Prolog
New Orleans
24. August 1927
Dafür, dass du mich zurückgewiesen hast, sollst du sterben …
Néomi Laress stand am oberen Ende ihrer Prachttreppe und blickte auf den brechend vollen Ballsaal hinab, während sie sich bemühte, die Erinnerung an Louis Robicheaux’ Drohung zu verdrängen.
Sie hielt mehrere in Seide gehüllte Rosenbouquets im Arm, so wie man einen Säugling halten würde. Es waren Geschenke von einigen Männern, die sich nun in der Menge der Ballgäste amüsierten, einer kunterbunten Mischung aus ausgelassen feiernden Freunden, reichen Gönnern und Zeitungsreportern. Eine schwüle Brise zog aus dem Bayou herauf und durch den Saal und trug einige Takte der Musik des zwölfköpfigen Orchesters mit sich nach draußen.
… du wirst mich um Gnade anflehen.
Sie unterdrückte einen Schauer. In letzter Zeit war das Verhalten ihres Exverlobten noch erschreckender geworden und seine Versöhnungsgeschenke noch extravaganter. Néomis langjährige Weigerung, mit Louis zu schlafen, hatte diesen frustriert und verärgert, aber die Auflösung ihrer Beziehung hatte ihn in Wut versetzt.
Der Blick in seinen blassen Augen heute Abend … Sie versuchte, jeglichen Gedanken daran abzuschütteln. Für diese Veranstaltung hatte sie Wachen engagiert. Louis hatte keine Möglichkeit, an sie heranzukommen.
Ein Bewunderer, ein gut aussehender Bankier aus Boston, bemerkte sie auf ihrem erhöhten Aussichtspunkt und begann zu klatschen. Die Menschenmenge folgte seinem Beispiel, und sie stellte sich vor, dass sich ein Vorhang hob. Langsam breitete sich ein liebenswürdiges Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
„Bienvenue!“ Sie begann die Stufen hinabzusteigen. „Seien Sie alle herzlich willkommen.“
Niemand würde je ihre Angst bemerken. Sie war eine ausgebildete Ballerina, aber vor allem war sie Unterhaltungskünstlerin. Sie würde sich durch den ganzen Saal arbeiten, hier mit leichtem Spott necken, dort ein geflüstertes Bonmot fallen lassen, sie würde sämtliche Kritiker mit ihrem Charme überwältigen und sogar den seriösesten Gästen ein Lachen entlocken.
Obwohl ihre Arme bereits von dem Gewicht der zahlreichen Bouquets schmerzten und sie von einem Blitzlicht nach dem anderen geblendet wurde, verlor sie ihr Lächeln nicht. Sie stieg eine weitere Stufe hinab.
Sie würde es auf keinen Fall zulassen, dass Louis ihr diesen Abend des Triumphes verdarb. Vor drei Stunden hatte sie vor ausverkauftem Haus die Vorstellung ihres Lebens abgeliefert und Elancourt, ihr frisch renoviertes Herrenhaus im gotischen Stil, wurde von tausend Kerzen glänzend hell erleuchtet. Durch das Tanzen hatte sie die sorgfältige Wiederherstellung ihres neuen Heims, sowie dessen kostspielige Ausstattung bezahlen können.
Die Party war perfekt bis ins kleinste Detail, und draußen schmiegte sich eine Mondsichel an den Himmel. Ein Mond, der ihr Glück bringen würde.
Ihr Kleid für diesen Abend war eine etwas gewagtere Version des Kostüms, das sie vorhin auf der Bühne getragen hatte, der Satin so pechschwarz wie ihr Haar. Es besaß ein enges Mieder, das vorne geschnürt wurde wie ein Korsett aus vergangenen Zeiten, und einen Schlitz im Rock, der fast bis zu der Stelle hinaufreichte, wo ihre Strümpfe am Strumpfgürtel befestigt waren. Ihr Make-up orientierte sich am Stil der Hollywood-Diven. Sie hatte sich die Augen mit dunklem Kajal umrandet, blutroten Lippenstift aufgetragen und die kurzen Fingernägel in einem dunklen Karminrot lackiert.
Zusammen mit dem eng anliegenden Juwelenhalsband und den Ohrringen hatte das Ensemble sie ein kleines Vermögen gekostet, aber der heutige Abend war es wert. Heute Abend waren all ihre Träume endlich in Erfüllung gegangen.
Nur Louis konnte ihn noch ruinieren. Sie zwang sich, ihre dunklen Vorahnungen zu ignorieren, und verfluchte ihn innerlich sowohl auf Englisch als auch auf Französisch, wodurch sich ihre Anspannung endlich etwas löste.
Um ein Haar wäre sie auf den Stufen ins Stolpern geraten. Dort war er, stand am Rande der Menschenmenge und starrte zu ihr hinauf.
Ganz im Gegensatz zu seinem für gewöhnlich so perfekten und gepflegten Äußeren hatte er den Krawattenknoten gelockert, und sein blondes Haar war zerzaust.
Wie war er bloß an den Wachen vorbeigekommen? Louis war unglaublich reich – hatte der Mistkerl sie bestochen?
Seine blutunterlaufenen Augen brannten in einem wahnsinnigen Feuer, dennoch war sie davon überzeugt, dass er es nicht wagen würde, ihr vor so vielen Zeugen etwas anzutun. Schließlich befanden sich Hunderte von Menschen in ihrem Haus, Reporter und Fotografen eingeschlossen.
Allerdings traute sie ihm durchaus zu, eine Szene zu machen oder ihre skandalträchtige Geschichte an die Öffentlichkeit zu bringen. Ihre vornehmen Gönner drückten angesichts der Possen und Mätzchen von Néomi und ihren Freunden gerne mal ein Auge zu, aber sie hatten nicht die geringste Ahnung, was sie war, geschweige denn, welchen Beruf sie früher ausgeübt hatte.
Mit erhobenem Kinn und durchgedrückten Schultern setzte sie ihren Weg über die Stufen fort, aber ihre Hände umklammerten die Rosen mit stählernem Griff. In ihrem Inneren kämpften Ärger und Furcht miteinander. Gott möge ihr beistehen, aber sie würde ihm die Augen auskratzen, wenn er ihr das hier verderben würde.
Kurz bevor sie die unterste Stufe erreicht hatte, begann er, sich mit Ellbogeneinsatz durch die Menschen zu drängen. Sie versuchte, dem stattlichen Wachmann an der geöffneten Terrassentür ein Zeichen zu geben, aber die Menschenmenge schloss sie ein, sodass sie buchstäblich in der Falle saß. Sie versuchte sich einen Weg zu der Wache zu bahnen, aber jeder wollte der Erste sein, der ihr gratulierte.
Als Néomi hörte, wie Louis die Leute hinter ihr zur Seite schubste, verwandelten sich ihre sanften Entschuldigungen – „Pardonnez-moi, ich bin gleich wieder bei Ihnen“ – in ein „Lassen Sie mich durch!“.
Er näherte sich ihr. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie seine Hand einen Gegenstand aus seiner Jackentasche hervorholte. Doch nicht etwa noch ein Geschenk? Das wird schrecklich peinlich werden.
Als seine Hand vorschoss, wirbelte sie herum und ließ die Bouquets fallen. Metall glitzerte im Kerzenlicht. Mit weit aufgerissenen Augen schrie sie auf …
Gerade als er ihr ein Messer in die Brust stieß.
Schmerz … unvorstellbarer Schmerz. Sie konnte hören, wie die Klinge über ihre Knochen schabte, spürte seine Kraft, die die Messerspitze in ihrem Rücken wieder austreten ließ. Während sie sich in seine Arme krallte, drangen widerliche Laute aus ihrer Kehle. Die Umstehenden wichen entsetzt zurück.
Das darf nicht geschehen …
Erst als er die blutbefleckten Finger vom Messergriff löste, brach ihr Körper auf dem Fußboden zusammen. Überall um sie herum lagen Rosenblüten verstreut, Blütenblätter legten sich sanft um das Heft, das aus ihrer Brust herausragte. Stumm starrte sie an die Decke, während warmes Blut aus ihrem Rücken sickerte und sich in einer Pfütze um sie herum sammelte. Sie nahm die Stille im Saal wahr, in dem nur Louis’ gehetztes Atmen zu hören war, der sich nun neben sie hinkniete und zu weinen begann.
Das ist alles nicht wahr …
Dann zerriss der erste hysterische Schrei die Stille. Menschen flüchteten, schubsten und drängelten sich um sie. Schließlich hörte sie die Rufe der Wachen, die sich durch die Menge kämpften.
Und noch immer war Néomi am Leben. Sie war zäh, eine Überlebenskünstlerin – sie würde nicht in ihrem Traumhaus an ihrem Traumabend sterben. Kämpfe …
Louis umfasste erneut den Messergriff, sodass sich die Klinge in ihrem Leib bewegte. Todesqualen … zu viel … ich ertrage es nicht … Aber sie hatte nicht genug Luft, um zu schreien, nicht die Kraft, um ihre matten Arme zu erheben und sich zur Wehr zu setzen.
Mit ersticktem Gebrüll drehte er die Klinge in der Wunde herum. „Fühl es für mich, Néomi“, keuchte er ihr ins Ohr. Der Schmerz vervielfältigte sich, strahlte von ihrem Herzen bis in die entlegensten Teile ihres Körpers aus. „Fühle, was ich erleiden musste!“
Zu viel! Die Versuchung, einfach die Augen zu schließen, überwältigte sie fast. Doch noch hielt sie sie offen, sie lebte weiter.
„Siehst du, wie sehr ich dich liebe? Jetzt werden wir zusammen sein.“ Mit einem schmatzenden Laut riss er ihr das Messer aus dem Leib. Kurz bevor er überwältigt und zu Boden gerissen werden konnte, schlitzte er sich die Kehle von einem Ohr zum anderen auf.
Als sich endlich ein Arzt neben sie hockte und ihr Handgelenk umfasste, hatte ihr Blut schon begonnen, sich abzukühlen. „Kein Puls“, sagte er zu irgendjemandem, den sie nicht sehen konnte, seine erhobene Stimme war über dem Aufruhr im Saal deutlich hörbar. „Sie ist von uns gegangen.“
Aber das war sie nicht! Noch nicht!
Néomi war jung, und es gab noch so vieles, was sie erleben wollte. Sie verdiente es zu leben. Ich sterbe nicht. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Ich weigere mich.
Doch als die Brise auffrischte, erlosch Néomis Sehkraft wie eine Kerze. Nein, nein … ich lebe noch … kann nichts sehen, kann nichts sehen … solche Angst.
Einige Rosenblätter wurden vom Wind erfasst und über ihr Gesicht getrieben. Sie spürte jeden einzelnen kühlen Kuss, den sie ihr schenkten.
Dann … das Nichts.