selbst.«
»Was wollte Tallen denn?«
Sie rekapitulierte das Gespräch mit Ben über die Abstimmung und die anschließende Gründung der phelanischen Kolonie.
Faslorn runzelte die Stirn. »Was glauben Sie, wessen Position er bei dieser Eröffnung vertreten hat?«
»Praesert Sadibayan, vielleicht auch den Ersten Minister Hoffenzoller.«
»Und was glauben Sie, weshalb man um dieses informelle Gespräch gebeten hat? Man hätte diese Dinge doch auch bei der morgigen Konferenz besprechen können?«
»Vielleicht waren sie der Ansicht, dass sie mehr in Erfahrung bringen würden, wenn ich mit Ben in einer intimen Atmosphäre allein war. Er hat mir den ganzen Abend Wein kredenzt. Vielleicht wollte er mich betrunken machen.«
»Und ist ihm das gelungen?«
»Nein, leider nicht! Das ist es auch, was ich an diesem Job am meisten hasse. Ich darf es nicht wagen, mich gehen zu lassen.«
»Es dauert nur noch ein paar Monate. Dann wird die Far Horizons sicher sein, und wir können mit der Errichtung unserer Kolonie beginnen.« Diese Worte waren an diejenigen gerichtet, die vielleicht mithörten. In Wirklichkeit lagen nämlich noch weitere sechs Jahre harter Arbeit vor ihnen, um sich auf die Ankunft der Dritten Flotte vorzubereiten. »Hat er sonst noch etwas gesagt?«
»Er wollte wissen, weshalb wir ausgerechnet diese Standorte für die Kolonie ausgesucht hätten. Ich habe es ihm damit erklärt, dass Ihre Leute sich erst einmal akklimatisieren müssten, bevor sie sich unter eine größere Anzahl von Menschen mischten.« Auch das war an die Adresse potenzieller Lauscher gerichtet.
»Habt ihr beiden euren Streit denn beigelegt?«
Sie lächelte. »Wir haben zumindest einen Anfang gemacht.«
»Werden Sie ihn wiedersehen?«
»Er hat mich für nächste Woche erneut eingeladen. Ich habe mich aber noch nicht entschieden, ob ich die Einladung annehmen werde oder nicht. Hängt von meinem Terminkalender, ab.«
»Ich finde, Sie sollten seine Einladung annehmen«, erwiderte der Phelaner. »Es wird Ihnen bestimmt guttun, mehr Zeit mit Ihren Artgenossen zu verbringen.«
»Ach ja?«
»Ich glaube sowieso, dass Sie zu hart arbeiten.«
»Was schwebt Ihnen denn vor?«
»Vielleicht könnten Sie Maratel ein bisschen von der Erde zeigen. Sie hat den Wunsch geäußert, sich mit Menschen vor einem rein gesellschaftlichen Hintergrund zu treffen.«
»Ich werde der Reiseabteilung der Botschaft sagen, dass sie etwas arrangieren soll.«
Als sie dann wieder in ihrem Apartment war, hatte sie Schwierigkeiten, einzuschlafen. Sie musste ständig an Ben denken. War es möglich, ein altes Feuer wieder zu entfachen? Sie stellte sich diese Frage noch, als sie endlich in einen unruhigen Schlaf abdriftete.