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Außerhalb von New Orleans

Gegenwart

Bleib ruhig. Verhalt dich ganz normal, wiederholt er im Geiste immer wieder, während er den wackeligen Landungssteg entlanggeht. Rechts und links von ihm nichts als Wasser, so schwarz wie Teer. Vor ihm gedämpftes Licht aus der Kneipe am Bayou. Eine Bar der Mythenwelt. Ein einsames Neonschild flackert über den flachen Ruderbooten, die unterhalb der Kneipe angelegt haben. Musik und Lachen dringen an sein Ohr.

Bleib ruhig … du musst die Wut unterdrücken. Bis es vorbei ist.

Drinnen. „Whisky.“ Seine Stimme ist leise, rau, nachdem er sie so lange nicht mehr benutzt hat.

Der Wirt verzieht das Gesicht. Genau wie gestern Abend. Andere reagieren ängstlich. Ob sie wohl spüren, wie sehr ich mich danach sehne zu töten? Das Flüstern um ihn herum wirkt auf seine zerrütteten Nerven wie das Kratzen von Metall auf einer Schiefertafel.

„Conrad Wroth, der war früher mal ein Kriegsherr … verrückter als jeder andere Vampir, den ich in all meinen Jahrhunderten zu Gesicht bekommen habe.“

„Ein Auftragsmörder. Wenn der in deiner Stadt auftaucht, dann verschwinden mit Sicherheit bald ein paar von unseren Leuten.“

Verschwinden? Es sei denn, ich will, dass sie gefunden werden.

„Ich hab gehört, er saugt sie so brutal aus, dass von ihren Kehlen nichts mehr übrig bleibt.“

Ich bin eben nicht wählerisch.

„Ich hab gehört, er frisst sie auf.“

Nichts als verdrehte Gerüchte. Oder war Letzteres doch wahr?

Wieder einmal verbreiteten sich die Geschichten über seinen Wahnsinn wie ein Lauffeuer. Ich habe mein Ziel noch nie verfehlt – wie verrückt kann ich schon sein? Er beantwortet seine eigene Frage: Total durchgeknallt, verdammt noch mal.

Er wird von Erinnerungen überwältigt. Die Erinnerungen seiner Opfer, die er zusammen mit ihrem Blutzoll in sich aufgenommen hat und deren Anzahl ständig anwächst. Ich weiß nicht mehr, was wirklich ist, kann nicht entscheiden, was Illusion ist. Die meiste Zeit ist er kaum in der Lage, seine eigenen Gedanken zu verstehen. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht irgendeiner Halluzination zum Opfer fällt und Schatten angreift, die ihn umzingeln.

Eine scharf gemachte Handgranate, so nennen sie ihn. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.

Sie haben recht.

Bleib ruhig … verhalt dich normal. Er lacht leise in sich hinein, als er sich mit dem Glas in der Hand auf den Weg zu einem spärlich beleuchteten Tisch weiter hinten macht. Normal? Er ist ein gottverdammter Vampir in einer Bar voller Gestaltwandler, Dämonen und spitzohriger Feen. Der hintere Teil der Kneipe ist weihnachtlich geschmückt: Lichter in den Augenhöhlen menschlicher Schädel, die um einen Spiegel drapiert sind. In der Ecke streichelt eine Dämonin träge die Hörner ihres Geliebten, was den Mann sichtlich erregt. An der Bar bleckt ein riesiger Werwolf seine Fänge und beugt sich beschützend vor, während er eine zierliche Rothaarige hastig hinter sich schiebt.

Du kannst dich wohl nicht entscheiden, ob du angreifen sollst, Lykae? Stimmt, ich rieche nicht nach Blut. Ein Trick, den ich mir angeeignet habe.

Das Pärchen verlässt die Bar, wobei der Lykae die Rothaarige hinter sich herzerrt. Als sie durch die Tür treten, wirft sie einen Blick über ihre Schulter zurück, ihre Augen wie Spiegel. Dann sind sie fort. Draußen in der Nacht, wo sie hingehören.

Hinsetzen. Mit dem Rücken zur Wand. Er rückte die Sonnenbrille zurecht, die seine roten Augen verbirgt, schmutzig rote Augen. Während er den Raum absucht, kann er sich nur mit Mühe beherrschen, nicht mit der Hand über seinen Nacken zu fahren. Beobachtet mich jemand?

Aber schließlich habe ich dieses Gefühl doch ständig.

Er schnappt sich seinen Drink und blickt mit zusammengekniffenen Augen auf seine ruhige Hand. Mein Verstand mag ja verrotten, aber auf meine Schwerthand ist immer noch Verlass. Eine gefährliche Kombination.

Er nimmt einen ordentlichen Schluck. Der Drink. Der Whisky dämpft das Verlangen zuzuschlagen. Nicht dass es vergangen wäre.

Schon Kleinigkeiten bringen ihn in Rage. Ein schiefer Blick. Jemand nähert sich ihm zu schnell. Geht ihm nicht weit genug aus dem Weg. Seine Fänge schärfen sich bei der kleinsten Provokation. Als ob ein lebendiges Wesen in mir wäre, das hungert. Das nach Blut giert und nach einer Kehle, die es zu zerfetzen gilt. Jedes Mal, wenn seine Wut ihn zum Handeln verleitet, vergiften erneut die Erinnerungen anderer seine eigenen.

Noch ist er so weit bei Verstand, dass er in der Lage ist, sein Ziel im Auge zu behalten – seine Brüder. Er wird Vergeltung üben an Nikolai und Murdoch Wroth, dafür, dass sie ihm das Unaussprechliche antaten. Sebastian, der dritte Bruder, ist ein Opfer so wie er, aber auch er muss beseitigt werden, aus dem einfachen Grund, dass er ist, was er ist.

Und meine Zeit rückt näher. Das erkennt er mit der Instinktsicherheit eines Tieres. Er hat sie gefunden, an diesem mysteriösen Ort der Sümpfe, der Dunstschleier und der Musik. Er hat Nikolai und Sebastian mit ihren Frauen beobachtet. Er hätte Neid verspüren können, als er seine Brüder mit ihnen lachen sah. Dass sie sie besitzergreifend berührten, mit Staunen in ihren klaren Augen. Aber der Hass erstickt jegliche Eifersucht, die nur zu Verwirrungen führt.

Nachwuchs wird geboren werden. Er wird auch ihre Frauen töten. Sie vernichten. Mich selbst vernichten. Bevor mich meine Feinde einholen.

Er rückt den Verband zurecht, der sich unter dem rechten Ärmel seines Hemdes verbirgt. Die klaffende Wunde darunter will einfach nicht heilen. Vor fünf Tagen wurde er von einem Traumdämon gezeichnet, der ihm mithilfe ebendieser Verletzung folgen kann. Der Dämon versprach ihm, dass sein sehnlichster Traum und meistgefürchteter Albtraum der Zeichnung folgen würden.

Er zieht die Augenbrauen zusammen. Bald wird der Jäger der Gejagte sein – sein Leben nähert sich dem Ende.

Ein Hauch des Bedauerns. Was bedauert er am meisten? Er versucht sich zu erinnern, wonach er sich so sehr sehnt. Die Erinnerungen eines anderen bombardieren ihn, explodieren in seinen Gedanken. Seine Hand schießt nach oben und presst sich gegen seine Stirn …

Nikolai betritt die Bar, gefolgt von Murdoch. Ihre Mienen sind ernst.

Sie sind gekommen, um mich zu töten. Wie er es erwartet hatte. Er hatte vermutet, dass er sie aus der Reserve locken könnte, indem er immer wieder hierher zurückkehren würde. Er lässt die Hand sinken, und langsam entblößen seine Lippen seine Fangzähne. In der nächsten Sekunde ist die Bar wie leer gefegt.

Dann … Stille. Seine Brüder starren ihn an, als ob sie einen Geist sehen würden. Draußen veranstalten Insekten einen Höllenlärm. Der näher kommende Regen tränkt die Luft. Als ein Blitz in einiger Entfernung einschlägt, tritt auch Sebastian ein und stellt sich neben die beiden anderen. Er hat sich mit ihnen verbündet? Das hatte er nicht erwartet.

Er nimmt die Sonnenbrille ab und offenbart seine roten Augen. Der Älteste, Nikolai, kann sich nur mit Mühe beherrschen, bei seinem Anblick nicht zurückzuweichen, doch dann reißt er sich zusammen und kommt auf ihn zu. Die drei scheinen überrascht zu sein, dass er bleibt, um es mit ihnen aufzunehmen, statt sich fortzutranslozieren. Sie sind stark und geschickt, aber dennoch erkennen sie die Macht nicht, über die er verfügt. Sie erkennen nicht, in was er sich verwandelt hat.

Er kann sie alle drei, ohne mit der Wimper zu zucken, abschlachten, und er wird es genießen. Sie haben ihre Schwerter nicht gezückt? Dann gehen sie ihrem Verderben entgegen. Ich darf sie nicht warten lassen.

Er springt auf, setzt über den Tisch und schlägt Sebastian mit einem Hieb k.o., der dessen Schädel bersten lässt und ihn gegen die hintere Wand schleudert. Noch bevor die beiden anderen auch nur einen Finger rühren können, um dem verletzten Bruder zur Seite zu springen, packt er sie bei den Kehlen. Er hält einen von ihnen in jeder Hand und drückt immer fester zu, während sie verzweifelt versuchen, sich zur Wehr zu setzen, um sich zu befreien.

„Dreihundert Jahre habe ich hierauf gewartet“, zischt er. Ihre Anstrengungen nutzen überhaupt nichts, ihre entsetzten Mienen stellen ihn zufrieden. Er drückt fester zu …

Hinter ihm knarrt Holz. Er springt zur Seite und schleudert seine Brüder dem neuen Angreifer entgegen. Zu spät. Der Lykae ist zurückgekehrt, er attackiert ihn mit gespreizten Klauen und schlitzt ihm den Leib auf. Blut schießt heraus.

Wütend schreit er auf und greift den Werwolf an, weicht Klauen und Zähnen mit unheimlicher Geschwindigkeit aus und wirft den Gegner zu Boden. In dem Moment, als er seine Hände um den muskulösen Hals des Lykae legt, lässt diese Bestie etwas um sein rechtes Handgelenk einschnappen.

Handschellen? Er drückt noch fester zu und stößt ein harsches Lachen aus. „Du glaubst doch wohl nicht, dass mich das aufhalten kann?“ Unter seinen Händen brechen Knochen. Gleich ist es geschafft, und er würde seine Genugtuung über den Tod seines Feindes am liebsten laut in die Nacht hinausschreien.

Der Werwolf schließt die Handschellen um sein linkes Handgelenk.

Was ist das? Das Metall weigert sich nachzugeben. Es bricht nicht. Die wollen mich lebendig kriegen, verdammt noch mal!? Er springt auf die Füße und bereitet sich auf die Translokation vor. Nichts. Sebastian liegt auf dem Boden, Blut strömt aus einer Wunde an seiner Schläfe, doch er hält seinen Bruder an den Fußknöcheln fest.

Er tritt Sebastian, trifft dessen Brust mit voller Wucht. Rippen krachen. Gleich darauf wirbelt er herum, gerade noch rechtzeitig, um die massive Fußstange von der Bar abzufangen, mit der der Lykae mitten in sein Gesicht zielt.

Er gerät ins Taumeln, bleibt aber auf den Beinen.

„Was zum Teufel ist denn mit dem los?“, brüllt der Lykae und schwingt die Stange erneut mit aller Kraft.

Der brutale Schlag trifft ihn am Hals und lässt ihn den Bruchteil einer Sekunde lang zögern. Lange genug, dass seine Brüder ihn zu Boden ringen.

Er schlägt und beißt um sich, schnappt mit seinen Fängen nach ihnen. Komme nicht los … kann mich nicht … Sie befestigen die Fesseln um seine Handgelenke an einer weiteren Kette. Er tritt wild um sich, nur um fassungslos festzustellen, dass sie auch seine Beine fesseln.

Schäumend vor Wut wehrt er sich mit aller Kraft gegen die Fesseln. Das Metall durchschneidet seine Haut bis auf die Knochen. Ohne Erfolg.

Gefangen. Er brüllt, spuckt Blut auf seine Gegner, nimmt kaum wahr, dass sie miteinander reden.

„Ich hoffe, euch ist ein guter Platz eingefallen, wo ihr ihn unterbringen könnt“, sagt Sebastian, der immer noch heftig atmet.

„Ich habe ein Herrenhaus gekauft, das schon seit Langem leer steht“, erwidert Nikolai krächzend. „Das Ding heißt Elancourt.“

Trotz seiner Wut spürt er die eisigen Schauer, die ihn durchströmen. Der Schmerz in seinem verletzten Arm steigert sich ins Unerträgliche. Ein Traum. Sein Verhängnis. Er kann nicht in dieses Haus gehen, so viel weiß er mit primitiver Gewissheit. Er ist zu stark, als dass sie ihn translozieren könnten – es bleibt immer noch Zeit zu entkommen.

Wenn sie ihn dorthin bringen, dann jedenfalls nicht lebendig …

Unter einem bewölkten Nachthimmel kniete der Geist von Néomi Laress in der Einfahrt an der Grenze ihres Besitzes und starrte gierig auf die Zeitung, die in Plastik eingewickelt vor ihr lag.

Auch heute wieder hatte der Zeitungsbote – dieser launenhafte Unmensch – die Einfahrt verfehlt und das Bündel diesmal einfach auf die verlassene Landstraße geworfen.

Néomi sehnte sich verzweifelt nach dieser Zeitung, nach den Nachrichten, Besprechungen und Kommentaren, die die Monotonie ihres Lebens – beziehungsweise ihres nunmehr achtzig Jahre währenden Lebens nach dem Tode – aufbrechen würden.

Aber sie konnte das Grundstück nicht verlassen, um sie zu holen. Als Geist war Néomi imstande, Gegenstände mithilfe von Telekinese zu bewegen, und auf Elancourt waren ihrer Macht praktisch keine Grenzen gesetzt – sie konnte sämtliche Fenster klappern lassen oder das Dach abreißen, wenn sie Lust dazu verspürte, und oftmals passte sich das Wetter ihren Emotionen an –, aber außerhalb ihres Besitzes war sie machtlos.

Ihr geliebtes Heim war zu ihrem Gefängnis geworden, ihrer Zelle für alle Ewigkeit, die fünfundzwanzig Morgen und ein Herrenhaus umfasste, das einen langsamen Tod starb. Es war nur einer von zahlreichen Flüchen des Schicksals – jeder einzelne anscheinend eigens in der Absicht entworfen, sie auf persönliche und speziell auf sie zugeschnittene Art und Weise zu quälen –, dass Néomi diesen Ort nicht verlassen konnte.

Sie wusste nicht, wieso – nur dass es so war und stets so gewesen war, seit sie an jenem Morgen nach ihrer Ermordung die Augen aufgeschlagen hatte. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie ihr geisterhaftes Spiegelbild zum ersten Mal gesehen hatte. Und Néomi erinnerte sich an den genauen Moment, in dem sie erkannt hatte, dass sie tot war, in dem sie zum ersten Mal begriffen hatte, was aus ihr geworden war.

Ein Geist. Sie war zu etwas geworden, das sogar sie selbst in Angst und Schrecken versetzte. Etwas Unnatürliches. Nie wieder würde sie eine Geliebte oder eine Freundin sein. Niemals eine Mutter, wie sie es immer geplant hatte, für die Zeit nach ihrer Karriere als Tänzerin. Während draußen ein Sturm getobt hatte, hatte sie stundenlang unhörbar geschrien.

Das Einzige, wofür sie dankbar sein konnte, war, dass Louis nicht zusammen mit ihr dort gefangen saß.

Sie versuchte es noch einmal mit all ihrer Kraft. Ich muss … diese Zeitung … haben!

Néomi war nicht sicher, wieso sie überhaupt noch geliefert wurde. In einer der letzten Ausgaben hatte sie einen Artikel über die Probleme gelesen, die sich aufgrund einer „mehrfachen Belastung von Kreditkarten“ ergeben konnten, und sie nahm an, dass sie von der nachlässigen Kontrolle der Kreditkartenabrechnungen ihrer letzten Mieterin profitierte. Die Lieferung konnte jederzeit enden. Jede einzelne Ausgabe war kostbar.

Schließlich kapitulierte sie. Sie gab auf und setzte sich mitten in die von Unkraut überwucherte Einfahrt. Aus Gewohnheit strich sie sich über die Oberschenkel, doch sie spürte die Berührung nicht.

Néomi konnte nichts mehr fühlen. Nie wieder. Sie war ein immaterielles Wesen, so wenig greifbar wie der Nebel, der vom Bayou herankroch.

Danke vielmals, Louis. Oh, und von mir aus kannst du in der Hölle verrotten, denn da bist du mit Sicherheit gelandet …

An diesem Punkt des Ringens um die Zeitung kämpfte sie für gewöhnlich gegen das Verlangen an, sich die Haare auszureißen, und fragte sich, wie lange sie diese Existenz wohl noch ertragen konnte und womit sie das verdient hatte.

Sicher, am Abend ihres Todes hatte sie sich geweigert zu sterben, aber das war doch lachhaft.

Doch so verzweifelt sie sich auch nach den gedruckten Worten sehnte, so ging es ihr doch nicht ganz so schlecht wie sonst. Denn am vorherigen Abend war ein Mann in ihr Haus gekommen. Ein groß gewachsener, gut aussehender Mann mit ernstem Blick. Vielleicht würde er ja heute Abend wiederkommen. Vielleicht würde er sogar einziehen.

Aber sie sollte besser nicht zu große Hoffnungen auf den Fremden setzen, die am Ende dann doch nur wieder zerschmettert werden würden …

Ein grelles Licht blendete Néomi, und gleich darauf zerriss das Geräusch quietschender Reifen die Stille der Nacht. Als ein Wagen über den Kies der Einfahrt schoss, hob sie vergeblich die Arme, um ihr Gesicht zu schützen, und stieß einen stummen Schrei aus. Er fuhr genau durch sie hindurch, und der Motor ließ ihren Kopf dröhnen wie bei einem Erdbeben, als er ihre Geistergestalt durchquerte.

Das Fahrzeug fuhr, ohne das Tempo zu drosseln, über die von Eichen gesäumte Einfahrt weiter auf Elancourt zu.