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Wenn Néomi schon wieder tot war, bedeutete das, dass sie die Macht hatte, ihn zu retten.

Sie konnte wieder Dinge durch Gedankenkraft bewegen. Mit einer einzigen Handbewegung zog sie eine Schneise durch die herumliegenden Trümmer, indem sie der Spur von Conrads Blut folgte. Zwei Bewegungen und die Reste des Daches, unter denen er begraben war, flogen durch die Luft in den Garten hinaus. Er war bewusstlos. Der spitze Balken hatte ihn aufgespießt.

So behutsam wie irgend möglich begann sie das Holz aus seinem Körper zu ziehen. Obwohl er ohnmächtig war, schrie er vor Schmerzen. Sie tat ihm weh, aber sie hatte keine andere Wahl. Immer noch näherten sich ihnen von allen Seiten Flammen. Das ganze Herrenhaus bebte inzwischen.

Einen grauenhaften Zentimeter nach dem anderen …

Endlich! Sie hatte ihn davon befreit. Endlich konnten sie den lodernden Flammen entkommen! Sie translozierte ihn nach draußen unter eine große Eiche, um ihn vor den herabregnenden Funken zu schützen.

Sie selbst konnte sie nicht fühlen.

Sie schwebte nah an ihn heran, um seine Wunde zu begutachten, und war entsetzt, wie schnell er immer noch Blut verlor.

„Conrad! Bitte wach auf … Sag mir, was ich tun muss, um dir zu helfen!“

Er hatte ihr erklärt, er könne an einer solchen Verletzung nicht sterben, aber es machte ihr Angst, wie blass er war. Er brauchte Blut. Ohne nachzudenken hielt sie ihm ihr Handgelenk an die Lippen.

Gleich darauf rang sie erschrocken nach Luft. Oh, mère de Dieu … Sie fühlte, wie sie wieder ihre körperliche Erscheinung annahm, nach und nach, so als ob ihr Körper neu wachse, beginnend mit ihrem Arm. Schon konnte sie den Tau auf dem Gras und die Brise, die vom Bayou heranwehte, wahrnehmen.

Wie kann das sein?

Conrads Instinkte übernahmen das Steuer, und bevor sie mit der Wimper zucken konnte, hatte er seine Fänge in ihr Fleisch geschlagen. Zu fühlen, wie er saugte, war genauso verwirrend und aufreizend zugleich, so wie sie es in Erinnerung hatte. Als er an ihre Haut gepresst stöhnte, wäre sie vor Wonne fast in Ohnmacht gefallen.

Viel zu früh ließ er sie mit einem letzten Lecken los. Innerhalb von Sekunden schlug er die Augen auf.

„Dafür lasse ich mich gerne jede Nacht aufspießen“, sagte er heiser.

Sobald er die Augen geöffnet hatte, suchte sein Blick ihren ganzen Körper ab, betrachtete das vertraute schwarze Kleid, das sie beide so gut kannten. „Du warst wieder ein Geist. Aber ich hab doch gerade dein Blut … Fleisch und Blut. Was ist passiert?“

Néomi spürte, dass die kleine Bisswunde an ihrem Handgelenk bereits zu heilen begann. Ich weiß nicht, was ich bin.

„Ich habe mich einfach verändert“, flüsterte sie. „Ich begreife es auch nicht.“

Sie starrten einander eine ganze Zeit lang an. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Flammen sich hoch in den nächtlichen Himmel reckten. Rauch ergoss sich aus den Fenstern und Schornsteinen. Die Hitze war bis zu ihnen spürbar. „Mir war wohl klar, dass irgendetwas nicht mit mir stimmt, aber …“

„Mit dir stimmt einfach alles“, sagte er entschieden. Inzwischen konnte er sich schon aufsetzen.

„Aber was bin ich dann?“

„Ist mir egal. Solange du nur bei mir bist.“

„Mir ist es aber nicht egal. Was ist, wenn ich in dieser Geistergestalt stecken bleibe?“ Sie hasste diese seltsame gespenstische Halbwelt. Sie hatte beinahe vergessen, wie allein und widerhallend und verblasst sie sich anfühlte. „Ich könnte dich nicht im Arm halten, wenn du verletzt bist, oder an deine warme Brust geschmiegt einschlafen. Oder Sex mit dir haben. Aber das will ich. Und zwar so oft wie möglich. Und ich habe dieses verdammte Kleid so satt!“

„Ach, das bist du also“, rief eine Frauenstimme aus der Eiche über ihnen. „Jetzt wird mir alles klar.“

Sie blickten beide nach oben. Dort hockte Nïx auf einem Ast, ihr Schwert quer über den Rücken geschnallt.

„Warst du die ganze Zeit da oben?“, brüllte Conrad, um gleich darauf das Gesicht zu verziehen und sich die Seite zu halten. „Und du bist nicht auf die Idee gekommen, uns zu helfen?“

Nïx erhob sich und stieg von dem Ast herunter, als ob sie nur den Bürgersteig hinab auf die Straße trete. Sie landete ohne den geringsten Laut.

„Was ist dir klar geworden?“, fragte Néomi. In ihrer Stimme schwang Angst mit. „Was bin ich?“

Sie sah, dass Conrad schluckte, und wusste, dass er sich nicht sicher war, ob er es überhaupt wissen wollte.

„Du bist eines dieser mächtigen Phantome der Mythenwelt, von denen ich dir erzählt habe. Allerdings wurde dein Alterungsprozess um ein paar Jahrhunderte beschleunigt. Gutes Timing jedenfalls.“ Sie zeigte verstohlen auf das Herrenhaus und sagte in gespieltem Flüsterton: „Nur so unter uns beiden – dein Geisteranker brennt.“ In ebendiesem Moment gab es eine Explosion, und das Glas in sämtlichen verbliebenen Fenstern des Erdgeschosses regnete in Scherben herab. „Und, ja, ich hatte es so geplant, dass der Knall meine Worte unterstreicht.“

Ein fantôme?

„Phantom?“ Conrad rieb sich die Stirn und verteilte so großzügig Asche darauf. „Geisteranker?“

Néomi erklärte es ihm. „Nïx hat mir vor ein paar Wochen erzählt, dass aus mir eine Art mythisches Phantom werden könnte, wenn ich lange genug als Geist aushielte. Phantome können nach Belieben eine körperliche Gestalt annehmen, sich translozieren und Dinge mit ihren Gedanken bewegen. Und sie müssen auch nicht an dem Platz bleiben, an dem ihr Geist verankert ist. Aber es hätte möglicherweise bis zu fünfhundert Jahre dauern können, bis mir nach und nach ein Körper gewachsen wäre, in den ich schlüpfen könnte. Offensichtlich hat Mariketa den Prozess ein wenig beschleunigt.“

„Ja, schlaue, schlaue Mariketa – erfindet einen neuen Zauberbann und bricht die Regeln dann und wann“, sagte Nïx mit weit aufgerissenen Augen. „Es hat schon seine Gründe, dass Mari meine allerliebste Wicca-Person ist.“

„Ich verstehe das immer noch nicht“, sagte Conrad. „Wovon redet ihr eigentlich?“

„Mari hat die Regeln des Hauses der Hexen gebrochen, oder besser gesagt, sie hat sie großzügig ausgelegt. Es ist Hexen nicht erlaubt, Unsterbliche zu erschaffen.“ Sie wandte sich Néomi zu. „Aber zumindest theoretisch warst du bereits unsterblich. Also hat dir Mari einen neuen Körper geschenkt, der den Phantomalterungsprozess ausgelöst hat. Und irgendwie ist es ihr auch noch gelungen, einen Hauch von Mythenweltblut hinzuzufügen, um die Verwandlung von Mensch zu Mythenweltwesen in Gang zu setzen. Vielleicht hat sich der Vampir geschnitten, als er in seiner Panik Spiegelscherben für den Zauber der Hexe holte? Ich weiß es nicht.“

„Ist sie zum Teil Vampir?“, fragte Conrad mit rauer Stimme.

„Nein. Dein Blut war nur ein Beschleuniger, etwas, das einen bestimmten Prozess unterstützt. Selbst Mari kann keine weiblichen Vampire erschaffen.“

„Kein Wunder, dass sie so nervös war“, sagte Conrad. „Sie wusste von Anfang an, was für eine Aufgabe ihr bevorstand.“

„Oh ja. Ihr verdankt Mari viel. Auch wenn sie ihre Gesetze nicht dem Wortlaut nach verletzt hat, so doch zumindest den Gedanken, der dahintersteht. Dafür könnte sie schwer bestraft werden, wenn die anderen es herausfänden – sie könnte sogar als Verbrecherin gebrandmarkt werden. Kurz gesagt, Mariketa die Langersehnte wird euch wohl eher nicht als Referenz angeben, und ihr solltet ihr zu Beltane eine nette Karte schicken.“

„Heißt das, dass ich mich jederzeit verwandeln kann, ganz wie ich will?“

„Du bist eine Art Gestaltwandler zwischen Leben und Tod“, erwiderte Nïx. „Konzentriere dich einmal darauf, dich zu entkörperlichen.“

Néomi konzentrierte sich. Als es funktionierte, sank Conrad, seiner Stütze beraubt, zur Seite, bevor er sich fangen konnte. „’tschuldigung, mon grand!“ Sie versuchte, Körper und Geist erneut zusammenzufügen. Und nach und nach wurde sie wieder körperlich.

„Aber, Néomi“, hob Nïx mit gestrenger Miene an. „Jedes Mal, wenn du dich entkörperlichst …“ Sie verstummte, als ob sie abwöge, wie sie die schlechte Nachricht am besten formulieren könnte.

„Ja?“, flüsterte Néomi.

Conrad hielt den Atem an.

„… wirst du“, beendete Nïx ihren Satz, „dieses Kleid tragen.“

Néomi und Conrad stöhnten.

„Stell dir einfach vor, das ist deine Alter-Ego-Kleidung. Oder so eine Art Gruselfilm, dazu passen ja dann auch die Rosenblätter und dein Gothic-Gesicht. Wo wir gerade von Alter Egos sprechen – ich finde, wir sollten dich die Incarnatrix nennen. Und dir vielleicht einen Scheinwerfer verpassen.

„Ich bin unsterblich?“, fragte Néomi ungläubig, als sie nach und nach begriff. „Und ein Teil der Mythenwelt?“ Jenes Reichs, das Néomi so liebte.

„Ja. Also nichts mehr von wegen ausgemerzt werden, es sei denn, man würde dir in deiner körperlichen Gestalt den Kopf abschlagen. Natürlich. In deiner Geistergestalt kannst du überhaupt nicht getötet werden. Deine Spezies wird in der Mythenwelt weithin beneidet. Ihr seid sehr mächtig und gleichzeitig kaum verwundbar. Tja, ich muss los. Ich habe heute Abend noch mindestens vier weitere Termine. Mein Job als Proto-Walküre und Wahrsagerin Ohnegleichen ist genauso bedeutend und kompliziert, wie ihr vermutet.“

„Aber ich habe noch so viele Fragen“, wandte Néomi ein.

Nïx seufzte. „Ich werde dir etwas vorhersagen, weil ich so gütig bin. Und weil ich euch nichts zur Hochzeit geschenkt habe.“ Sie beschrieb mit einer dramatischen Handbewegung einen Kreis um sich. „Jetzt kann ich es sehen“, hauchte Nïx. Dann trafen sich ihre Blicke. „Nein, echt, ich kann es sehen.“

„Dann sag’s uns!“

„Néomi – Ehefrau, Mutter und Eigentümerin der einzigen Ballettakademie der Mythenwelt auf dieser Ebene. Conrad – liebevoller Ehemann und Vater, der immer noch ab und zu durchdreht, aber hart daran arbeitet, das abzustellen. Er kriegt natürlich jedes Mal einen Wutanfall, wenn du zum Weiberabend gehst, dann sitzt er schwitzend und mit weißen Fingerknöcheln da, bis du endlich wieder da bist, aber das wird von Jahr zu Jahr besser.“

Néomi runzelte die Stirn. „Wir werden Eltern sein? Kann ich … können wir Kinder bekommen?“

Conrad drückte ihre Hand. „Néomi, das spielt doch überhaupt keine Rolle …“

„Ich werde meine Quellen noch mal überprüfen, nur um sicherzugehen.“ Nïx starrte mit gerunzelten Augenbrauen in den Himmel, als ob sie versuchte, sich an die Vergangenheit zu erinnern. Wo sie sich doch eigentlich an die Zukunft erinnerte. Dann zuckte sie zusammen. „Ooh“, murmelte sie angewidert. Noch eine Grimasse. „Oh, das ist aber nicht nett!“

Conrads Lippen teilten sich. „Was zum Teufel siehst du?“

„Ihr werdet ganz sicher Kinder haben“, sagte Nïx mit grimmiger Stimme. „Und dieses erste Zwillingspärchen, also …“ Sie erschauerte.

„Das erste …?“, fragte Conrad entgeistert. Dann bekam er einen Hustenanfall. „Was hast du gesehen?“

„Was habe ich nicht gesehen … Ich werde euch mal ein Beispiel nennen. Jedes Mal, wenn ihr versucht, sie zu baden, verstecken sie sich entweder in den Wänden oder versenken ihre Babyfangzähne in der Tür, sodass ihr sie nicht mehr herausbekommt. Und dann die Streiche … Davon will ich gar nicht erst anfangen. Tante Nïx wird in diesen zwei Jahrzehnten leider als Babysitter ausfallen.“

„Das klingt … wunderbar?“, sagte Néomi.

Nïx’ Ton wurde milder. „Zum Glück werden sie als Erwachsene stark sein, mit klugen Köpfen und stolzen Herzen.“ Sie musterte die beiden. „Fürs Erste erwarte ich euch beide an vorderster Front bei dieser Akzession.“ Sie wandte sich ab.

„Warte!“, sagte Conrad. „Hat einer meiner Feinde dieses Feuer gelegt?“

Nïx drehte sich mit einem Grinsen im Gesicht um. „Ich würde sagen Nein, es sei denn, ihr habt ein paar Biber so wütend gemacht, dass sie sich in eure Stromleitungen verbissen haben.“ Damit verschwand sie in die Nacht.

Néomi und Conrad saßen zusammen auf dem Boden, sprachlos vor Erstaunen, und starrten auf ihr Heim, das in der Nacht hell loderte.

Als Néomi zu weinen begann, beugte sich Conrad zu ihr, um ihr die Tränen abzuwischen. „Koeri, es tut mir schrecklich leid wegen des Hauses.“

Sicher, sie weinte, aber nicht aus dem Grund, den Conrad sich vorstellte. Mit mir ist alles in Ordnung. Kein Wunder, dass sie sich weder als Mensch noch als Geist gefühlt hatte – sie war beides. Sie war vor Erleichterung vollkommen überwältigt.

Ich bin jetzt unsterblich.

Sie musterte Conrads Gesicht, sah mit Befriedigung, dass er schon wieder Farbe bekam. Seine Verletzung würde bald heilen, und alles würde wieder normal sein.

Wir werden zusammen sein. Und grauenhafte Babys haben.

Als die erste Außenwand des Hauses einstürzte, begann sie zu lachen. Ein Feuer vernichtete ihr Haus, und alles, woran sie denken konnte, war: Soll es doch brennen.

„Néomi?“ Conrad warf ihr einen besorgten Blick zu. „Warum lachst du?“

Sie fühlte sich befreit und war bereit für den Rest ihres neuen Lebens. „Weil ich glücklich bin.“

„Das wird wieder mal einer dieser Momente, wo mich deine Fröhlichkeit einfach nur verwirrt, oder? Du hast mir doch gesagt, dass dies dein Traumhaus ist.“

Träume können sich ändern. Sie kniete sich vor ihn hin.

„Das Einzige, was eine Rolle spielt, ist, dass wir zusammen sind. Und jetzt, wo ich unsterblich bin, wird das für alle Ewigkeit sein, wenn wir unsere Karten richtig ausspielen.“

Er zog die Brauen zusammen, als ob ihm die Wahrheit dieser Aussage erst jetzt aufginge. „Aber du hast diesen Ort geliebt.“

„Das habe ich. Er hat mir alles bedeutet. Früher, als ich nichts anderes hatte.“

„Das löst jedenfalls das Problem, wie ich das Studio vergrößern soll“, sagte er trocken.

Exactement.“ Sie lächelte und umschloss sein Gesicht mit ihren Händen. „Wir werden uns Zeit für den Wiederaufbau nehmen. Es wird uns Spaß machen. Offenbar haben wir alle Zeit der Welt.“ Sie beugte sich vor, um den Vampir zu küssen, den sie liebte.

Sie spürte, wie sich seine Lippen zu einem Grinsen verzogen. „Zumindest bis das erste Zwillingspärchen kommt“, murmelte er.