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Mit dem Patienten geht irgendeine Veränderung vor.

Im Verlauf der vergangenen Woche war Néomi ein unheimliches Bewusstsein in diesen roten Augen aufgefallen, das vorher nicht dagewesen war. Die Leere in seinem Blick nahm mit jedem Tag weiter ab.

Und sie sollte das wissen. Seit seiner bizarren Rückkehr hatte sie so gut wie nichts anderes getan, als ihn zu studieren. Sie zog sich nur selten in ihr eigenes Zimmer zurück – ihr geheimes Tanzstudio, das im Erdgeschoss verborgen lag. Selbst jetzt, wo Conrad wieder im Bett lag und schlief, schwebte sie über dem Ende seiner Matratze und setzte ihre Wache fort.

Als er an jenem ersten Morgen zurückgekehrt war, war er in Raserei verfallen, er hatte seinen Kopf gegen die Wand geschlagen, als ob er verstummen lassen wollte, was auch immer sich in seinem Kopf befand. Der Putz war auf ihn herabgerieselt wie Schnee und an seinen blutigen Wangen kleben geblieben. Nachdem die Brüder ihn wieder angekettet hatten – diesmal hatten sie ihn ans Bett gefesselt –, war Conrad unerreichbar gewesen. Mit Medikamenten vollgepumpt hatte er mit seiner tiefen, rauen Stimme Wörter in einer ihr unbekannten Sprache vor sich hingemurmelt.

Fairerweise musste sie zugeben, dass sie genauso verwirrt gewesen wäre wie er. In dieser Sekunde sah sie ihn noch davonlaufen, und in der nächsten hatte sie sein gotteslästerliches Gebrüll aus seinem Schlafzimmer im oberen Stockwerk gehört.

Néomi war nicht länger die Einzige, die hier eingesperrt war. Offensichtlich hatten tatsächlich Hexen einen Begrenzungszauber auf Elancourt gelegt. Solange Conrad diese Ketten trug, konnte er die Grundstücksgrenze nicht überqueren. Die Ketten machten es ihm außerdem unmöglich, sich zu teleportieren – beziehungsweise zu translozieren, wie sie es nannten.

Néomi konnte nicht genau sagen, wann sie das erste Mal eine Veränderung an ihm bemerkt hatte. Wann auch immer seine Brüder mit ihm gesprochen hatten, hatte Conrad lediglich unzusammenhängendes Zeug gefaselt, und doch beschlich sie nach und nach das Gefühl, dass er eigentlich … durchaus bei Verstand war. Zumindest zeitweise.

Manchmal schien es so, als ob er sich bemühte, eine Million Gedanken zu filtern, um einen einzigen aussprechen zu können, und das war der Grund, warum er Schwierigkeiten hatte, sich normal auszudrücken. Gelegentlich veränderte sich sogar sein Akzent …

Dann begann er sich zu drehen und zu winden und warf den Kopf hin und her – zweifellos in einem grauenhaften Albtraum gefangen. Conrad litt ständig unter Albträumen. Dann schärften sich seine Fangzähne immer wieder, er krümmte sich, sämtliche Muskeln zum Zerreißen angespannt, bis die Ketten sich tief in sein Fleisch gruben. Sie runzelte die Stirn. Diesen Anblick mochte sie überhaupt nicht.

Auch wenn alles an ihm sie abstoßen sollte, stellte sie fest, dass sie bemüht war, gelassen zu bleiben. Er hatte ihr Haus teilweise zerstört. Er war ein Mörder. Und er war dreckig. Sein Gesicht war immer noch mit Schmutz, Blut und Resten von Putz verklebt, sein Haar war verfilzt und verknotet. Seine Haut war mit Brandwunden übersät und seine zerfetzte Kleidung schwarz vom Feuer. Als Sebastian versucht hatte, ihm das verkohlte Gesicht abzuwischen, hatte Conrad mit einer derartigen Geschwindigkeit nach ihm geschnappt, dass Sebastian fast seine Finger verloren hätte.

Néomi sollte Conrad hassen. Warum nur fühlte sie sich von diesem riesigen Kerl mit seinen erschreckenden Träumen derartig angezogen?

Weil er – wie sie – wusste, was es heißt, ermordet zu werden? Vielleicht durchlebte er es gerade in diesem Moment aufs Neue?

War Conrad bloß eine verlorene Seele, die man bedauern sollte? Oder ein Mann, der es wert war, gerettet zu werden? Néomi hatte sich niemals besonders für Männer interessiert, die einer Rettung bedurften. Für die gab es da draußen mehr als genug Frauen …

In diesem Moment erwachte er mit einem Zucken. Seine Augen flitzten hin und her, ohne etwas wahrzunehmen. Dann warf er sich auf die Seite, zog die Beine an den Leib, öffnete den Mund und senkte die Zähne in seinen eigenen Arm. Mit zusammengezogenen Brauen begann er langsam zu saugen, als ob er Trost suchte.

Und ihr Herz schmolz dahin. „Merde“, flüsterte sie.

Als er gegen seinen Arm gedrückt ein kurzes, zorniges Knurren ausstieß, ließ sie sich behutsam neben ihm auf dem Bett nieder. „Ruhig, Vampir“, seufzte sie und strich ihm mit einem telekinetischen Streicheln das Haar aus der Stirn. „Ganz ruhig.“ Er beruhigte sich, löste langsam die Zähne aus seinem Arm, legte sich bequem hin und schlummerte weiter, als ob ihre Worte ihn besänftigt hätten …

Jede Nacht schwebte Néomi bis zum Sonnenaufgang unter der Decke und lauschte, während die Brüder sich bemühten, zu ihm durchzudringen. Dabei genoss sie es nicht nur, dem Rhythmus der Gespräche zuzuhören, sie erfuhr gleichzeitig eine ganze Menge über diese Männer.

Sie stammten aus Estland, einem baltischen Land an der Grenze zu Russland, was ihren Akzent erklärte. Männer aus den Nordlanden. Sie waren in Vampire verwandelt worden – vor dreihundert Jahren. Davor hatten sie – als Angehörige des baltischen Adels im Rang von Offizieren – im Großen Nordischen Krieg gegen Russland gefochten, bis sie schlussendlich die Kontrolle über Estlands zunehmend in Bedrängnis geratene Armee übernommen hatten. Jeder der Brüder wurde zu einem Kriegsherrn, der die Verteidigung eines Teils ihrer Heimat anführte, unter dem Oberkommando von Nikolai, dem Ältesten.

Zuerst hatte sie sich in Conrads Zimmer aufgehalten, weil sie hoffte, dass er sie sehen könnte. Jetzt blieb sie, weil sie von dem wahnsinnigen Vampir fasziniert war.

Seine Geschichte glich einem unvollständigen Puzzle, und mit jedem Teil, das sie erhielt, wurde das Ganze noch fesselnder. Er stammte aus einer adligen Familie, hatte aber seine militärische Erfahrung und seine Vampirkräfte am Ende dazu benutzt, Auftragsmörder zu werden. Er hatte geplant, seine eigenen Brüder umzubringen, als Vergeltung für eine Tat, über die sie allerdings noch nichts wusste.

Er lebte seit Jahrhunderten allein und ohne Freunde.

Seine Vergangenheit unterschied sich vollkommen von der ihren – sie hatte getanzt und gelacht und sich amüsiert –, zwischen ihnen lagen Welten.

Und doch warf jede neue Enthüllung weitere Fragen auf. Offensichtlich war er ein mächtiger Mann, was also hatte seinen Geist derartig gebrochen? Und wie konnte er tagein, tagaus im Bett liegen bleiben? Hatten Vampire keine körperlichen Bedürfnisse?

Jede Nacht brachten sie Conrad eine Thermoskanne aus dem neuen Kühlschrank, und Néomi war ziemlich sicher, dass sie wusste, was diese enthielt. Aber woher genau bekamen sie es? Und nachdem Conrad sich weigerte, den Inhalt zu trinken, wie lange würde er durchhalten, ehe er verhungerte?

Sie hatte seinen Schlaf inzwischen mehr Stunden beobachtet, als sie zählen konnte. Warum war er nicht ein einziges Mal hart geworden, wie es bei anderen Männern unbewusst geschah?

Als die Abenddämmerung hereinbrach und die Brüder wieder ins Erdgeschoss des Herrenhauses zurückkehrten, schlug Conrad unvermittelt die Augen auf. Sie durchquerte das Zimmer und schwebte durch die Tür, sodass ihre eine Hälfte im Zimmer blieb und die andere hinausragte. Trotzdem konnte sie nur mit Mühe hören, was unten gesprochen wurde. Aber sie konnte Conrads Reaktion sehen, und ihr wurde klar, dass er seine Brüder reden hören konnte, obwohl die schwere Tür geschlossen war.

„Nachdem ich ihn jetzt in diesem Zustand erlebt habe“, sagte Sebastian, „beginne ich zu verstehen, warum keiner der Gefallenen je die Blutgier überwinden konnte.“

„Es besaß auch noch niemand die Möglichkeiten, über die wir verfügen“, erwiderte Nikolai. „Wir waren uns einig, dass wir einen Monat lang versuchen, ihn zu rehabilitieren. Sollte er keinerlei Anzeichen für eine Besserung zeigen, dann tun wir, was wir tun müssen.“

Conrad lauscht ihren Worten. Hoch konzentriert. Sie fragte sich, was wohl in seinem Kopf vor sich ging.

„Das war, bevor ich ihn zu Gesicht bekommen habe, Nikolai. Vielleicht müssen wir … ihn von seinen Qualen erlösen.“

Erleidet er Qualen?

Conrad presste die Kiefer aufeinander, und ein mörderischer Ausdruck trat auf sein Gesicht. Doch gleich darauf zog er die Augenbrauen zusammen, als ob er genau diese Möglichkeit in ebendiesem Moment in Erwägung zöge. Als er die Stirn runzelte und die Augen schloss, versetzte es ihr einen Stich ins Herz.

Der Vampir ist todunglücklich. Und er ist noch so weit bei Verstand, dass es ihm bewusst ist.

Qualen? Scheiße, was verstehen die denn schon davon? Er schüttelt den Kopf, als ob er diesen Gedanken loswerden wollte.

Er kann sie mühelos dort unten hören, als Murdoch erklärt, was er über die Gefallenen erfahren hat – Vampire, die töten, indem sie Blut trinken.

„Laute Geräusche versetzen sie in Wut, abgesehen von ihrem eigenen Gebrüll. Rasche Bewegungen ebenso. Sie reagieren darauf, als ob es sich dabei um eine Bedrohung handelt, ganz gleich, wie harmlos sie sein mögen. Nichts ahnend überrascht zu werden würde einen von ihnen in einen Wutanfall versetzen. Der kleinste Hinweis auf ihre eigene körperliche Verletzlichkeit ruft Wut hervor.“

„Warum erzählst du nicht einfach, was sie nicht wütend macht?“, fragt Sebastian.

Da gibt es nicht allzu viel, dachte er, während Murdoch sagt: „Das wäre eine ziemlich kurze Erzählung.“

Er blendet sie aus und beginnt erneut, über dieses geheimnisvolle Wesen nachzugrübeln.

Das Wesen kann eines von drei Dingen sein. Er überlegt. Das Echo einer zersplitterten Erinnerung, eine Halluzination oder ein Geist. Mit den ersten beiden Möglichkeiten hat er seit annähernd dreihundert Jahren Erfahrung, mit der letzten hingegen gar keine. Die ersten beiden sind nichts als Ausgeburten seines verkorksten Verstandes. Den Geist allerdings würde er sich nicht einbilden.

Kann nicht unterscheiden, was real ist und was Illusion. Im Laufe der vergangenen Wochen ist das Wesen immer wieder in sein Zimmer zurückgekehrt. Er hat angefangen, sie wieder zu sehen, wenn auch nicht so deutlich wie in jener ersten Nacht. Jetzt ist es bloß ein schwacher leuchtender Umriss. Aber er kann ihre Gegenwart riechen. Auch in diesem Augenblick wird er von Rosenduft überflutet.

Jedes Mal, wenn sie sich zu ihm gesellt, erlebt er kurze Momente, in denen sein Verstand wieder klar arbeitet. Er begreift diese Verbindung nicht, er weiß nur, dass er beginnt, sich danach zu sehnen, sich konzentrieren zu können.

Ein Mysterium. Wie ist es möglich, dass ein Hirngespinst ihm dabei hilft, wieder klar zu denken? Noch während er ihre Existenz infrage stellt, erkennt er, dass irgendetwas ihm tatsächlich dazu verhilft, seine Gedanken zumindest so weit zu ordnen, dass er in der Lage ist, ihre Existenz zu hinterfragen. Vielleicht liegt es ja an den Spritzen, die sie ihm andauernd verabreichen.

Er kann sich nicht mehr an viel erinnern, was an dem Morgen geschah, als er versucht hatte zu fliehen. Aber er glaubt, dass sie versucht hatte, ihn zu entkleiden, und möglicherweise sogar, ihn zu küssen – bevor sie ihn quer durch das ganze Zimmer geschleudert hatte.

Doch das Wesen hat ihn danach nie wieder angegriffen. Für gewöhnlich hält sie sich in der Nähe der Fensterbank auf. Obwohl er sie auch schon bei mehr als einer nervenaufreibenden Gelegenheit am Fuße seines Bettes gespürt hat.

Viele Jahre lang hat er sich ständig von etwas Unsichtbarem verfolgt gefühlt, und jetzt könnte das sogar der Realität entsprechen.

Nein. Er sieht jeden Tag irgendwelche schattenhaften Gestalten. Was bringt ihn auf die Idee, sie könnte etwas anderes sein? Weil sie einen Duft an sich trägt? Weil er sich zum allerersten Mal wünscht, dass eine Halluzination wahr wäre?

Er weiß, dass es eine schmale Grenze zwischen der Wahrnehmung von Halluzinationen und der Interaktion mit ihnen gibt. Mit Ersterem kann man leben, Letzteres bedeutet, dass man im Arsch ist.

Während des letzten Jahrhunderts hat er sich mit aller Kraft an die letzten Überreste seines Verstandes geklammert. Sie als Realität zu akzeptieren könnte das Gewicht an seinen Füßen sein, das ihn endgültig in die Tiefe zerrt.

Auch wenn ihm das bewusst ist, grübelt er pausenlos über sie nach. Falls sie existiert, ist sie ein Geist. Entstehen Geister nicht dann, wenn jemand gewaltsam zu Tode kommt oder ermordet wird? Wie ist sie also gestorben? Und wann? Ist sie überhaupt ein fühlendes Wesen? Er hat ihre Augen und ihr langes Haar gesehen. Wie sieht wohl der Rest von ihr aus?

Und warum sind meine gottverdammten Gedanken so klar, wenn sie in der Nähe ist?

Es klingt so, als ob seine Brüder jetzt zu ihm ins Zimmer kommen würden. Er will das nicht. Jeden Tag wird die Erscheinung etwas deutlicher, wenn die Sonne untergeht und die Dämmerung sich über das Zimmer senkt. Aber sobald seine Brüder kommen, verschwindet sie. Ihm ist klar geworden, dass die unbedeckte neue Glühbirne über ihm zu hell ist. Das unnatürliche Licht verbirgt sie, in der Dunkelheit würde sie sich ihm offenbaren.

Es war nicht im Licht der Blitze gewesen, dass er sie in jener ersten Nacht gesehen hatte. Es war in den tiefschwarzen Momenten dazwischen.

Die Dämmerung kommt. Was bedeutet, dass er sich mit jeder Minute dem Augenblick nähert, in dem er entdeckt, wie sie aussieht – falls sich seine Brüder fernhalten. Er verzehrt sich nach ihrem Anblick, seine hinter dem Rücken gefesselten Hände ballen sich unaufhörlich zu Fäusten und öffnen sich dann wieder.