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Néomi hatte wieder davon geträumt, zu schweben und durch Wände zu gehen. Aber dann wollte sie unbedingt aufwachen, weil die Luft, die sie atmete nach … Ruß schmeckte?
Sie schien nicht genug Luft zu bekommen, musste bei jedem raucherfüllten Atemzug husten. Und in ihrem verwirrten Kopf glaubte sie, mitten in einem Feuer zu stecken, glaubte, die Flammen zu riechen und ihre Hitze zu spüren.
Ein Feuer! Warum kann ich nicht aufwachen?
Sie fühlte sich so benommen … sie brauchte frische Luft …
Endlich war sie imstande, die Lider aufzuschlagen. Sie blinzelte ungläubig.
Das Zimmer war von dichtem Rauch erfüllt. Flammen leckten über die Wände und krochen über die sich biegende Decke. Die Bretter über ihr wimmerten unter der Strapaze.
„Néomi!“
Conrad! Er war hier? Ihre Blicke trafen sich durch die Flammen hindurch, die sich zwischen ihnen befanden – kurz bevor ein Balken nachgab und brach und direkt vor ihm ein Großteil der Decke einstürzte.
Mit einem gellenden Schrei versuchte er, sie mit einem Sprung zu erreichen, um sie fortzutranslozieren, doch er kehrte mit leeren Händen an denselben Ort zurück, als ob sich seine Arme lediglich um Luft geschlossen hätten. Als er noch ein weiteres Mal versagte, tauchte er in das Feuer und riss die lodernden Balken auseinander, um sie zu erreichen.
Warum guckte er denn so entsetzt? Ihr war doch gar nichts passiert, sie hatte nicht mal einen Kratzer abbekommen. Genau genommen fühlte sie überhaupt nichts. Keinerlei Empfindungen. Alles war matt.
Dann blickte sie nach unten. Nein, nein, nein … Ihr Körper war von der Taille abwärts unter den brennenden Trümmern der Zimmerdecke begraben. Sie müssten sie erdrücken. Warum bin ich noch bei Bewusstsein? Wo blieb der Schmerz?
Dann wurde es ihr klar …
Ich bin gestorben … schon wieder?
Néomi befand sich wieder in ihrer körperlosen Gestalt, trug ihr altes schwarzes Kleid, den Schmuck …
Ein ohrenbetäubendes Donnern über ihr zog ihren Blick auf sich. Nachdem die Decke fort war, konnte sie sehen, dass das Dach an diversen Stellen nachgab. Die riesigen Dachbalken begannen zu brechen, einer nach dem anderen. Spitze Holzstücke begannen wie Speere niederzuprasseln und bohrten sich in den Boden.
Er versuchte ihnen auszuweichen, während er unermüdlich nach ihr umhertastete.
„Conrad! Nein!“
Dann erwischte ihn einer, bohrte sich in seinen Körper und warf ihn zu Boden. Einen Sekundenbruchteil später brach das Dach über ihm zusammen und verschüttete ihn. Mit einem gellenden Schrei erhob sie sich aus den Trümmern und schwebte durch das Feuer, um zu ihm zu gelangen.
Sie konnte ihn nicht finden, konnte nichts sehen! Dann … entdeckte sie Blut, das aus einem Haufen Schutt hervorquoll und sich in einer Pfütze sammelte. In der Flüssigkeit spiegelten sich die Flammen, lodernd und krachend.
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An diesem Abend befand sich Cade an einem vertrauten Ort – er saß am Rand des Daches einer Wohnung in der Innenstadt. Das Haus, in dem seine Frau wohnte, befand sich in unmittelbarer Nähe, und von seinem etwas höher gelegenen Standpunkt aus konnte er ihr Loft und den privaten Swimmingpool auf dem Dach bequem beobachten.
Cade hatte nicht vorgehabt, an diesem Abend hierherzukommen. Er musste es einfach tun.
Er blickte zu ihrem Balkon hinüber. Und dort war sie.
Holly Ashwin.
Seine Holly. Sie war ein Mathegenie, trug eine Brille, kein Make-up, und ihr Haar fast immer in einem altmodischen Knoten; und er fand sie so sexy wie keine andere Frau, die er je gekannt hatte.
Aber wie meistens, konnte er sich angesichts ihrer seltsamen Machenschaften nur am Kopf kratzen. Sie putzte ein bereits makellos sauberes Apartment. Rätselhafter Mensch.
Sie würde tot umfallen, wenn sie je seine Wohnung sehen würde. Nur ein weiteres Beispiel dafür, wie verschieden Cade und sie waren.
Holly war Wissenschaftlerin – er ein Krieger. Jeder noch so kleine Aspekt ihres Lebens war durchorganisiert. Seine Vorstellung von einem Tagesplan lautete: aufwachen, ein paar Mahlzeiten zu sich nehmen, Sachen erledigen, schlafen. Und wenn einer dieser Punkte ausfiel, war es auch egal.
Sie trank nicht mal. Er nahm einen Schluck.
Ob sie heute Abend wohl Besuch bekommen würde? Von dem Wichser, der sich ihr Freund nannte? Als sich seine Klauen in seine Handflächen bohrten, hörte Cade, wie sich Schritte näherten.
Verdammter Rydstrom. Sein Bruder hatte ihn aufgespürt. So viel dazu, dass meine Besuche hier streng geheim sind.
„Was zum Teufel machst du hier oben?“, fragte Cade missmutig.
„Ich könnte dich genau dasselbe fragen“, sagte Rydstrom und warf ihm einen Blick unendlicher Enttäuschung zu.
Na, diesen Blick hab ich ja noch nie gesehen.
„Du hast mir gesagt, du würdest nicht mehr herkommen.“
„Hab’s mir anders überlegt“, knurrte Cade.
„Es gibt einen Grund, warum es uns verboten ist, menschliche Gefährtinnen zu haben. Wenn du das bisher noch nicht in deinen dicken Schädel bekommen hast, wird es jetzt aber langsam Zeit. Dieser Unfall mit der Braut des Vampirs ist das beste Beispiel, warum Sterbliche und Unsterbliche sich nie vermischen sollten.“
Cade kniff die Augen zu. „Bist du denn sicher, dass Néomi überhaupt tot ist?“
Rydstrom nickte. „Ich habe mich bei Nïx erkundigt.“
Warum nur waren Sterbliche so leicht zu töten? Der winzigste Schwerthieb, und schon war’s vorbei mit der Kleinen. Sie hatte es nicht verdient, so zu sterben.
„Wenn sie tot ist, dann ist der Vampir unterwegs auf der Suche nach etwas von mir, das er zerstören kann.“ Cade blickte sich um. Abertausendfach, hatte Wroth geschworen. Wenn Cade sich jetzt Holly näherte, unterschrieb er damit ihr Todesurteil.
„Noch ein Grund mehr, ihr zu widerstehen“, sagte Rydstrom. „Du musst sie vergessen.“
„Meinst du denn, das hab ich nicht versucht?“ Cade fuhr sich mit der Hand über eines seiner Hörner. „Meinst du, ich weiß nicht, wie übel es für mich aussieht? Ich bin hinter einem Mädchen her, einem Menschen noch dazu, das Jahrtausende jünger ist als ich.“
„Dann ist es ja nur gut, dass wir diese Stadt jetzt endgültig verlassen. Nïx hat uns eine letzte Möglichkeit verschafft, Omort zu vernichten, also wartet Arbeit auf uns. Das ist unsere letzte Hoffnung, meine Krone zurückzugewinnen. Darauf schwört sie Stein und Bein.“
„Wie ist der Plan?“, erkundigte sich Cade, obwohl es ihm scheißegal war. Er würde alles tun, um sich davon abzulenken, was er angerichtet hatte. Und von dem, was er am liebsten mit Holly machen würde. Sogar Nïx hatte seine durchgeknallten Pläne für sie nicht vorausgesehen.
„Wir werden innerhalb der nächsten Woche Instruktionen erhalten. Halt dich einfach bereit.“
Cade atmete aus. „Ich bin immer bereit.“
„Noch einmal, Bruder, das ist unsere letzte Chance. Ich muss sicher sein, dass du ganz bei der Sache sein wirst.“
„Ich hab doch gesagt, ich werd bereit sein“, fuhr Cade seinen Bruder an. „Was auch immer es ist, ich erledige das schon.“ Cade stand auf und blickte zu Holly hinüber.
Zum letzten Mal.
Mit einem letzten Blick auf seine Frau ließ Cade sich vom Dach fallen.
Sobald er in der Nacht verschwunden war, trat Nïx aus dem Treppenhaus und gesellte sich zu Rydstrom.
„Und, wie hat er reagiert?“
Rydstrom sah sie an, nicht im Mindesten überrascht, dass sie sie gefunden hatte. „Das weißt du nicht?“
„Ich bin zwar allwissend, aber alles …“
„Ja, ja, alles weißt du trotzdem nicht.“ Rydstrom seufzte. „Cade hat geschworen, seine Pflicht zu erfüllen.“
Als Holly erneut in ihr Blickfeld trat, hefteten sich Nïx’ goldene Augen an die junge Frau, und ihre Pupillen weiteten sich.
„Und wenn er herausfindet, dass Néomi noch am Leben ist?“, fragte sie mit zur Seite gelegtem Kopf.
„Es gefällt mir gar nicht, ihn anzulügen“, sagte Rydstrom. „Bist du sicher, dass ich es ihm nicht erzählen darf?“
Nïx sah ihm in die Augen. „Ich bin die Entscheidungsbäume wieder und wieder durchgegangen. Milliarden von Resultaten lassen sich alle zu dieser einen Gabelung zurückführen: ob du es ihm erzählst oder nicht. Es muss so sein.“
„Dann hast du meine Zukunft gesehen?“
„Teile davon“, sagte sie. „Und sie wird wunderbar.“
„Erzähl mir mehr“, sagte er und bedeutete ihr fortzufahren.
„Rydstrom, du musst endlich lernen Bitte zu sagen. Auf jeden Fall muss ich jetzt woandershin. Mir wird noch heute Abend ein Mysterium enthüllt. Ich kann’s kaum erwarten.“
„Du kannst mich doch nicht einfach so stehen lassen! Wie können wir Kontakt mit dir aufnehmen?“
Sie grinste ihn an, doch ihre Augen wurden ausdruckslos, in Gedanken war sie bereits anderswo. „Gieriger Dämon, Nïx ist für alle da.“