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Dies war Conrads zweite sexuelle Erfahrung, wenn er das Mal mit ihr unter der Dusche dazuzählte.

Die Frau hatte keinen Körper, den er spüren konnte, er konnte keine Erektion bekommen, und doch war es gewaltig. Wenn es sich jetzt schon derartig intensiv anfühlte, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn sie sich kennengelernt hätten, als sie beide noch am Leben gewesen waren.

Natürlich hatte er gewusst, dass er bislang auf gewisse Freuden hatte verzichten müssen, aber niemals hätte er einen derartigen Rausch erwartet, die wilde Erregung, wenn man feststellte, dass eine Frau einen sexuell begehrte. Nie zuvor hatte er die Zuversicht gekannt, dass eine Frau, wenn er sich anschickte, sie zu nehmen, für ihn feucht sein und seine Hüften im Verlangen nach mehr umklammern würde.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihre Wange an seiner zu reiben. Er spürte dieselbe elektrische Spannung, ohne jedoch ihre Haut zu fühlen. Er versuchte sich auszumalen, wie weich ihre Haut sein würde.

„Ich will dich fühlen, Néomi. Ich will in dir sein.“

Sie schloss die Augen und strich mit ihren Lippen über seine. „Mein Gott, ich wünschte, ich könnte für dich aus Fleisch und Blut sein.“

Er stöhnte, als er das Verlangen in ihrer Stimme hörte. Ihre Lage frustrierte ihn so sehr. Er begehrte sie mehr, als er je eine Frau begehrt hatte – er war davon überzeugt, dass sie ihn erweckt hätte, wenn sie noch am Leben gewesen wäre. Und er glaubte fest daran, dass sie ihn freudig empfangen würde.

Aber ich kann sie nicht nehmen …

Mit einem bitteren Fluch ließ Conrad die Arme fallen, sodass sie durch sie hindurchglitten, und wandte sich ab. Er lief im Zimmer auf und ab und hielt nur inne, um die Wände vor blinder Wut mit seiner Faust zu malträtieren …

Doch dann beherrschte er sich wenige Zentimeter vom bröckelnden Putz entfernt. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, und sie sah aus, als ob er für sie den Mond vom Himmel geholt hätte. Verdammt noch mal, an diesen Blick könnte er sich gewöhnen.

Ob sie es lächerlich fände, wenn er sie um mehr bäte? Sie kannten sich erst kurze Zeit. Sie hatte Erfahrung und er … nicht. Zum Teufel damit – er musste es wissen.

„Würdest du mit mir zusammen sein wollen? Wenn du es könntest? Für mehr als Sex?“

Sie lächelte ihn traurig an. „Irgendwo da draußen wartet deine vom Schicksal auserwählte Braut auf dich.“

„Néomi, es könnte sein, dass du … für mich bestimmt bist.“

Bei diesen Worten setzte ihr Herz kurz aus, doch sie zwang sich zu fragen: „Aber warum habe ich dich nicht erweckt? Dein Herz hat nicht begonnen zu schlagen, und du atmest nach wie vor nicht. Du zeigst keinerlei körperliche Reaktion … auf mich.“

„Ich glaube, dass mein Vampirinstinkt nicht imstande ist, in dir meine Braut zu erkennen, weil du genau genommen nicht am Leben bist“, sagte er. „Ich muss wissen, ob das für dich nur ein Spiel ist. Ob du bloß mit mir spielst, weil ich zufällig hier bin und es eine gute Gelegenheit für dich ist.“

„Ich spiele nicht mir dir, Conrad. Aber selbst wenn es diese körperlichen Einschränkungen nicht gäbe, weiß ich nicht, ob es mit uns beiden funktionieren könnte. Wir sind zu verschieden.“

„Was zum Teufel meinst du damit?“

„Alles, was ich je wollte, war, zu leben. Ich bin so sehr darauf versessen, dass ich schreien könnte. Aber du … zerstörst Leben. Und es scheint so, als würde es dir nicht mal etwas ausmachen.“

„Ich töte. Das kann ich am besten.“

„Wenn es in Notwehr geschehen würde oder für eine Sache, an die du glaubst, könnte ich es noch verstehen. Aber Leben auszulöschen für Geld? Das könnte ich niemals akzeptieren.“

„Was wäre, wenn ich … damit aufhörte? Was, wenn ich dir sagte, dass ich, solange ich in deiner Nähe bin, ein besserer Mann sein will? Zählt das gar nichts?“

„Das bedeutet alles für mich!“ Sie legte die Hand auf ihre Stirn. „Aber das alles ist irrelevant. Es sei denn, du wüsstest einen Weg, wie man Geister wieder zum Leben erweckt.“

„Nein, das nicht. Aber das heißt nicht, dass es keinen Weg gibt. Wenn es sein muss, werde ich auch Hunderte von Jahren danach suchen.“

Hunderte von Jahren. Hunderte von Jahren mit Splittermond und allmonatlicher Tortur.

„Und eins musst du begreifen, Néomi. Ich werde es tun, ganz gleich, ob du mehr von mir willst oder nicht. Also, lass dich in deiner Antwort davon nicht beeinflussen.“

„Conrad, meinst du das ehrlich?“ In ihrer Kehle drängten sich Worte, die ausgesprochen werden wollten – Ich muss bei dir sein … Ich will, dass wir es versuchen …

Er öffnete den Mund, um ihr zu antworten, und erstarrte dann plötzlich. „Da draußen ist jemand.“ Er ging zum Fenster und öffnete den Vorhang einen Spaltbreit. Und verzog gleich darauf das Gesicht. „Na wunderbar. Meine Schwägerinnen statten mir einen Besuch ab.“

Néomi glitt an seine Seite und spähte ebenfalls hinaus. Zwei zierliche Frauen waren aus einem Sportwagen ausgestiegen und eilten nun durch die stürmische Nacht auf das Haus zu. „Das sind Walküren? Sie sind atemberaubend. Sehen alle Mythenweltfrauen so aus?“

„Manche. Die Rothaarige ist Myst die Vielbegehrte. Sie gehört zu Nikolai. Die Blonde ist Kaderin die Kaltherzige und gehört zu Sebastian.“

Néomi hatte über die beiden schon so viel gehört, dass es ihr vorkam, als kennten sie sich …

„Ich hatte vorgehabt, auch sie zu töten.“ Als Néomi ihn wütend anstarrte, hob er die gefesselten Hände. „Vergangenheitsform. Siehst du? Ich verbessere mich weiter.“

Mit aufeinandergepressten Lippen musterte sie ihn. Es schien ihm ernst zu sein.

Mitten in der schlammigen Auffahrt begannen die Walküren zu streiten, sodass Néomis Aufmerksamkeit wieder auf sie gelenkt wurde. Es schien so, als wollte Myst Kaderin unbedingt von dem Herrenhaus fernhalten. Als der Streit in eine körperliche Auseinandersetzung mündete, riss Néomi die Augen auf. Ich kenne sie ganz und gar nicht.

„Sie schlagen einander“, sagte sie ungläubig. „Ich wusste ja, dass sie wild sind, immerhin ist Kaderin eine Assassine, aber dass sie sich gegenseitig verprügeln!“

Conrad zuckte mit den Achseln. „Ich fürchte, das liegt in der Natur der Sache. Sie kämpfen gerne.“

„Ich werde das nicht zulassen!“ Myst versetzte Kaderin einen Faustschlag, der diese mitten auf den Mund traf.

Kaderin wischte mit dem Ärmel über ihre blutende Lippe. „Genau wie bei der ersten Talisman-Tour. Schlägst einfach zu, ohne jede Vorwarnung!“

„Und das ist erst der Anfang. Wenn du Conrad Kristoff übergibst, werden seine Brüder uns das niemals vergeben. Wenn sie ihn hätten ausliefern wollen, hätten sie es selbst getan!“

Kaderin versetzte Myst einen Schubs. „Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich will meinen Mann zurück!“

Kristoff hatte sie eingesperrt? Und würde sie nicht freilassen, ehe er Conrad hatte? Néomi warf ihm einen Blick zu.

„Das beantwortet wohl die Frage, was mit meinen Brüdern geschehen ist“, sagte er mit unergründlicher Miene.

„Das will ich auch!“, sagte Myst und versetzte Kaderin ihrerseits einen Schubs. „Aber so geht es nicht. Nikolai hat seit einer Ewigkeit nach Conrad gesucht. Die ganzen Sorgen, die ganze Anstrengung, soll das alles vergebens gewesen sein?“

Offensichtlich waren Nikolais Anstrengungen noch nicht zu Ende – er hatte Conrad nicht ausgeliefert.

„Warte mal kurz.“ Myst kniff die Augen zusammen. „Was zum Teufel machen wir hier eigentlich? Wir sind Walküren – wir nehmen uns, was wir wollen.“

„Was meinst du?“, fragte Kaderin.

„Kristoff lässt unsere Männer nicht frei? Dann werden wir Kristoff wohl eine Lektion erteilen müssen. Ich schlage vor, wir erobern die ganze verfluchte Festung.“

In Kaderins Augen leuchtete ein gefährliches Licht. „Verdammte Scheiße, ja.“

„Allein in unserem Koven würden Regin, Cara und Annika alles geben für eine Chance, den Vampiren eins auf die Nase zu geben, ganz gleich, welchen Vampiren. Es wäre ihnen auch egal, dass sie damit ein paar anderen Vampiren helfen würden. Und ich kenne das Innere von Mount Oblak wie meine Westentasche.“

Kaderins Lippen verzogen sich zu einem gefährlichen Grinsen. „Noch ein paar Fangzähne für meine Sammlung.“

Kurz darauf waren sie ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen waren.

„Zeigt es ihnen, Mädels“, sagte Conrad leise.

„Diese zarten Frauen können doch nicht wirklich einen Krieg anfangen?“

„Sie mögen zart sein, aber jede Einzelne von ihnen könnte einen Zug in die Höhe stemmen.“ In geistesabwesendem Ton fuhr er fort: „Kristoff hockt da am anderen Ende der Welt und hat keine Ahnung, welche Höllenkräfte soeben gegen ihn entfesselt wurden.“