11
Nach der Landung der Austria verharrten Tory und Garth für eine Weile in Reglosigkeit. Die Realität ihrer Präsenz im Innern des außerirdischen Sternenschiffs war einfach überwältigend. Die monatelange mentale Vorbereitung hatte sie nämlich nicht für den Sturm der Gefühle gerüstet, der ihren schiefen Blick auf die umgebenden weißen Wände und das blaue Deck begleitete.
Garth erlangte als Erster die Fassung zurück. Mit den Bedienelementen in der Armlehne schaltete er durch die Ansichten der verschiedenen Hüllenkameras. Aus ihrer Darstellung wurde ersichtlich, dass die Austria in einem Abteil mit der Form einer Käseecke lag. An der Spitze verlief eine komplexe Struktur aus Rohren und Trägern, die den bei den Marskindern so beliebten Klettergerüsten ähnelte. Dem Labyrinth gegenüber lag der schwammige blaue Boden, der der Austria als sanftes Ruhekissen diente. Aus mehreren Kameraperspektiven sah man, dass ihr Schiff einen Meter tief in den Bodenbelag eingesunken war.
»Was glaubst du, was das ist?«, fragte Tory und deutete auf das komplexe Röhrengeflecht, das entlang der Drehachse des Sternenschiffs verlief.
»Wahrscheinlich der Kiel. Wenn du es bis zum Ende zurückverfolgst, wirst du das Lichtsegel daran verankert finden.«
Weil die Austria auf der Seite lag, schienen die Beschleunigungsliegen nun an der Rückwand des Kontrollraums montiert zu sein. Van Zandt löste die Gurte und schwebte zu einem ehemals vertikalen Schott, das nun ein Deck mit einer Abweichung von zwanzig Grad von der Horizontalen darstellte. Tory folgte Garth' Beispiel, und bald balancierten die beiden auf den Fußballen und beugten und streckten die Beinmuskulatur, um sie nach der langen Untätigkeit wieder in Schwung zu bringen.
»Fünf Prozent Standard«, schätzte Garth den Zug der örtlichen Rotationsschwerkraft.
Tory befragte den Computer des Schiffs und schüttelte den Kopf. »Du liegst zu hoch. Zwei Komma drei Prozent.«
Plötzlich lief eine Erschütterung durchs Schiff. Im nächsten Moment war draußen das leise Geräusch entweichender Luft zu vernehmen. Innerhalb von Sekunden trübte wabernder Expansionsnebel die Perspektive der externen Heckkamera. Die ans Vakuum des Raums gewöhnte Austria knarrte und ächzte, als der Druck sich um sie herum aufbaute.
»Atmosphärenkontrolle«, sagte Garth, als die orkanartigen Windgeräusche nachließen.
»Druck: Eins Komma null zwei Standard. Temperatur: minus hundert Grad mit steigender Tendenz. Zusammensetzung: Stickstoff vierundsiebzig Prozent, Sauerstoff vierundzwanzig Prozent, Helium ein Prozent, Kohlendioxyd null Komma null fünf Prozent. Der Rest sind Spurengase. Für die Bildung von Wasserdampf ist es natürlich zu kalt.«
»Es entspricht zwar nicht genau dem, woran wir gewöhnt sind, aber man kann es aushalten«, erwiderte er. »In Ordnung. Alle Antriebssysteme sichern.«
»Gesichert.«
»Alle Radargeräte aus.«
»Aus.«
»Stromversorgung der Computer auf interne ...« Das Safing-Verfahren nahm noch ein paar Minuten in Anspruch. »Sollen wir jetzt mal nach Eli und der Ärztin schauen?«, fragte Garth, als das Schiff gesichert war.
»Nach dir«, entgegnete Tory.
Die beiden schwebten durch den Achsendurchgang nach achtern. Die minimale Rotationsschwerkraft war immerhin noch so stark, dass sie bei der Bewegung durch die Gänge, die durch die Steuerbord-Schlagseite verfremdet wurden, unter Desorientierung litten.
Sie fanden Kit und Eli in der Offiziersmesse. Garth teilte ihnen Torys Analyse der Umgebungsluft mit. Kit, die gerade eine eigene Auswertung vorgenommen hatte, pflichtete ihr bei.
»Dann wird das Atmen also kein Problem sein?«
»Zumindest nicht aufgrund der chemischen Zusammensetzung. Mit Blick auf die Mikroben vermag ich das leider nicht zu sagen. Wir verfügen leider nicht über genügend Hilfsmittel, um diese Bedrohung abzuschätzen.«
»Aber besteht überhaupt eine Gefährdung? Meines Wissens besagt die aktuelle Theorie, dass Menschen als Wirtskörper für extrasolare Mikroben ungeeignet seien.«
»Das ist noch die Frage. Würdest du dein Leben auf die Richtigkeit dieser Theorie wetten?«
»Ich kann deinen Standpunkt nachvollziehen. Welche Möglichkeiten hättest du also?«
»Ich werde Hautabschuppungen von jedem von uns kultivieren, sie der örtlichen Luft und dem Wasser aussetzen und dann auf allergische Reaktionen und andere Unverträglichkeiten testen. Das wäre zwar nur eine behelfsmäßige Methode, würde aber trotzdem eine Identifizierung potenzieller Risiken ermöglichen.«
»Wie lange würden die Tests dauern?«
»Eine Woche, vielleicht auch zwei.«
»Schneller ginge es nicht?«
»Nicht, wenn ich die Unbedenklichkeit der Biochemie von Tau Ceti nachweisen will. Zumal die Hauttests sowieso nur eine vorläufige Maßnahme wären. Um wirklich auf Nummer Sicher zu gehen, müsste einer von uns für ein paar Wochen draußen leben, während der Rest von uns hier unter Quarantäne steht. Wenn unser menschliches Versuchskaninchen einen Monat überlebt, ist es dort vielleicht sicher ... vielleicht aber auch nicht.«
»Und ist das auch dein medizinischer Rat?«
»Eher nicht«, sagte Kit. »Wir sollten uns keine unnötigen Sorgen wegen irgendwelcher Mikroben machen.«
»Wieso nicht?«, sagte Eli. Dem verkniffenen Gesicht nach zu urteilen goutierte er die Wendung nicht, die die Unterredung genommen hatte.
»Weil artenübergreifende Infektionen in beide Richtungen wirken. Wir sind eine ebenso große Bedrohung für die Phelaner wie sie für uns. Eigentlich eine noch größere. Wir riskieren nur unser individuelles Leben. Sie hingegen riskieren einen großen Teil dessen, was von ihrer ganzen Spezies noch übrig ist. Andererseits — wenn sie der Ansicht gewesen wären, dass eine Gefahr von uns ausginge, hätten sie uns erst gar nicht an Bord gelassen.«
»Hoffst du.«
Kit nickte. »Hoffe ich.«
»In Ordnung. Tory, protokolliere meine Entscheidung bitte im Logbuch. Eli, wie ist unser Kommunikationsstatus?«
»Wir halten Funkstille, Kapitän. Ich habe die Sendetätigkeit eingestellt, als wir an Bord kamen. Seitdem empfange ich nur noch Echos. Selbst wenn wir den Rumpf durchdringen würden, hätten wir unser Ziel in dem Moment verloren, als wir die Leitsterne verloren.«
»Richtig«, entgegnete Garth. »Wir werden uns überlegen müssen, wie wir den Funkkontakt wiederherstellen.«
»Glaubst du, dass die Phelaner uns helfen werden?«
»Wir können nicht mehr tun, als sie zu fragen. Tut sich schon irgendetwas da draußen?«, fragte Garth und deutete auf den Bildschirm der Messe.
»Nichts.«
»Temperatur?«
»Minus vierzig und weiter ansteigend«, meldete Tory.
»Sollen wir mal unsere Gastgeber abrufen und schauen, was sie in petto haben?«
Guttieriz betätigte die Wechselsprechanlage. Er musste sich strecken, um die Bedienelemente zu erreichen. Man musste nur die Abruftaste drücken, um sofort eine Antwort zu erhalten.
»Ja?«, ertönte die Stimme eines Phelaners aus den Tiefen des Bildschirms. Tory war sich nicht sicher, glaubte aber, dass es Faslorn war.
»Dr. Claridge hat ihre Besorgnis wegen einer möglichen Krankheitsübertragung zum Ausdruck gebracht.«
»Seien Sie unbesorgt, Kapitän. Unsere Biochemie ist so verschieden, dass man eine Ansteckung auszuschließen vermag.«
»Sind Sie sicher?«
»Ziemlich sicher.«
Kit Claridge schaute die anderen mit diesem »Ich-hab's-euch-doch-gesagt«-Blick an, äußerte sich aber nicht weiter dazu.
»Dann sind wir bereit, das Schiff zu verlassen.«
»Ausgezeichnet. Warten Sie bitte noch ein paar Minuten, Kapitän. Wir brauchen noch mehr Zeit, um die Luft im Hangar zu erwärmen.«
»Wann dürfen wir rauskommen?«
»Wir werden uns in zehn Minuten außerhalb Ihres Schiffs treffen. Ich werde Sie dann zu unserem Regierungszentrum geleiten — was Sie wohl als unser >Rathaus< bezeichnen würden.«
»Es ist uns eine Ehre. Ich bin überzeugt, dass Sie noch viele andere Aufgaben an Bord dieses Schiffs wahrnehmen müssen.«
»Ich habe mein ganzes Leben auf diesen Moment gewartet. Ihr Menschen seid es, die mir die Ehre erweisen.«
Weil die Austria auf der Seite lag, war nur noch eine einzige Luftschleuse frei: eine kleine Schleuse, die normalerweise Wartungszwecken diente. Nach den zehn Minuten, die ihnen wie zehn Stunden erschienen waren, bahnten sie sich durch schräge Korridore einen Weg zur Backbordseite des Schiffs. Garth öffnete die runde Luke manuell und schwang sich in den dahinter liegenden Wartungstunnel. Die anderen drei schauten ihm zu: Er arbeitete sich wie ein Bergsteiger, der in einem Felskamin steckte, den langen, schrägen Tunnel empor. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er die Außenluke geöffnet hatte. Beim Öffnen knackte es in Torys Ohren, und ein Schwall kalter Luft brandete plötzlich gegen sie an. Sie drängten sich vorm Tunnel, als Garth ins klare weiße Licht in der Hangarbucht ausstieg und dann verschwand.
»Wer will als Nächstes gehen?«
»Ich«, sagte Tory mutiger, als ihr eigentlich zumute war. Sie glitt in den Tunnel und erreichte nach fünfzehn Sekunden die offene Außenluke. Dort angekommen stieg sie zaghaft auf den Sims, der durch das Süll der Luke gebildet wurde. Sie befand sich ganze fünf Meter über dem blau ausgelegten Deck. Perspektivisch verkleinert hockte Garth Van Zandt unter ihr und schaute angestrengt unter die Austria.
»Was ist denn los?«, rief sie.
Er schaute beim Klang ihrer Stimme auf. »Nichts. Ich will nur den Schaden feststellen.«
»Hast du schon was festgestellt?«
»Nein. Dieses Zeug scheint uns schön abgefedert zu haben.«
Sie schaute sich suchend nach etwas zum Festhalten um, fand aber nichts. »Wie soll ich denn hier runterkommen?«
Er grinste sie an. »Spring!«
Vergrätzt erinnerte sie sich daran, dass ein Fünf-Meter-Sprung in einem Zwei-Prozent-Schwerefeld nichts war, wovor man sich furchten musste — zumal sie die ganze Zeit auf Phobos gelebt hatte! Selbst auf dem Mars entsprach ein solcher Sprung dem Sturz von einem einstöckigen Haus auf der Erde. So dicht an der Drehachse der Far Horizons befanden sie sich fast in Mikrogravitation. Es war bezeichnend für Torys geistige Verfassung, dass keine dieser rationalen Überlegungen eine beruhigende Wirkung auf ihre Nerven hatte.
Sie ließ die Füße über dem Rand baumeln, versuchte mit den Händen das Gleichgewicht zu halten und stieß sich ab. Sekundenlang hing sie in der Luft und ging bei der Landung auf dem gepolsterten Deck in die Hocke. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich indes als unnötig. Die blaue Beschichtung war dick und elastisch, sodass sie den Aufprall kaum spürte.
»Eine Art Schaumstoff mit geringer Dichte«, entgegnete Garth auf ihre unausgesprochene Frage; er stand selbst knöcheltief in dem Zeug. Dann widmete er sich wieder der Inspektion der Austria.
»Was machst du denn da?«
»Ich frage mich, ob wir vier imstande wären, sie in diesem Schwerefeld wieder aufzurichten.«
»Schlag dir das aus dem Kopf. Selbst bei zwei Prozent sprechen wir hier von ein paar Tonnen Gewicht und vollen hundert Tonnen Masse.«
»Vielleicht könnten wir sie rüberrollen«, sagte er. »Zumindest so weit, um die Luftschleuse mittschiffs wieder freizumachen.«
»Vielleicht«, sagte sie in zweifelndem Ton.
Just in diesem Moment erschien Kit Claridge in der offenen Luke über ihnen. Sie stand unsicher auf dem Süll und stieg dann aus. Wie Tory schien auch sie für eine Ewigkeit in der Luft zu hängen. Sie landete auf ihrem runden Hinterteil und sprang wie auf einem Trampolin wieder in die Höhe. Sie grinste.
»Nicht sehr würdevoll«, kommentierte Tory.
»Aber lustig. Wo sind überhaupt unsere Gastgeber?«
»Sie sind noch nicht aufgetaucht. Vielleicht warten sie, bis wir alle uns hier versammelt haben.«
Keine Minute später schloss Eli Guttieriz sich ihnen an. Als er sich aufrappelte, öffnete sich eine Luke im entgegengesetzten Schott. Tory hätte schwören können, dass es eben noch nicht da gewesen war.
Das erschienene Wesen bewegte sich wie eine irdische Krabbe auf sie zu. Tory wurde sich bewusst, dass das die typische Bewegung eines Vierfüßlers in niedriger Schwerkraft war. Nur dass die Phelaner keine Vierfüßler waren. Oder er bildete dahingehend eine Ausnahme, dass er vier Glieder zur Fortbewegung nutzte. Er hatte aber noch zwei weitere Gliedmaßen, sodass er insgesamt über ein halbes Dutzend verfügte. Das verlieh ihm die Anmutung eines vielarmigen Hindu- oder Shinto-Gottes.
Wie ein Mensch waren die Phelaner axial bisymmetrisch und hatten einen Rumpf, aus dem diverse Anhängsel sprossen. Der dreieckige Kopf saß auf einem langen, flexiblen Hals, der ihm allem Anschein nach die Fähigkeit verlieh, nach hinten zu schauen. Die beweglichen Ohren waren in ständiger Bewegung, als ob sie ihre Umgebung abtasteten. Der dünne Rumpf wurde von breiten Schultern auf einem zweiten, etwas schmaleren Rumpfsegment abgeschlossen. Zwei kleine, gelenkige Arme wuchsen aus den oberen Schultern, während die zweite Schulter-Konfiguration sich etwa im Bereich der kurzen Rippe eines Menschen befand. Das untere Paar Arme war lang und muskulös. Faslorn verwendete diese Zwischenglieder und die stumpfartigen Beine, um sich in einem Knöchelgang wie ein Schimpanse fortzubewegen.
Faslorn drehte ihnen in einer Begrüßungsgeste alle vier Hände mit der Handfläche zu. Dabei zeigte er die unterschiedlichen Finger. Es waren sechs Finger an jeder Hand — zwei opponierbare Daumen außen und vier lange Finger dazwischen. Weiterhin offenbarte die Geste, dass die oberen Arme der Phelaner über zwei Ellbogen und ein Handgelenk verfügten. Einer der Ellbogen ermöglichte eine Rückwärtsbiegung des Arms. Mit dieser »Konfiguration« vermochte Faslorn die Arme in einer Bewegung auszustrecken, die an einen Scherenwagenheber erinnerte.
Der Körper des Phelaners wurde von einem weichen weißen Daunenkleid bedeckt, das kein Gefieder, aber auch kein Pelz war. Tory nahm sich vor, die Außerirdischen um die Erlaubnis zur Untersuchung dieses erstaunlichen Fells zu bitten, sobald sie sich besser kannten. Schwarze Flecke waren — scheinbar wahllos — über Faslorns Körper verteilt. Seine Kleidung bestand aus einer Shorts und einem Koppelgürtel, an dem der güldene Komet eines Raumschiffskapitäns befestigt war. Das Abzeichen war mit dem an Garth' Kragen identisch, und Tory fragte sich, ob das Kostüm ein original phelanisches war oder nur ein Versuch, menschliche Modevorstellungen nachzuempfinden.
Menschen und Phelaner nahmen sich gegenseitig in Augenschein. Die Kluft zwischen ihnen war viel größer als die drei Meter kalter Luft, die sie trennten. Sie beinhaltete die kumulierte Entwicklung, die über sechs Milliarden Jahre einer getrennten Evolution stattgefunden hatte. Nicht zum ersten Mal fragte Tory sich, ob es ein universales Prinzip gab, das die Existenz zweier physisch so ähnlicher Rassen im Abstand von nur zwölf Lichtjahren und praktisch im selben Moment in der Geschichte zuließ. Vielleicht, sagte sie sich, sah es nur wie eine Art Zufall aus — wie der scheinbare Zufall, dass eine Mondfinsternis auf der Erde immer nur bei Vollmond auftritt. Welchem Phänomen auch immer die Tatsache geschuldet war, dass Phelaner und Menschen so nah beieinander lebten, sie konnte es kaum erwarten, es herauszufinden.
Niemand sagte etwas. Es war, als ob sie stillschweigend übereingekommen wären, diesen Moment auszukosten. In gewisser Weise verloren beide Arten gerade ihre Jungfräulichkeit. Nie wieder würde für beide von ihnen ein Erstkontakt mit einer fremden Intelligenz stattfinden. Tory spürte ein Brennen, als Tränen ihr in die Augen stiegen. Und sie war damit nicht allein. Ein leises Schniefen von Eli Guttieriz kündete davon, dass auch er Schwierigkeit hatte, die Contenance zu bewahren.
Faslorn ergriff als Erster das Wort. »Ich weiß nicht, ob Sie ermessen können, wie viel Ihre Anwesenheit an Bord dieses Schiffs für uns bedeutet. Wir haben euch Menschen unser Leben lang studiert. Und dass wir Ihnen nun leibhaftig begegnen ...« Die Lautstärke der irgendwie schmalzigen Stimme verringerte sich bis zur Unhörbarkeit.
»Wir bringen Ihnen die gleichen Gefühle entgegen«, sagte Garth.
»Wirklich?«
»Die Begegnung mit anderen intelligenten Wesen ist seit einem halben Jahrtausend unser Traum.«
»Unsrer währt schon viel länger«, erwiderte Faslorn. »Tatsächlich hatten unsere Vorfahren bereits in Erwägung gezogen, mit euch Menschen Kontakt aufzunehmen, bevor Tau Ceti zur Nova wurde.«
»Wirklich?«
»Ich muss freilich gestehen«, sagte das Alien mit einer Mimik, die bei den Möglichkeiten seiner Physiologie einem Lächeln am nächsten kam, »dass sie nicht vorhatten, die Reise persönlich durchzuführen. Gibt es sonst noch etwas, das ich für Sie tun kann, bevor wir ins eigentliche Habitat überwechseln?«
»Unser Schiff«, sagte Garth. »Kann man es wieder in Ordnung bringen?«
»In Ordnung bringen?«
»Es wieder auf die Landeteller stellen.«
»Natürlich«, sagte Faslorn. »Ich werde die entsprechenden Anweisungen erteilen. Außerdem wird es Sie vielleicht interessieren, dass wir Vorbereitungen treffen, um Ihr Antriebsmodul ins Schlepptau zu nehmen.«
»Wie das?«
»Die Operation könnte Sie durchaus interessieren. Ich habe es arrangiert, dass Sie beim morgen stattfindenden Manöver zuschauen können. Gibt es sonst noch etwas?«
»Kommunikation. Unsere Funkverbindung ist zurzeit unterbrochen. Die Erde wird sich allmählich Sorgen machen.«
»Unsere Techniker arbeiten bereits an diesem Problem. Die Schwierigkeit bestand darin, dass wir nicht wussten, wie Sie mit Ihrer Basis kommunizieren. Wir waren deshalb nicht in der Lage, schon vorab Ersatz bereitzustellen.«
»Wir benutzen einen Strahl kohärenter Mikrowellen ...«, hob Eli an.
»Ja, das haben wir auch festgestellt, als Sie an Bord kamen. Wir konfigurieren gerade einen Maser mit der gleichen Frequenzspreizung. In einer Stunde müssten Sie wieder >auf Sendung< sein.«
»Ausgezeichnet.«
»Außerdem werden wir selbst auch eine Freundschaftsdepesche senden, wo Sie nun an Bord sind.«
»Wieso haben Sie das nicht schon vor ein paar Monaten getan?«, fragte Eli.
»Wir hielten es für das Beste, Ihre Ankunft abzuwarten, Professor Guttieriz. Kommen Sie, lassen Sie uns dorthin gehen, wo es wärmer und die Schwerkraft höher ist.«
Faslorn führte sie zur Luke im Schott. Die Menschen folgten ihm in einem kleinen Pulk. Nachdem sie die Hangarbucht verlassen hatten, geleitete er sie zu einem kleinen Aufzug. Es war zwar ziemlich beengt, aber sie vermochten sich alle hineinzuquetschen. Die Tür schloss sich, und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Ihr Gewicht schien sich fast schlagartig zu erhöhen.
Das Erste, was Tory nach dem Schließen der Lifttür bemerkte, war Faslorns Geruch. Sein Körpergeruch war nicht unangenehm, nur anders. Er erinnerte sie an eine Kombination aus Zimt und Farbverdünner, und sie war überrascht, dass sie es zuvor nicht bemerkt hatte. Vielleicht war die Luft auf dem Hangardeck nur zu kalt gewesen; oder die in Tanks konservierte Luft war von allen »Duftmarken« der Erbauer des Sternenschiffs gereinigt worden.
Und dann bemerkte sie, dass ihr Implantat die Verbindung mit dem Computer in der Ladebucht der Austria verloren hatte. Die Signalverlust-Warnung ertönte in dem Moment lautlos in ihrem Kopf, als die Tür sich schloss. Garth bemerkte ihren schmerzlichen Gesichtsausdruck und fragte sie, ob etwas nicht stimmte.
»Mein Implantat. Es ist gerade offline gegangen.«
Faslorn, der mit dem Rücken zu Tory stand, demonstrierte die Flexibilität von Phelaner-Wirbeln, indem er den Kopf um hundertachtzig Grad drehte. Sie schaute in zwei dunkle Augen.
»Die Hangarwände sind für Radiosignale undurchlässig, Miss Bronson. Ist das ein Problem?«
»Zumindest in der Hinsicht, dass der Kontakt mit dem Computer der Austria abgebrochen ist«, erklärte sie.
»Ich muss Ihnen gestehen, dass wir nichts haben, was mit dem Implantat vergleichbar wäre und auch — noch — nicht wissen, wie diese Vorrichtung funktioniert.«
»Das ist auch kein Geheimnis«, erwiderte Tory. »Ein Implantat ist eigentlich nur ein spezieller Breitbandsender mit einer direkten Bewusstseins-Schnittstelle.«
Faslorn gab einen Ton von sich, den sie bisher noch nicht gehört hatten. Tory hatte keine Ahnung, ob er Belustigung, Verdruss oder was auch immer ausdrückte. »Das Studium Ihrer Rasse krankt leider daran, dass wir unsre Informationen im Wesentlichen aus Unterhaltungsprogrammen bezogen haben. Wir waren gezwungen, sehr viel aus sehr wenigen substanziellen Informationen abzuleiten. Wir haben natürlich gesehen, wie Ihre Schauspieler den Einsatz von Implantaten vortäuschten, aber wir haben kaum belastbare Daten gewonnen.«
Eli Guttieriz runzelte die Stirn. »Sie müssen ja einen denkbar schlechten Eindruck von uns haben, wenn Holovision Ihre primäre Informationsquelle ist.«
»Sie wären überrascht, wie viele nützliche Informationen in solch einer Sendung enthalten sind, Professor. Leider ist die Ausbeute mit Blick auf harte technische Fakten sehr gering. Miss Bronson, würden Sie es für unschicklich halten, wenn ich Ihnen ein paar Fragen bezüglich Ihres Implantats stelle?«
»Nur zu.«
»Dieser Signalverlust. Hat er Ihnen Seelenqualen verursacht. Desorientierung?«
»Überhaupt nicht. Es glich eher dem Wechsel von einem lauten in einen stillen Raum. Eine geringfügige Beeinträchtigung, mehr nicht.«
»Trotzdem kann Desorientierung auftreten.«
»Sicher, aber nur wenn ein Implantat durch eine Sendeverzögerung die Synchronisierung mit dem Basiscomputer verliert. Wenn man sich in einem Radius von hundert Kilometern um die Quelle aufhält, gibt es normalerweise keine Probleme.«
Faslorns Kopf bewegte sich in einer gelungenen Imitation eines menschlichen Nickens auf und ab. »Dann werden Implantat-Übertragungen also nicht auf die Satellitenverbindungen gelegt?«
»Natürlich nicht. Bei der Zeitverzögerung, die dadurch entsteht, dass das Signal erst in den Raum abgestrahlt wird und dann wieder zurückläuft, würde der Benutzer schier verrückt werden.«
»Wären Sie eventuell bereit, die menschliche Computerschnittstelle unseren Wissenschaftlern zu erklären? Vielleicht können sie das Signal kopieren, sodass wir den Kontakt mit Ihrem Schiff wiederherstellen können.«
»Ich habe noch eine bessere Idee«, erwiderte sie. »Ich werde später vom Computer der Austria die Schnittstelle-Spezifikationen ausdrucken lassen.«
»Das wäre sehr nett.«
Faslorn wollte sich gerade richtig zu ihr umdrehen, als der Aufzug stoppte. Obwohl die Fahrt fast eine Minute gedauert hatte, war die Rotationsschwerkraft noch nicht auf dem Niveau, das sie für das oberste Deck des Sternenschiffs ermittelt hatten. Die Aufzugstüren glitten zurück, und sie schauten in eine große Abteilung mit mehr als hundert Außerirdischen, die in zwei Gruppen vor den Fahrstuhltüren angetreten waren. Der Geruch nach Zimt und Farbverdünner drohte sie plötzlich zu überwältigen, und es lagen auch noch andere Gerüche in der Luft. Außer dem für Raumschiffe typischen Geruch nach Maschinenöl waberten Düfte durch den Raum, die nicht so leicht zu identifizieren waren — Tausende von Duftstoffen, die auf einer Welt weit weg von der Erde synthetisiert worden waren: das Nebenprodukt einer vollumfänglichen außerirdischen Biosphäre.
Tory ignorierte die drohende Geruchsüberlastung jedoch völlig. Hinter den wartenden Außerirdischen befand sich eine transparente Wand, und dahinter wiederum eine künstliche Welt.
Wie jedes Besatzungsmitglied bereits festgestellt hatte, wies die Far Horizons eine frappierende Ähnlichkeit mit einer menschlichen Lagrange-Kolonie auf. Wie die großen Kolonien, die an den gravitationsstabilen Punkten im Erde-Mond-System umliefen, war das Sternenschiff ein riesiger Hohlzylinder, der durch die Drehung um seine Achse ein künstliches Schwerefeld erzeugte. Man hatte eine Miniaturversion der Heimatwelt der Phelaner im Zylinder eingerichtet und Seiten dann verschlossen.
Die Abteilung, in der sie sich nun aufhielten, befand sich hoch oben im vorderen Verschlussdeckel des großen Zylinders — am entgegengesetzten Ende des Lichtsegels. Ihr Standpunkt bescherte ihnen eine Panoramaansicht einer röhrenförmigen grün-goldenen Welt. Oben an der Drehachse des Zylinders hing eine Leuchtröhre. Das Licht, das sie ausstrahlte, hatte einen höheren Orangeanteil als das Licht von Sol, aber auch einen höheren Gelbanteil als auf den Fotos, die sie von Tau Ceti vor der Nova gesehen hatten. Die Sonnenröhre musste den Schubkiel umschließen, den sie in der Hangarbucht gesehen hatten - bis Tory sich sagte, dass es keinen Grund gab, weshalb eine künstliche Sonne nicht auch hohl sein sollte.
Einen halben Kilometer unter der Sonnenröhre erstreckte sich das künstliche Terrain, mit dem die Innenwand des kilometerbreiten Zylinders ausgekleidet war, in alle Richtungen. Es gab zweifellos noch zahlreiche Decks unter dem »Ackerland«, und doch musste das Gesamtvolumen all dieser Decks nur einen geringen Prozentsatz der riesigen Höhle ausmachen, die das Habitat des Schiffs darstellte. Auf einem Planeten suchte das menschliche Auge die natürliche Begrenzung des Horizonts, damit das Gehirn in der Lage war, die Dinge ins rechte Verhältnis zu setzen. Hier gab es keinen Horizont - nur eine sanft ansteigende Landschaft, wo die Details mit der Entfernung immer kleiner wurden, bis sie schließlich vom Licht der Sonnenröhre verschluckt wurden.
Tory hob den Blick und folgte der Sonnenröhre bis zu dem Punkt, wo sie nach ungefähr vier Kilometern im entgegengesetzten Verschlussdeckel verschwand. Zwei Flüsse entsprangen aus dem gegenüberliegenden Deckel direkt unterhalb der Sonnenröhre und stürzten dann in synchronen spiralförmigen Wasserfällen in die Tiefe, bis sie einen Viertelkilometer über dem Habitatboden in einer weißen Gischtwolke verschwanden. Aus dieser Gischt entsprangen wieder zwei Flüsse und mäanderten über die gewölbte Fläche der Zylinderwände, bis sie die volle Länge des Schiffs durchflossen hatten, und wurden dann wieder in Gegenrichtung umgelenkt. Tory folgte dem Verlauf des näheren Flusses, doch die Mündung verschwand in der Ferne. Vermutlich mündete der Fluss im entgegengesetzten Verschlussdeckel des Zylinders und wurde dann zur Drehachse zurückgepumpt, wo der lange Fall wieder von vorn begann.
Vom Fluss richtete Tory ihre Aufmerksamkeit nun auf die Felder. Sie schaute auf eine Miniaturwelt mit akkuraten sechseckigen Feldern, in die sechseckig angelegte Dörfer eingestreut waren. Sie erinnerte sich an die sechs Finger an Faslorns Händen und lächelte. Die Phelaner hatten ein Fingerzählsystem wie die Menschen entwickelt; folglich verwendeten sie ein Zahlensystem auf der Basis Zwölf.
Bei der Größe des Schiffs war es schwierig, alles auf einmal zu erfassen. Tory stellte aber fest, dass, wenn sie sich jeweils auf einen Punkt konzentrierte, sie Details mit einer immer kleineren Skalierung auszumachen vermochte. Sie konzentrierte sich für einen Moment auf eine Biegung des Flusses, die das gelbe Licht der Leuchtröhre reflektierte. Dann suchte sie einen größeren Bereich ab und richtete den Blick auf die Stelle direkt unterhalb ihres bisherigen Blickwinkels. So erspähte sie einen Pfad, der zwei Dörfer miteinander verband, die beide aus »Bienenkörben« in einer kontrastierenden Farbgebung bestanden. Auf halbem Weg zwischen den zwei Dörfern floss ein Bach, der von einer kleinen Brücke überspannt wurde, die auch in einen japanischen Ziergarten gepasst hätte.
Dann sah sie, wie ein perspektivisch verkleinerter Fußgänger über die Brücke ging und zügig zum näher gelegenen Dorf marschierte. In ihrer natürlichen Schwerkraft hatten die Phelaner eine fließende und natürliche Gangart. Sie erinnerte sie an den Knöchelgang der großen Menschenaffen oder auch an einen Menschen, der besonders geübt im Umgang mit Krücken war. Aber kein Mensch hätte sich so schnell auf Krücken bewegt, wenn er noch eine solche Last in seinem Extrapaar Arme getragen hätte.
Faslorn gab ihnen fast eine Minute, um die atemberaubende Schönheit dieses Anblicks auf sich wirken zu lassen, und sagte dann mit dröhnender Stimme: »Meine Damen und Herren von der Erde. Wir möchten Sie bei uns zu Hause willkommen heißen — in der Hoffnung, dass Sie sich dafür revanchieren mögen.«