26
Tory stand auf dem Balkon des Wohnbereichs der phelanischen Botschaft und suchte den Himmel nach Flugzeugen ab. Es herrschte ein Flugbetrieb wie auf einer Airshow. Direkt über und unterm Balkon schwebten drei Polizei-Hover-Cruiser. Sie balancierten auf Unterbodendüsen und schienen am Himmel festgenagelt. Das normalerweise leise Zischen dieser Fluggeräte geriet durch die Schalltrichterwirkung der Häuserschluchten zu einem Crescendo. Der warme Wind der Triebwerksabgase strich übers Dach, zerrte an ihrer Kleidung und zerzauste ihr das Haar.
Viel höher und weiter weg zogen mehrere helle Funken am klaren blauen Himmel ihre Bahn: Militärflugzeuge. Und in den Häuserschluchten verborgen waren die Polizeieinheiten, die ganze acht Straßenzüge abgeriegelt hatten. Die Polizei hatte den ganzen Büroturm unterhalb der Botschaft besetzt und die paar Tausend Menschen evakuiert, die normalerweise im Gebäude arbeiteten. Überall waren Wachen postiert. Die unteren zwei Etagen der Botschaft waren auch verlassen. Von den menschlichen Mitarbeitern hatte sich seit drei Tagen keiner mehr blicken lassen.
Tory verzog das Gesicht und beobachtete das patrouillierende Flugzeug. Sie hatte natürlich gewusst, dass es so enden würde — aber doch erst in sechs Jahren! Nun würden sie nie erfahren, ob der großartige Plan der Phelaner funktioniert hätte. Das fein gesponnene Gespinst aus Fiktion, das der Plan darstellte, war durch einen einzigen ausgefransten Wahrheitsfaden aufgedröselt worden.
Die Reaktion auf Dard Pierces Enthüllung war genauso schnell wie verheerend gewesen. Selbst Räte, die normalerweise nichts aus der Fassung zu bringen vermochte, waren aufgesprungen und hatten die Phelaner verflucht. Weitere scharfe Anklagen waren gefolgt, als verschiedene Politiker sich attestierten, schon immer gegen die phelanische Resolution gewesen zu sein. Auch nach drei Tagen war die Atmosphäre noch hoch explosiv. Es schien, als ob jeder Amtsinhaber und Funktionär auf dem Planeten sich im Nachhinein als Widerstandskämpfer gegen die Außerirdischen profilieren wollte.
Die Geschichte war mit Lichtgeschwindigkeit um die Welt gegangen und hatte sich im Weltraum verbreitet. Damit einhergegangen war eine Schockwelle aus Unglauben und Wut. Als dieser erste Schock abflaute, verlegten die Nachrichtenagenturen sich auf Ausschmückungen, um das Interesse der Öffentlichkeit aufrechtzuerhalten. Es hatte ein regelrechter Rummel eingesetzt, und die Wissenschaftler überboten sich mit ihren Prognosen bezüglich der Größe der Dritten Flotte. Die höchste Schätzung, die Tory bisher mitbekommen hatte, belief sich auf 250.000 Sternenschiffe mit über dreißig Milliarden Flüchtlingen. Die Botschaft hatte auch keinen Versuch unternommen, diese bizarren Übertreibungen zu korrigieren — die Wahrheit war auch so schon schlimm genug.
Zwei Jahre lang hatte Tory sich in schlaflosen Nächten schweißgebadet gefragt, wie die Leute ihren Part bei diesem Täuschungsmanöver wohl bewerten würden. Nun erübrigten sich alle weiteren Fragen. Wenige Minuten nach der Enthüllung von Dard Pierce war sie zu einem Paria unter ihren Leuten geworden. Sie hatte kaum den Ausgang der Besuchergalerie erreicht, als sie von einem Trupp Marinesoldaten in Anti-Riot-Monturen abgefangen wurde. Ein Leutnant, dessen formelle Höflichkeit sich nicht in seinem Blick widerspiegelte, setzte sie davon in Kenntnis, dass er den Auftrag hatte, sie zur Botschaft zu eskortieren. Von Torys eigenen Sicherheitsleuten war nichts zu sehen gewesen.
Zumindest respektierten sie noch die Unverletzlichkeit der verlassenen Botschaft. Sie hatte Faslorn und die anderen jedoch darauf hingewiesen, dass das wahrscheinlich nicht mehr lange anhalten würde. Die Phelaner hatten keine Möglichkeit, ihre Vertreter zu schützen. Sie waren den irdischen Behörden auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Ein Lichtblitz von einem nahe gelegenen Büroturm sagte Tory, dass ihre Beobachter nicht nur am Himmel hingen. Sie fragte sich, wie viele Telefotolinsen zurzeit auf sie gerichtet waren und wie viele Fernrohre? Es war eine bedrückende Vorstellung. Die Luft wurde sozusagen ihrer natürlichen Freiheit beraubt. Stirnrunzelnd drehte sie sich um und ging durch den Dachgarten zum Wohnbereich zurück.
An das, was als Nächstes geschehen würde, wollte sie gar nicht denken.
Alle fünf hatten sich im Ei verschanzt, um eine Strategie zu entwickeln. Außer einer Warnung, die an die Far Horizons übermittelt worden war, hatte es weder mit dem Sternenschiff noch mit dem System-Rat eine Kommunikation gegeben. Die Funkverbindung zum Sternenschiff stand aber noch, genauso wie Torys Verbindung mit dem Ratscomputer. Man konnte nur spekulieren, wie lange es noch dauern würde, bis die Behörden auch diese letzten Nachrichtenwege unterbrachen.
Es herrschte eine düstere Stimmung am kleinen Konferenztisch in der Mitte der kugelförmigen Anlage, um den sie sich versammelt hatten. Die Luft war geschwängert mit dem Geruch nach menschlichem Schweiß, Farbverdünner und Zimt. Die Deckenbeleuchtung war gedimmt worden, sodass der glühende Holobildschirm, auf dem die Umlaufbahn der Far Horizons angezeigt wurde, die hauptsächliche Lichtquelle war.
»Worauf warten sie noch?«, fragte Maratel. »Wieso verhaften sie uns nicht einfach?«
»Es ist die Far Horizons«, sagte Tory und deutete gestikulierend auf den Bildschirm. »Die Behörden wissen noch nicht, ob sie das Schiff jetzt schon entern oder noch warten sollen, bis Ihre Leute in die Parkbahn gehen.«
»Das dürfen sie nicht!«, sagte Faslorn. »Das wird die Flotte davon überzeugen, dass alles verloren ist. Die Kommandeure werden dann Vorbereitungen für eine neue interstellare Reise treffen.«
»Sie würden die Sonne zur Explosion bringen, wenn Ihr Schiff aufgebracht würde? Einfach so? Ohne Vorwarnung?«
»Die Vorbereitungen würden in dieser Phase eine Neupositionierung der Flotte beinhalten, um einen Sicherheitsabstand von Sol einzuhalten. Man würde vermeiden wollen, von der Nova erfasst zu werden. Die eigentliche Zündung Ihrer Sonne würde erst in drei oder vier Jahren beginnen.«
»Dann bliebe noch Zeit für eine Neubesinnung.«
Raalwins Geste war eine phelanische Verneinung. »Das Entern des Scoutschiffs zu diesem Zeitpunkt würde mit größter Wahrscheinlichkeit eine Umgruppierung der Flotte nach sich ziehen. Wenn die abgeschlossen ist, kann die Entscheidung, zu einem anderen Stern zu fliegen, nicht mehr rückgängig gemacht werden.«
»Was meinen Sie mit >zu diesem Zeitpunkt?«, fragte Tory.
Faslorn signalisierte sein Einverständnis, bevor Raalwin antwortete. »Es haben in der Zwischenzeit Entwicklungen stattgefunden, die wir aus guten Gründen vor Ihnen verheimlicht haben, Tory. Die Hauptkommunikationsanlage der Far Horizons, über die wir mit der Flotte kommuniziert hatten, ist bei der Passage durch die Korona Ihres Sterns beschädigt worden.«
»Inwiefern beschädigt?«
»Die Anlage ist ins Lichtsegel eingebettet. Ein paar wichtige Schaltungen sind durch das Gas verschmort worden.«
»Sie müssen doch Redundanzsysteme haben.«
»Die Reserve-Baugruppe befindet sich am hinteren Verschlussdeckel nahe der Stelle, wo Maratel Ihnen die Ankersphäre gezeigt hatte. Sie wird zurzeit vom Segel blockiert. Wir können sie erst dann verwenden, wenn das Segel abgeworfen wurde, nachdem die Far Horizons in die Parkbahn gegangen ist.«
»Ich sehe das Problem immer noch nicht.«
»Für drei lange Monate werden diejenigen, die befehlen, sich bei der Beurteilung unsres Fortschritts nur auf menschliche Nachrichtenquellen und ihr eigenes Urteilsvermögen verlassen müssen. Sie haben die Welle des Hasses in den letzten drei Tagen selbst erlebt. Was glauben Sie wohl, wie diejenigen, die befehlen, reagieren werden, wenn diese Hasstiraden sie in ein paar Monaten erreichen?«
»Nicht erfreut«, sagte Tory bedrückt.
»Richtig. Und stellen Sie sich erst ihre Reaktion vor, wenn sie die Nachricht von der Kaperung oder Zerstörung der Far Horizons erhalten.«
»Aber sie sind doch schon so weit gekommen! Sie werden das alles doch wohl nicht aus einer Laune heraus drangeben.«
»Das ist keine Laune«, sagte Raalwin. »Das Schicksal unserer Spezies steht auf dem Spiel. Wir müssen uns absolut sicher sein, ob wir den Menschen vertrauen können oder ob wir uns einen anderen Stern suchen müssen.«
»Verdammt! Die meisten Ihrer Schiffe würden eine weitere interstellare Reise doch gar nicht mehr bewältigen. Das haben Sie mir ein Dutzend Mal oder öfter selbst gesagt.«
»Stimmt«, erwiderte der phelanische Politologe. »Die Projektionen prognostizieren auf der zweiten Etappe der Reise eine Ausfallrate von fünfundsiebzig Prozent. Hunderte Millionen werden zugrunde gehen, wenn ihre Lebenserhaltungssysteme versagen.«
»Und das wäre Ihnen lieber, als mit uns Frieden zu schließen?«
Maratel streckte die Hand aus und legte sie auf Torys. »Sie verstehen nicht. Viele werden sterben, aber nicht alle. Die Rasse wird überleben. Deshalb hatten wir auch beschlossen, viele kleine Schiffe anstatt ein paar großer zu bauen. Wir können bis zu drei Reisen wie die letzte unternehmen, bevor auch das letzte Schiff verschlissen ist.«
»Wenn Ihre Leute die Sonne vernichten, werden sie euch und jeden an Bord der Far Horizons töten.« Tory hatte diesen Satz noch nicht beendet, als ihr bewusst wurde, dass ihr Einwand zu offensichtlich war, als dass die anderen nicht von selbst daraufgekommen wären.
Faslorns untere Hände flatterten in einer Geste, die Maratel ihr einmal demonstriert hatte: die Akzeptanz, dass manche Dinge sich jemandes Kontrolle entziehen — eine Geste der ultimativen Resignation.
»Das ist unsere Funktion, Victoria Bronson«, sagte er und nannte sie zum ersten Mal seit Monaten bei ihrem vollen Namen. »Wir wurden hierher entsandt, um herauszufinden, ob wir die Menschen dazu bewegen können, uns zu akzeptieren. Unsere Studien Ihrer Leute sagen uns, dass das Risiko von vornherein sehr groß war. Vielleicht wären wir erfolgreich gewesen, wenn wir genug Zeit gehabt hätten, die Menschheit auf den Schock vorzubereiten - vielleicht aber auch nicht. Wir haben immer gewusst, dass wir unser Leben verwirken würden, wenn wir versagen. Schließlich ist ein Schiff mit Spezialisten für Homo Sapiens kaum noch zu etwas nütze, wenn Ihre Rasse nicht mehr existiert.«
»Verdammt, Sie können doch jetzt nicht einfach aufgeben!«, schrie Tory. »Wir müssen Zeit schinden und nach einem Ausweg aus diesem Dilemma suchen.«
»Die Dinge sind schon zu weit fortgeschritten. Ihre Leute haben sich dafür entschieden, uns zurückzuweisen. Es gibt keine Chance, sie noch umzustimmen.«
»Quatsch. Es gibt immer eine Chance.« Tory bemerkte die flüchtigen Blicke, die die vier Außerirdischen wechselten. Sie war in der Deutung phelanischer Emotionen nicht bewandert genug, um Nuancen zu erkennen, aber man musste auch kein Genie sein, um zu wissen, was sie dachten. Sie fragten sich, ob ihr armer menschlicher Diener gerade einen Nervenzusammenbruch erlitt.
»Was schlagen Sie vor, Victoria?«
Sie runzelte die Stirn. In Wirklichkeit hatte sie gar keine Idee, was sie als Nächstes tun sollten. »Sie werden der Vollversammlung sagen müssen, dass Sie die Sonne zerstören werden, wenn man Sie abweist«, sagte sie vor lauter Verzweiflung. »Machen Sie ihnen die Konsequenzen ihrer Handlungsweise bewusst.«
Faslorn schüttelte in einer sehr menschlichen Geste langsam den Kopf. »Gerade das dürfen wir nicht tun.«
»Aber wieso nicht?«
»Wie war Ihre erste Reaktion, als wir Ihnen unser Geheimnis offenbarten?«
»Ich wollte Ihnen empfehlen, zum Teufel zu gehen!«
»Und warum taten Sie es nicht?«
»Weil es keinen Sinn gehabt hätte außer dem, dass ich mich dann vielleicht besser gefühlt hätte.«
»Und als Sie zu diesem Schluss gekommen waren, sagten sie sich, dass es besser wäre, uns bei unserem Schwindel zu helfen, als Ihren Leuten die Wahrheit zu sagen.«
»Natürlich.«
»Und wie haben Sie diese letzten zwei Jahre geschlafen, im Bewusstsein, das Richtige für die Menschheit zu tun?«
»Sie wissen verdammt gut, wie ich geschlafen habe.«
»Genau«, sagte Faslorn. »Sie sind nämlich eine hoch intelligente Person und in der Lage, eine Entscheidung zu rationalisieren, mit der Sie eigentlich nicht zufrieden sind. Zu dumm, dass die Einzelpsychologie nicht auch auf den Menschen als Massenwesen übertragbar ist. Sonst wäre es nämlich möglich, vernünftig mit Ihren Leuten zu reden.«
»Sie wissen ihre Reaktion sowieso nicht im Voraus.«
»Wissen wir doch. Wir haben die Simulation ein paar Millionen Mal laufen lassen - immer mit dem gleichen Ergebnis. Ihre Leute befinden sich zurzeit in einem hoch emotionalen Zustand. Sie haben das Denken praktisch eingestellt und quasi auf automatische Steuerung geschaltet. Sie sind wild entschlossen, uns zu bestrafen, weil wir ihnen die Existenz der Dritten Flotte verschwiegen haben. Wenn wir ihnen jetzt auch noch sagen, dass wir über die Mittel verfügen, Ihre Sonne zu zerstören, würden wir sie nur in ihrer Meinung bestärken, dass wir die Inkarnation des Bösen schlechthin seien. Zumal Ihre Leute uns auch noch furchten würden, wenn sie die Wahrheit erführen, und ihr Menschen neigt dazu, das zu zerstören, was ihr fürchtet. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Es ist zu tief in euren Genen verankert.
Außerdem wird uns sowieso niemand glauben. Die meisten werden sich weigern, der unangenehmen Wahrheit ins Auge zu sehen. Sie werden uns der Lüge zeihen. Andere werden versuchen, ihr Mütchen an uns zu kühlen. Jeder Führer, der zur Mäßigung rät, wird von den Kriegstreibern niedergebrüllt. Und am Ende wird es Krieg geben, und diejenigen, die befehlen, werden unsere Flotte anweisen, die Sonne zu vernichten.«
Torys Stirnrunzeln verwandelte sich in einen verdrießlichen Gesichtsausdruck. Er hatte natürlich recht. Weil es keine Möglichkeit gab, vor der Bedrohung zu fliehen, wäre Kampf die natürliche Reaktion. Die Kriegstrommeln würden ertönen, die Flotte würde aufsteigen und in Abwehrstellung gehen. Wahrscheinlich würden Hunderte oder gar Tausende außerirdischer Sternenschiffe beim Anflug aus dem Raum abgefangen oder zerstört werden. Und wenn die Weltraummarine noch so viele abschoss, es würde nicht genügen. Ein einziges überlebendes Schiff der Phelaner konnte Sol immer noch zerstören und sich von der Druckwelle davontreiben lassen. Überhaupt würden Neutrinos mit genau dosierter Energie in die Sonne eindringen, lange bevor die Dritte Flotte in Schussweite der Marine kam. Wenn die Instabilität einmal ausgelöst war, gäbe es kein Halten mehr. Sonst würde sich jetzt nicht ein Viertel der Spezies der Phelaner im »Vorgarten« von Sol tummeln. Zumal Tory angesichts der Bewaffnung in Gestalt der Lichtsegel bezweifelte, dass die Marine mehr als einen kleinen Bruchteil der zweiundzwanzigtausend anfliegenden Sternenschiffe außer Gefecht zu setzen vermochte.
Lichtsegel als Waffen ...
Tory versuchte den streiflichtartigen Gedanken zu »kultivieren«, damit er ihr nicht wieder entwischte. Er weckte eine Assoziation in ihrem Bewusstsein, die wiederum einen Denkprozess in Gang setzte. Vielleicht hatten die Phelaner das Problem doch nicht richtig durchdacht. Die Enthüllung ihrer Stärke würde den Menschen im Sonnensystem natürlich Angst einjagen. Aber würden sie sich auch genug ängstigen? Sie biss sich auf die Lippe und ließ den Gedanken reifen. Es war wirklich eine verrückte Idee mit einer Million Dingen, die schiefgehen konnten. Und selbst wenn alles glatt ging, war das immer noch keine Erfolgsgarantie.
Sie warf einen Blick auf den Bildschirm, der den Fortschritt der Far Horizons beim Erreichen ihres Parkplatzes in der Sonnenumlaufbahn abbildete. Das Schiff war nur noch ein paar Tagesreisen vom Ziel entfernt. Es bestand natürlich das Problem der Kommunikation und des Timings. Würde man ihnen überhaupt gestatten, zu kommunizieren? Würde die Marine der Far Horizons so viel Zeit geben, um den Plan umzusetzen oder würde sie das Schiff entern und mit Bildern von Marinesoldaten, die durch die Gänge des Sternenschiffs trampelten, das Schicksal der Menschheit besiegeln?
Sie dachte an Garth Van Zandt, der jetzt irgendwo im Weltraum war. War er vielleicht schon im Anflug auf das Lichtsegel? Was war mit den anderen Schiffen, die die Marine zur Beschattung des Sternenschiffs abgestellt haben musste? Wie nah waren sie schon? Würden sie der Far Horizons noch rechtzeitig auf die Schliche kommen, um es zu verhindern?
Und dann stellte sie sich die Frage nach ihrer Verantwortung bei dieser ganzen Sache.
In den Augen der ganzen Menschheit galt sie praktisch jetzt schon als Verräterin. Und was würden die Menschen erst von ihr denken, wenn sie erfuhren, dass es ihre Idee gewesen war? Würden sie sie jemals verstehen, oder würde der Name Victoria Bronson den Schurken und Verrätern auf der schwarzen Liste der Menschheitsgeschichte hinzugefügt werden?
Sie wurde sich bewusst, dass sie keine Antwort auf ihre Fragen hatte. Für jemanden, der an den stetigen Datenfluss von einem Computerimplantat gewöhnt war, war diese Ungewissheit nur schwer zu ertragen. Aber sie sah nicht, dass sie in dieser Sache eine Wahl gehabt hätte. Ihre Untätigkeit würde die Vernichtung der Sonne bedeuten.
Tory atmete tief durch und schaute auf Faslorn. »Ich habe vielleicht eine Idee, wie man die Situation entschärfen könnte. Sie ist aber mit einem gewissen Risiko verbunden. Im schlimmsten Fall werden sie uns sofort töten ...«
Es war ein schöner Tag, als Tory sich im großen Saal des System-Rats wiederfand. Das Licht der Spätsommersonne fiel in schrägen Bahnen durch die transparente Kuppel, durchschnitt die Luft und strahlte die tanzenden Stäubchen an, die den Luftreinigern entronnen waren. Der Saal war wieder voll besetzt. Es schien, als ob jeder auf dem Planeten in diesem kritischen Moment anwesend sein wollte. Die Leute, die keinen Besucherausweis ergattert hatten, saßen zu Hause vor ihren Bildschirmen.
Einen Termin zu arrangieren war am schwierigsten gewesen. Als Faslorn erstmals um die Erlaubnis gebeten hatte, vor dem Rat zu sprechen, hatte Boerk Hoffenzoller noch für denselben Abend eine Krisensitzung vorgeschlagen. Zu seiner Enttäuschung hatte der Phelaner diesen Vorschlag abgelehnt und auf einer Vorlaufzeit von ganzen vier Tagen bestanden. Hoffenzollers erster Impuls war gewesen, die Forderung als unangemessen zurückzuweisen. Er hatte das dann aber doch nicht getan, weil die Sache zu wichtig war, um die üblichen Machtspielchen zu spielen. Außerdem war er neugierig darauf, was die Außerirdischen zu sagen hatten.
Tory und die vier Phelaner trafen zur vereinbarten Stunde ein und wurden sofort zu ihren Plätzen auf dem Boden der großen Halle geführt. Die Phelaner hatten aus gegebenem Anlass ihre menschlichen Charaktere abgelegt und waren nun wieder die außerirdischen Wesen, die im Namen ihrer Spezies handelten. Tory wähnte sich im Fokus von tausend feindseligen Blicken, als sie ihren Platz neben den vier weiß bepelzten Aliens einnahm.
Pünktlich auf die Minute ging Boerk Hoffenzoller zum Podium und rief die Versammlung zur Ordnung. Die Delegierten verstummten, als der Erste Rat Papiere auf dem Pult verschob. Dann hob er mit der gewichtigen, sonoren Stimme zu sprechen an, die Politiker für Begräbnisse und die Bekanntgabe von Katastrophen reserviert hatten.
»Meine Damen und Herren. Vor einer Woche haben wir erfahren, dass Tausende außerirdischer Sternenschiffe uns heimsuchen werden, die weiß Gott wie viele neue Münder transportieren, die wir stopfen müssen. Der Anführer der Phelaner hat darum gebeten, vor diesem Rat sprechen zu dürfen, um die Situation zu klären. Ich möchte Sie bitten, ihn anzuhören, und ich überlasse es der Gewissensentscheidung jedes Einzelnen von Ihnen, inwieweit Sie seinen Worten Glauben schenken. Ich erteile Ihnen das Wort, Faslorn, Anführer der Phelaner.«
Bei der Erwähnung seines Namens erhob sich Faslorn und ging im Knöchelgang zur Bühne. Er und Hoffenzoller begegneten sich und hielten für einen kurzen Wortwechsel inne. Der Unterschied zwischen dem pelzigen Außerirdischen und dem graumelierten älteren Menschen war markant.
Faslorn erreichte die Bühne. »Meine Damen und Herren des Rats«, sagte er. »Menschen von Sol. Ich überbringe Ihnen Grüße von den Leuten von Tau Ceti, die Ihrer Hilfe dringend bedürfen. Viele von Ihnen fühlen sich betrogen, weil wir Ihnen nichts von den zahlreichen Schiffen gesagt haben, die sich nun im Anflug auf Ihren Stern befinden. Ich kann Ihnen das auch nicht verdenken. Dennoch möchte ich Sie bitten, zu versuchen, dieses Gefühl hintanzustellen und über die kritische Situation nachzudenken, in der unsere beiden Arten sich befinden. Ich glaube, es wird sich für Sie lohnen, mir zuzuhören.
Es hat viele Spekulationen über die Anzahl der Schiffe gegeben, die zu Sol unterwegs sind. Die Dritte Flotte besteht aus zweiundzwanzigtausenddreihundertachtzehn Sternenschiffen, von denen jedes die Größe des Scoutschiffs hat, das Ihnen als die Far Horizons bekannt ist. Die gesamte Population der Phelaner an Bord dieser Schiffe beläuft sich auf zwei Komma acht Milliarden.«
Faslorn wartete, bis das zornige Raunen, mit dem seine Erklärung quittiert wurde, nachließ. »Das ist also das Geheimnis, das wir bewahrt hatten. Wir hatten eigentlich gehofft, Sie von unserem Anliegen zu überzeugen, bevor die Flotte sich offenbarte, aber das hat sich jetzt erledigt. Sei's drum.«
Faslorn erzählte von dem schrecklichen Tag, als die Phelaner sich bewusst wurden, dass ihr Stern verloren war — wobei er freilich den wesentlichen Aspekt unterschlug, dass die Phelaner selbst die Ursache gewesen waren. Er erzählte von der großen Anstrengung, die Schiffe zu bauen, die für die Rettung der phelanischen Rasse benötigt wurden. Er beschrieb die Nova und die Wucht, mit der die vier Flotten zu ihrer langen Reise zu den Sternen katapultiert worden waren. Er schilderte, dass er im Lauf seiner Kindheit und Jugend gesehen hätte, wie der winzige gelbe Funke der Sonne immer heller wurde und dass er sich gefragt hatte, wie die Menschheit wohl reagieren würde, wenn sie von den Phelanern erfuhr.
Die im Saal Anwesenden hörten schweigend zu, als Faslorn sie ans Füllhorn der Wunder erinnerte, das da sprudeln würde, wenn sie seinem Volk nur Zuflucht gewährten. Für mehr als zwanzig Minuten zeichnete er in den schönsten Farben ein Bild von einer lichten Zukunft, die Menschen und Phelaner gleichermaßen winkte. Schließlich verstummte er und ließ den Blick über die unzähligen menschlichen Gesichter um sich herum schweifen.
»Wenn Sie uns bei sich aufnehmen, meine Damen und Herren, kommen Sie in den Genuss aller Vorteile, die aus einem Wissensvorsprung resultieren. Der Vollständigkeit halber darf ich Sie jedoch darauf hinweisen, dass wir noch eine andere Option haben. In den letzten hundert Stunden haben viele Ihrer Führer darauf gedrungen, dass Ihre Schiffe des Kriegs eingesetzt werden, um uns wieder in den interstellaren Raum abzudrängen. Da ein Rückzug unmöglich ist, werden wir uns solchen Versuchen mit allen Mitteln widersetzen. Jeder Versuch einer Störung wird von der Dritten Flotte als eine Kriegshandlung betrachtet.
Viele von Ihnen fragen sich möglicherweise, ob wir überhaupt in der Lage seien, die menschliche Rasse auf ihrem Territorium zu bekämpfen. Das ist nur natürlich. Schließlich haben einige in dieser Körperschaft uns als Lügner und Aufschneider bezeichnet. Eine gesunde Skepsis ist für jedes denkende Wesen angebracht, aber ein allzu großes Misstrauen kann auch gefährlich sein. Um Sie davon zu überzeugen, dass wir unseren Worten auch Taten folgen lassen können, werden wir Ihnen nun eine kleine Demonstration unserer Macht zeigen.«
Faslorn drehte sich um und ging zu seinem Platz zurück. Tory sah die verwirrten Blicke, die ihm folgten. Eine große Erwartung bemächtigte sich der Anwesenden. Es dauerte ein paar Minuten, bevor irgendjemand bemerkte, dass das Licht, das durch die Fenster fiel, immer trüber wurde.