15

Er hatte es gesehen. Irgendwie hatte sich der Vampir befreit.

Als Conrad sie laut schreiend im ganzen Haus gesucht hatte, war sie aus ihrem Studio in den Pavillon am Bayou geflüchtet.

Sie hatte vorgehabt, dort zu schlafen, weit weg von all dem Aufruhr. Die Grillen und Eulen wirkten einschläfernd, und es wehte eine leichte Brise. Nicht dass sie sie spürte, aber das leise Rauschen der Zypressennadeln, die über ihr durch den Wind kämmten, weitete ihr das Herz. Sie war kurz davor, in ihre Träumereien zu entgleiten, als er sie entdeckte.

Er blieb wie angewurzelt stehen, und seine Augen schlossen sich für einen Sekundenbruchteil.

„Was willst du?“, murmelte Néomi.

Er umrundete einige ausladende Zypressenäste, um zu ihr zu gelangen, kauerte sich neben sie hin und inspizierte sie eingehend.

„Bist du verletzt?“, fragte er.

So sehr sie es hasste, es zuzugeben – seine Gegenwart wirkte tröstlich.

„Mach dich nicht lächerlich, Vampir. Nichts kann mich verletzen.“ Doch ihre Essenz war vollkommen erschöpft. Wie immer. Den Schmerz erneut zu durchleben hatte sie sehr mitgenommen. Das war wohl auch nicht verwunderlich, wenn man ein Messer mitten ins Herz gerammt bekam.

Geschweige denn, wenn sich die Klinge in der Wunde herumdreht … Sie erschauerte. Wie lange kann ich das wohl noch ertragen?

„Was zum Teufel war das da eben?“ Sie zuckte nur die Achseln. „Du bist jetzt sogar noch bleicher als vorher. Schwächer.“

„Soll das mit den Beleidigungen jetzt so weitergehen, Conrad? Du solltest wissen, dass ich nicht zu jenen Frauen gehöre, die Geringschätzung Nichtbeachtung vorziehen.“ Klang das etwa so, als ob sie sich selbst überzeugen wollte? „Ich möchte mich jetzt lieber nicht mit dir unterhalten.“

„Ich will dich nicht beleidigen.“ Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden, als ob er fürchtete, sie könnte erneut verschwinden.

„Vorhin wolltest du mich nicht um dich haben. Vielleicht kann jetzt ich auf deine Gesellschaft verzichten.“

Er musterte ihr Gesicht. „Ich glaube … ich glaube, das stimmt nicht.“

„Ganz schön eingebildet! Le dément offenbart eine brandneue Persönlichkeit.“ Es gefiel ihr gar nicht, dass er recht hatte und dass er wusste, dass er recht hatte. Vielleicht war sie tatsächlich so mitleiderregend, wie er sie eingeschätzt hatte. „Wie hast du dich befreit?“

„Hab mir die Schulter ausgerenkt“, sagte er. Sein Tonfall deutete an, dass diese Tatsache wohl kaum einer Erwähnung wert war.

Sie hob eine Augenbraue. Was für ein Mann. „Naturellement.“

„Komm wieder rein mit mir.“

„Willst du das Schoßhündchen etwa wieder ins Haus lassen? Dabei hab ich doch noch nicht mal an der Hintertür gekratzt. Warum interessiert es dich überhaupt, was mit mir geschieht?“

„Es ist einfach so. Also, komm mit mir zurück.“ Sie sah ihm an, dass er sie am liebsten am Arm gepackt und hineingezerrt hätte. „Die Dämmerung bricht gleich an.“

Sie tippte sich mit dem Finger gegen das Kinn, als ob sie scharf nachdenken müsste. „Hmm, darauf wäre ich jetzt gar nicht gekommen, wenn da nicht dieser große orangefarbene Ball wäre, der sich gleich über den Horizont erheben wird.“

„Wenn du nicht reinkommst, dann bleibt mir keine Wahl: Ich muss mit dir hier draußen bleiben.“

„Was ist mit der Sonne? Bist du verrückt? Vergessen wir das … Bist du vollkommen verblödet?“

„Sag mir, was heute Nacht passiert ist, oder komm rein. Eins von beiden.“

„Va t’en au diable.“

„Dann bleibe ich also bei dir.“ Er ließ sich mit störrischer Miene neben ihr nieder.

„Dann werde ich gehen.“

„Und wohin?“, fragte er. „Gehst du immer hierher, wenn du nicht bei mir bist?“

„Nein. Ich bin hier draußen, weil du nicht aufgehört hast, in meinem Haus herumzubrüllen!“, fuhr sie ihn an. Sie war mit ihrer Geduld am Ende. „Ich weiß nicht, wieso das passiert. Jeden Monat, immer zur selben Zeit. Ich tanze. Ich kann nicht damit aufhören, kann es nicht beherrschen. Und wenn ich mir das Herz aus dem Leib getanzt habe, werde ich erstochen. Monat für Monat.“

„Du hast gesagt, du wärst allein hier.“

„Bin ich auch. Ich sehe Louis nicht. Ich sehe das Messer nicht. Ich kann es einfach nur … fühlen.“

„Ich habe schon von Geistern gehört, die gezwungen sind, gewisse Aspekte ihres Todes immer wieder durchzumachen.“

„Also, jetzt, wo ich weiß, dass es mir nicht allein so geht, fühle ich mich schon viel besser. Du kannst jetzt gehen. Adieu.“

Wenn Néomi vorher fröhlich und zuversichtlich erschienen war, wirkte sie jetzt zutiefst erschüttert und aufgewühlt, als ob sie sich am liebsten verkrochen hätte, um ihre Wunden zu lecken.

Aber Conrad war von dem überzeugt, was er zu ihr gesagt hatte. Sie wollte ihn in ihrer Nähe haben – selbst wenn sie sich kratzbürstig gab. Natürlich war sie immer noch wütend auf ihn wegen seines Verhaltens vorhin, aber er glaubte, dass sie auch deshalb so aufgeregt war, weil er sie hatte tanzen sehen. Wahrscheinlich waren Frauen einfach so – jedes Mal, wenn sie nur das kleinste bisschen Verletzlichkeit zeigten, gingen sie mit ausgefahrenen Krallen auf einen los.

„Komm mit mir, Néomi.“

Sie legte ihre zarte Hand an ihre Stirn. Sie wirkte ausgelaugt, ihr Bild flackerte, ihre Augen waren matt, hatten ihr Strahlen verloren. Die Veränderungen im Haus, die Musik und diese ganze gespenstische Umgebung mussten wohl von ihr gespeist worden sein, von ihrer ureigenen Essenz.

„Warum sollte ich?“

Weil er sie in seiner Nähe haben musste. Weil das, was er vorhin mit angesehen hatte, etwas in ihm ausgelöst hatte. Er war verändert. Es war mehr als nur die bloße Überzeugung, dass sie die Seine sei. Es war mehr als sein Vorsatz, deswegen etwas zu unternehmen, und mehr als sein neu entstandenes Bedürfnis, sie zu beschützen.

Er fühlte sich, als ob sich ein fremdartiges Gefühl in seiner Brust festgesetzt hätte, das jetzt nach allen Seiten boxte und stieß, um sich mehr Raum zu verschaffen.

Aber alles, was er sagte, war: „Warum nicht?“

Ihre Erschöpfung war offensichtlich, doch trotzdem reckte sie ihr zartes Kinn in die Höhe. „Du bedauerst mich. Aber du musst nicht den Babysitter für mich spielen. Ich versichere dir, dass ich schon Schlimmeres ganz allein bewältigt habe.“

„Das weiß ich.“ Achtzig Jahre lang hatte sie jeden Monat ihren Tod noch einmal erlebt – allein. Nie wieder. „Du würdest aus keinem anderen Grund hineinkommen, als mich vor der Einäscherung zu bewahren. Denn, tantsija, ich kann genauso dickköpfig sein wie du.“

„Was bedeutet dieses Wort?“

„Es bedeutet Tänzerin.“

Während die ersten zarten Sonnenstrahlen nach ihnen griffen, schürzte sie die Lippen. „Na gut.“ Sie richtete sich schwebend auf und begleitete ihn zum Haus zurück.

Trotz ihres Murrens gelang es ihm, sie in sein Zimmer zurückzubringen. Wahrscheinlich war sie zu müde, um Widerstand zu leisten. Drinnen angekommen, glitt sie sofort auf das Bett zu und rollte sich auf der Seite liegend ein, wenige Zentimeter über der Matratze schwebend.

Ihm war schon früher aufgefallen, dass sie über Stühlen schwebte, als ob sie darauf sitzen würde. Jetzt wusste er, dass sie auch in Betten schlief.

Innerhalb von Sekunden war sie eingeschlafen …

Den ganzen Tag lang beobachtete er sie und sah dabei zu, wie ihr Bild immer stärker wurde, was ihn glücklicher machte als alles andere in jüngster Zeit.

Er verspürte Bedürfnisse, die er nie gekannt hatte, unerklärliches Verlangen … Er wollte sich hinter sie legen. Ihren zarten Körper an sich ziehen. Immer wieder strichen seine Hände über die Umrisse ihrer Haare, und er stellte sich vor, wie sich ihre glänzenden Locken anfühlen würden.

Er verspürte den überwältigenden Drang, dieses Anwesen zu kaufen, es instand zu setzen, damit sie dort in Sicherheit war – aber nur, falls es ihm gelang, sie davor zu bewahren, noch einmal so zu tanzen, wie sie es letzte Nacht getan hatte. Bei dem Gedanken daran, an den Fluch, der sie zwang, den Schmerz wieder und wieder zu durchleben, ballten sich seine Hände zu Fäusten.

Conrad besaß das notwendige Wissen, um einige Zauber zu wirken – die meisten davon primitive Schutz- oder Tarnzauber –, allerdings hatte er kaum je Zugang dazu, wenn er es wollte. Wann auch immer er eine bestimmte Erinnerung aufrufen wollte, erwies sie sich als besonders flüchtig. Wenn er fähig wäre, all das Wissen, das er erworben hatte, nach Belieben zu nutzen, könnte er dann wohl einen Weg finden, sie zu beschützen?

Was wäre, wenn er die Antwort bereits in sich trüge und sie nur darauf wartete, abgerufen zu werden? Nikolai hatte gesagt, Conrad könnte es lernen. Er hatte außerdem gesagt, dass es nur einen Trieb gäbe, der sich mit der Blutgier messen könnte: Sex. Und dass es nur eine Sache gäbe, die dem überwältigenden Drang zu töten entgegenstehen könnte.

Jetzt wusste Conrad, was das war: das Bedürfnis zu beschützen.

Mithilfe seiner Willenskraft, einer enormen Anstrengung und eines Rechens, den er in einem baufälligen Schuppen gefunden hatte, war es Conrad gelungen, eine ganze Reihe der Zeitungen zu bergen, die in der Einfahrt gelegen hatten, unerreichbar für sie. Er hatte vor, sie seiner Geliebten als Geschenk zu überreichen.

Da er keinerlei Erfahrungen mit Frauen hatte und nur über beschränkte Mittel verfügte, war dies das Beste, was er zu bieten hatte.

Er hatte die Zeitungen gerade ordentlich in seinem Zimmer aufgestapelt und es sich bequem gemacht, um darauf zu warten, dass Néomi erwachte, als sich seine Brüder ins Zimmer translozierten.

Nikolai stieß argwöhnisch die Luft aus, als er sah, dass sein Bruder sich bewegen konnte. „Wie bist du freigekommen?“

„Hab mir die Schulter ausgerenkt.“

Fast im selben Augenblick hoben alle drei ihre Brauen, angesichts des Zeitungsstapels.

„Du hast dir die Schulter ausgerenkt, um an die Zeitungen auf der Straße zu kommen? Du hättest doch einen von uns fragen können, wenn du etwas zu lesen …“

„Nein. Das ist es nicht.“ Wieso erzähle ich es ihnen nicht einfach? Sie glaubten ja sowieso schon, dass er verrückt sei. Vielleicht war einer von ihnen ja schon einmal einem Geist begegnet. Vielleicht würden sie ihm tatsächlich Glauben schenkten. „Ich habe sie für eine Frau geholt, die hier lebt.“ Er war zumindest so weit bei Verstand, dass er merkte, wie sich das anhörte. „Sie liest sie gerne.“

„Das Haus ist vollkommen leer, Conrad.“ Nikolai kniff mit Daumen und Zeigefinger in die Haut über seiner Nasenwurzel. „Das weißt du doch.“

Er strich sich mit den Händen über die Hose. „Ich bin der Einzige, der sie sehen kann. Sie liegt in ebendiesem Augenblick auf dem Bett.“

Alle drei setzten wie auf Kommando diese bange Miene auf, als ob sie sich fragten, ob Wahnsinn wohl ansteckend wäre.

„Wenn es hier tatsächlich einen Geist gibt, dann bring sie dazu, irgendetwas zu bewegen“, sagte Murdoch. „Kann sie vielleicht eine Tür zuschlagen? Oder auf dem Dachboden herumpoltern?“

„Ja, sie kann Dinge mittels Gedankenkraft bewegen.“

Sebastian machte eine ermutigende Geste. „Dann soll sie doch …“

Conrad blickte von seinen Brüdern zu ihr und wieder zurück. „Sie … schläft.“ Und er konnte sie nicht schütteln, um sie zu wecken.

„War ja klar“, murmelte Sebastian. Er war schon immer der Skeptischste von ihnen gewesen. Conrad vermutete, dass sich auch nach dreihundert Jahren daran nichts geändert hatte.

„Verdammt noch mal, ich sage die Wahrheit.“

„Kannst du sie nicht aufwecken?“

Conrad überlegte, ob er erklären sollte, aus welchem Grund sie so erschöpft war, kam dann aber zu dem Entschluss, dass das alles nur noch schlimmer machen würde.

„Warum sollen wir glauben, dass du einen Geist siehst und nicht etwa wieder an Halluzinationen leidest?“, fragte Murdoch. „Es war vorauszusehen, dass du Wahnvorstellungen haben würdest.“

„So war es auch. Die ganze Zeit über. Aber jetzt nicht mehr. Sie ist real.“ Er beugte sich zu ihrem Ohr hinab und sagte: „Néomi, wach auf!“ Keine Reaktion. „Wach auf!“, wiederholte er lauter, wohl wissend, dass es aussehen musste, als ob er das Laken anschrie.

Murdochs Miene verriet, dass er nicht wusste, ob er über Conrads Verhalten lachen oder weinen sollte. Schließlich sagte er: „Kristoff hat uns darüber informiert, dass heute Abend eine Schlacht stattfinden wird. Also werden wir vermutlich für zwei Tage fort sein.“

„Wir werden dir gestatten, dich innerhalb der Grenzen dieses Grundstücks frei zu bewegen“, fügte Nikolai hinzu. „Der Kühlschrank ist mit Blutkonserven für mehrere Wochen gefüllt, und ich werde meine Frau bitten …“

„Ich komm schon allein zurecht“, warf Conrad rasch ein.

„Also gut.“

„Dann befreit mich vollständig“, sagte Conrad, überrascht durch ihr Entgegenkommen.

Nikolais Blick wanderte von den Zeitungen zu Conrads Augen, und er stieß lautstark den Atem aus. „Das können wir nicht. Du bist schon zu weit gekommen, als dass wir einen Rückfall riskieren könnten. Bald werde ich dich bitten, eine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung von höchster Bedeutung. Aber dazu musst du stabil sein.“

Conrad stieß ein bitteres Lachen aus. „Seit wann bittet ihr mich, eine Entscheidung zu treffen, statt dies selbst zu tun?“

Nikolais Miene war bitterernst. „Seit ich meinen Bruder drei Jahrhunderte lang verloren habe.“